Mittwoch, 6. Januar 2016

„Wie ein Lamm, wenn es zum Schlachten geführt wird“ – Francisco de Zurbarán malt das „Agnus Dei“


Francisco de Zurbarán: Agnus Dei (um 1635/40); Madrid, Museo del Prado (für die Großansicht einfach anklicken)
Ein Lamm liegt allein mit gefesselten Vorder- und Hinterhufen auf einem dunkel getönten Stein, ohne jedes Beiwerk und vor schwarzem Bildgrund – ein ungewöhnliches Motiv, und offensichtlich eine ganz eigene Erfindung des spanischen Barockmalers Francisco de Zurbarán (1598–1664). Sieben eigenhändige und signierte Varianten solcher Lamm-Darstellungen sind uns heute bekannt. Das gebunden und ergeben vor uns liegende Tier ist nicht nur ein Symbol für Unschuld und duldsamen Gehorsam, sondern auch und vor allem für das Opfer und die Opferung Jesu Christi. Was wir sehen, ist das Agnus Dei, das Lamm Gottes – so nennt Johannes der Täufer Jesus, als er ihm am Jordan begegnet: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ (Johannes 1,29; LUT).
Johannes der Täufer greift damit auf ein Bild zurück, das im Alten Testament bereits der Prophet Jesaja benutzt, um den leidenden Messias zu beschreiben: „Er wurde misshandelt, aber er trug es, ohne zu klagen. Wie ein Lamm, wenn es zum Schlachten geführt wird, wie ein Schaf, wenn es geschoren wird, duldete er alles schweigend, ohne zu klagen“ (Jesaja 53,7; LUT). Und schon Jesaja betont nachdrücklich, dass der Messias keinen sinnlosen Tod stirbt, sondern freiwillig „sein Leben als Opfer für die Schuld der anderen“ hingibt (Jesaja 53,10; LUT). Das eigentliche Thema des Gemäldes ist also die durch den Kreuzestod Christi erwirkte Sühne für die Sündenlast der Menschheit und die damit verbundene Erlösung. Deswegen ist Zurbaráns Präsentation des Lammes vorrangig als Andachtsbild zu verstehen.
Zugleich verweist das Tier auch auf die Offenbarung des Johannes. Der nämlich sieht in einer seiner Visionen, wie Jesus im Himmel als das Opferlamm Gottes verherrlicht wird – und mit dem Öffnen der „sieben Siegel“ (Offenbarung 6,1; LUT) die Vollendung des göttlichen Heilsplans einleitet: „Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Gestalten und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande. Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß. Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Gestalten und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen, und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen“ (Offenbarung 5,6-9; LUT).
Das kleine (38 x 62 cm), seit 1986 im Madrider Prado ausgestellte Lamm-Gemälde ist unter allen bekannten Fassungen die gelungenste. Es handelt sich um ein gehörntes Merinoschaf von etwa acht bis zwölf Monaten, dessen gelocktes Fell Zurbarán täuschend echt wiedergegeben hat. Seine starken, rauen Hörner sind blassgelb gehalten, die Wolle ist von cremiger Elfenbeinfarbe, die Schnauze rosa. Das Tier ist nicht tot, sondern liegt lebendig wie ein zur Opferung bestimmtes Lamm vor uns. Auch die plane Unterlage, auf der es ruht und die wie ein Altar anmutet, verstärkt diesen Eindruck. 
Francisco de Zurbarán: Agnus Dei (1639); Madrid, Museo de la Real Academia de Bellas Artes de San Fernando
In einigen Versionen des Motivs ist die religiöse Bedeutung des Bildes völlig unzweifelhaft, da Zurbarán dort das Lamm mit einem zarten Heiligenschein versehen hat oder zusätzlich auf der Unterlage noch eine explizite lateinische Inschrift angebracht ist: „TAMQUAM AGNUS IN OCCISIONE“ („wie das Lamm vor dem Scherer“) bezieht sich auf die bereits angeführte Jesaja-Weissagung wie auch auf einen Vers aus der Apostelgeschichte des Lukas, wo diese Jesaja-Stelle zitiert wird (Apostelgeschichte 8,32).
Francisco de Zurbarán: Anbetung der Hirten (1638); Grenoble, Musée de Grenoble
Ein ähnliches Lamm mit zusammengebundenen Vorder- und Hinterbeinen hat Zurbarán auch in einer Anbetung der Hirten von 1638 (Musée de Grenoble) dargestellt; das dort im Vordergrund platzierte Tier verweist auf die Bestimmung des neugeborenen Kindes als Opferlamm und Erlöser.

Literaturhinweise
Belting, Hans: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. Verlag C.H. Beck, München 2005, S. 123;
Laepple, Ulrich (Hrsg.): Biblisches Wörterbuch. SCM R.Brockhaus, Witten 2010, S. 339-340;
Wismer, Beat u.a. (Hrsg.): Zurbarán. Hirmer Verlag, München 2015, S. 187-191;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 17. Juni 2022)

2 Kommentare:

  1. Vielen Dank für diesen Artikel! Sie machen hier wirklich eine großartige Arbeit!

    AntwortenLöschen
  2. Ich freue mich, dass Sie meinen Blog gelungen finden! Die Zurbarán-Ausstellung in Düsseldorf hat mich einfach sehr begeistert ... (sie läuft noch bis zum 31. Januar 2016).

    AntwortenLöschen