Donnerstag, 9. Juni 2016

Serielle Stille – der französische Barockmaler Georges de La Tour


Georges de La Tour: Drehorgelspieler mit einer Fliege (um 1620/25); Nantes, Musée des Beaux-Arts
Georges de La Tour war zu seinen Lebzeiten, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als Künstler überaus erfolgreich. Er durfte sich „Maler in Diensten des Königs“ Ludwig XIII. nennen; seine Gemälde hingen in vielen europäischen Privatsammlungen. Als er 1652 sehr vermögend starb, war er ein Malerfürst – dann wurde er vergessen, für über 250 Jahre. Seine Wiederentdeckung begann 1915, als Hermann Voss drei Gemälde von ihm identifizierte. Der Künstler La Tour war zwar lange Zeit völlig aus dem Blick geraten – seine Gemälde jedoch keineswegs. Sie wurden nur unter anderen Namen geführt und mal der niederländischen, mal der italienischen, vor allem aber der spanischen Malerei zugeschrieben. Der Drehorgelspieler mit einer Fliege aus dem Musée des Beaux-Arts in Nantes begann seine Museumskarriere als Murillo, wechselte zu Velázquez, Ribera, Herrera el Viejo, Juan Bautista Maíno und Juan Rizzi, bevor man ihn definitiv La Tour zuerkannte.
1593 als Sohn eines wohlhabenden Bäckers in dem zum Bistum Metz gehörenden Ort Vic-sur-Seille geboren, ließ sich La Tour mit 27 Jahren in Lunéville nieder, wo er, anders als in der Residenzstadt Nancy, keine örtliche Konkurrenz zu fürchten hatte. 1638, als Lunéville in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges niedergebrannt und ausgeplündert wurde, entschloss er sich, zumindest zeitweise in Paris zu leben, während seine Familie in Nancy untergebracht war. La Tour bekam ein Zimmer im Louvre und wurde zu einem der favorisierten Maler des Hofes. Aber schon 1643 hatte er seinen Wohnsitz wieder in Lunéville – wo er bis zu seinem Tod blieb.
Zu La Tours Ausbildung ist kein einziges Dokument vorhanden. So streitet man sich noch immer, ob er wie die meisten seiner Zeitgenossen in Italien war und dort mit Caravaggios Nachfolgern, etwa Orazio Gentileschi, in Kontakt kam – oder ob er den Caravaggismus, dem sein Werk ohne Zweifel verpflichtet ist, über die Niederländer Gerrit van Honthorst und Hendrik ter Brugghen kennenlernte und möglicherweise selbst in den Niederlanden war.
Das uns heute bekannte Œuvre La Tours umfasst 80 Gemälde, einschließlich derer, die nur durch Kopien oder Dokumente überliefert sind. Die meisten Motive, die sie zeigen, kommen zwei-, drei-, viermal oder noch öfter vor – La Tour war der erste seriell arbeitende Maler der Neuzeit. Den blinden Drehorgelspieler malte er im Stehen, frontal mit halbgeöffnetem Mund und seitlich geneigtem Kahlkopf, einen angeleinten Hund zu seinen Füßen; dann zeigt er ihn noch einmal im Profil, sitzend, mit gekreuzten Beinen, am vorderen Bildrand die abgewetzte Lederhülle seines Instruments; und schließlich ein drittes Mal, jetzt in Dreiviertelansicht, laut singend, das Gesicht zu einer Grimasse des Elends verzogen.
Georges de La Tour: Büßende Magdalena (um 1640); Paris, Louvre
Georges de La Tour: Büßende Magdalena (um 1640);
New York, Metropolitan Museum of Art
Ganz ähnlich verhält es sich mit der büßenden Magdalena, von der mindestens fünf Varianten und etliche Kopien erhalten sind: Sie zeigen, mit einer Ausnahme, immer die gleiche Frau, vielleicht eine von seinen älteren Töchtern, in verschiedenen Stadien der Askese – mit entblößter oder bedeckter Brust, im Seiden- oder Leinenrock, mit oder ohne Spiegel, mit offen brennender oder verdeckter Kerze, mit wechselnden Requisiten und Schattenspielen. Keiner von La Tours Figuren nimmt Blickkontakt mit dem Betrachter auf. „Die einen sind blind, die anderen schielen sich angestrengt durch ihre Betrügereien, die Dritten sind in Meditation versunken“ (Kesser 2016). Die Außenwelt bleibt bei La Tour ausgespart, die Szenen spielen stets in verschatteten, geschlossenen Räumen.
Georges de La Tour: Hieronymus liest einen Brief (1629); Madrid, Prado
La Tours Nähe zur zeitgenössischen spanischen Malerei ist unverkennbar, zumindest in der ersten Werkphase. Es sind nicht nur die ähnlichen Gestalten, die an Ribera, Velázquez oder Zurbarán erinnern, sondern auch die Art ihrer Präsentation und ihre zurückhaltende Farbigkeit: Meist sind sie in unbestimmten dunklen, nahezu monochromen Räumen isoliert.
Georges de La Tour: Das Neugeborene (um 1648); Rennes, Musée des Beaux-Arts
Georges de La Tour: Anbetung der Hirten (um 1645); Paris, Louvre
Zuletzt hat La Tour nur noch Nachstücke mit flackernden Fackeln und Kerzen gemalt, die Figuren und Gegenstände geradezu magisch beleuchten und die Umgebung im Dunkeln versinken lassen – rätselhafte Helldunkelbilder ohne jedes anekdotische Beiwerk. Sie strahlen eine Stille und Intimität aus, deren Intensität in der Kunst des Barock einzigartig ist.

Literaturhinweise
Kesser, Christiane: Tag- und Nachtstücke. In: „Neue Zürcher Zeitung“ vom 14. April 2016 (http://www.nzz.ch/feuilleton/kunst_architektur/georges-de-la-tour-im-prado-madrid-tag-und-nachtstuecke-ld.13571#kommentare; zuletzt aufgerufen am 3. Dezember 2018);
Thuillier, Jacques: Georges de La Tour. Editions Flammarion, Paris und München 2003.

(zuletzt bearbeitet am 13. Juli 2020)

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