Donnerstag, 8. September 2022

Das Auge isst mit – Caravaggios „Früchtekorb“ in Mailand


Caravaggio: Früchtekorb (um 1595); Mailand, Pinacoteca Ambrosiana (für die Großansicht einfach anklicken)
Viele Kunsthistoriker*innen sehen in Caravaggios berühmtem Früchtekorb aus der Mailänder Pinacoteca Ambrosiana das erste selbstständige italienische Stillleben (um 1595). Auf jeden Fall gilt es als eines der frühesten überhaupt; darüber hinaus ist es das einzige erhaltene autonome Stillleben von Caravaggio und das kleinste Bild, das er je gemalt hat.
Dargestellt ist auf einem Querformat (47 x 61 cm) ein von Früchten und Blättern überquellender Weidenkorb, der nur wenige Zentimeter über dem unteren Bildrand auf einer nicht näher bezeichneten, bräunlichen Tischplatte oder einem Regalbrett steht. Der Korb reicht minimal in den Raum des Betrachters hinein, sodass sich auf dem braunen Brett ein kleiner Schatten bildet. Caravaggio zeigt den Korb in exakt orthogonaler Vorderansicht, wie man es in einer technischen Aufrisszeichnung machen würde“ (Raspe 2013/14, S. 328).
Der hell leuchtende Hintergrund, vor dem Caravaggio seinen Früchtekorb platziert, ist völlig unbestimmt: Handelt es sich um eine gekalkte Wand? Die räumliche Beziehung von Vorder- und Hintergrund bleibt unklar – ein Tiefenraum wird nicht angedeutet, in den der Früchtekorb entsprechend der Darstellungslogik hineingestellt sein müsste. Durch die optische Absperrung nach hinten ist es eigentlich nicht möglich, den Früchtekorb im Bildraum zu lokalisieren, weswegen er als Trompe-l’œil „im Realraum des Betrachters erscheint“ (Kroschewski 2002, S. 129). Raum wird in Caravaggios Stillleben fast ausschließlich im Volumen der Früchte sichtbar.
Der Maler lässt in seiner Komposition nahezu die gesamte obere Bildhälfte frei. Die Früchte, in verblüffender Präzision wiedergegeben, sind in Lagen aufgebaut: Eine Quitte, tief dunkle Trauben und die beiden Feigen rechts bilden zusammen die untere Ebene, da sie annähernd die gleiche Höhe erreichen. Die obere Lage besteht aus den beiden braunen, geplatzten Feigen, der Birne und den roten Trauben rechts. Als Bekrönung dient eine reife Aprikose.
Dieser Aufbau wird auf der linken Seite durchbrochen und auf der rechten Seite überdeckt: Die über den linken Korbrand quellenden weißen Trauben liegen für das untere Register zu tief; der Apfel darüber vermittelt zwischen der ersten und der zweiten Ebene, was ebenso für die dunkelgelben Weintrauben im Verhältnis zur bekrönenden Aprikose gilt. Auf der rechten Seite verdeckt ein großes Weinblatt teilweise die Birne und die roten Trauben. Über den Korbrand hinaus kragt rechts noch ein welkes, zusammengerolltes Feigenblatt; es folgen noch zwei zerzauste Weinblätter, deren Zweig von rechts außen her ins Bild hineinragt. „Sie sind als Silhouetten angelegt und tragen zu dem asymmetrischen Erscheinungsbild des ganzen Stilllebens bei, indem sie mit ihrer Dunkelheit einen starken Akzent zum rechten Bildrand hin setzen“ (Raabe 1996, S. 48). Auf dem Weinblatt rechts der Aprikose, aber auch zwischen den Äderungen zahlreicher anderer Blätter und auf den Oberflächen weiterer Früchte befinden sich Tautropfen. Sie sind leicht zu übersehen, da sie den Glanzlichtern auf den Früchten ähnlich sind.
Caravaggios Obstbouquet ist ein reines Kunstgebilde, das sich in der Realitat nicht nachstellen lässt, denn die dargebotenen Früchte werden zu ganz unterschiedlichen Jahreszeiten reif: Aprikosen und Feigen im Hochsommer, Weintrauben im Spätherbst, Äpfel dazwischen. Alles Obst ist so detailliert wiedergegeben, dass es sich in erkennbar unterschiedlichen Reifegraden befindet und verschiedene Stadien der Fäulnis und des Verdorrens repräsentiert. Einige Weintrauben nehmen bereits eine dunklere Farbe an; wir sehen welke Blätter, erkennen, wie sie vom Rand her vertrocknen; wir entdecken die beginnenden Fäulnisflecken auf dem Apfel. 
Vor dem Bild verharrend, entsteht der Eindruck, als würden immer mehr braune und dunkle Stellen hinzukommen, ganz so, als wäre der Fäulnisprozess in vollem Gange. Es ist Teil unserer Betrachter-Aufgabe, diesen Prozess weiterzudenken und zu antizipieren (Müller 2020, S. 14). Trotz vermeintlicher Ereignislosigkeit zeigt Caravaggios Bild also vergehende Zeit. Sein Bild „inszeniert Verzeitlichung und beschleunigt Zeit, als sollten die Früchte und Blätter vor unseren Augen verfaulen und vertrocknen wie in einem Zeitraffer (Müller 2020, S. 14). Und der Betrachter soll erkennen, dass nicht nur die verwelkenden Blätter und das vergehende Obst dem Gesetz der nie stillstehenden Zeit unterliegen – sondern auch wir. Und das bedeutet: Wir haben ein Vanitas-Stillleben vor uns.
Caravaggio: Knabe mit Früchtekorb (um 1594); Rom, Galleria Borghese
Caravaggio greift bei seinem Mailänder Stillleben auf das Ensemble zurück, das er bereits für seinen Knaben mit Früchtekorb (um 1594) ersonnen hatte. Aber er monumentalisiert den Korb nun durch die leichte Untersicht; zudem platziert er ihn sehr subtil nach dem Gesetz des Goldenen Schnitts auf der Bildfläche, wie Nevenka Kroschewski gezeigt hat: Der Korb scheint an der vertikalen Mittelachse des Bildes ausgerichtet zu sein, und dennoch ist sein Fuß etwas nach links verrückt. Kroschewski sieht dieses versteckte Kompositionsprinzip in Zusammenhang „mit der christlich-abendländischen Vorstellung von der mathematisch-geometrischen Konstituiertheit der Natur“ (Kroschewski 2002, S. 135). Die verborgene Ordnung des Bildes repräsentiere die innere Struktur der irdisch-materiellen Welt.
Sybille Ebert-Schifferer wiederum verweist auf eine berühmte antike Künstleranekdote, nämlich die des Wettstreits zwischen den beiden Malern Zeuxis und Parrhasios. Zeuxis habe dabei, so berichtet Plinius, so überzeugend Trauben gemalt, dass Vögel herbeiflogen, um daran zu picken. In der stolzen Gewissheit, den Vergleich gewonnen zu haben, verlangte Zeuxis, man möge doch den Vorhang vom Bild seines Kontrahenten entfernen, damit er dessen Werk sehen könne. Beschämt musste er aber feststellen – dass der Vorhang gemalt war.
Plinius überliefert diese Geschichte, um zu verdeutlichen, welchen Grad an Naturnachahmung (Mimesis) die Malerei erreichen kann. Gelingt ihr das vollkommen, wird die Natur selbst – die Vögel – von ihr getäuscht. Parrhasios bringt es sogar zu einer Meisterschaft, die einen Künstler zu täuschen vermag, nämlich seinen Rivalen Zeuxis. Die allseits bekannte Zeuxis-Anekdote des Plinius war vor und noch lange nach Caravaggio der Maßstab für die Fähigkeit eines Malers, die Natur so täuschend nachzuahmen, dass die Wahrnehmung betrogen wird, und sie bildet auch den Ausgangspunkt dafür, „dass derartige Trompe-l’œil-Qualitäten durchweg auf dem Gebiet der Stilllebenmalerei gesucht wurden“ (Ebert-Schifferer 2002, S. 19).
Wenn man Caravaggios Früchtekorb nur genau genug beobachtet, bemerkt man auf dem Bild einen „kleinen Raub“: Einzelne Weinbeeren sind offenbar gepflückt. Beim Pflücken sind Teile der Früchte an den Stengeln hängengeblieben. Da sie noch feucht glänzen, muss der kleine Raub, wie es scheint, gerade eben erst geschehen sein. Dieses Detail bestätigt, dass Caravaggio mit seinem Stillleben auf die Trauben des Zeuxis anspielt. Sybille Ebert-Schifferer sieht in Caravaggios Früchtekorb deswegen einen sehr bewussten Rückgriff auf die Antike: Der Maler, der seit Mitte 1592 in Rom lebte, habe auf diese Weise versucht, sich Käuferkreise zu erschließen, die solche gelehrten Anspielungen erkannte und zu schätzen wussten.
Martin Raspe vermutet, dass es sich bei Caravaggios Früchtekorb um ein Gastgeschenk handelt, vermutlich für den Kardinal del Monte, der den jungen Maler in seinen Palast aufgenommen hatte. Angesichts der detailreichen, virtuosen Wiedergabe der unterschiedlichsten Obstsorten wäre das Gemälde dann eine erste Probe seines überragenden Könnens, um seinem Gönner zu vermitteln, dass er anspruchsvollen Aufträgen gewachsen ist. „Der Obstkorb als Sinnbild appelliert an den gustus des Kardinals, den guten Geschmack, der ihn befähigt, zwischen guter und schlechter Kunst zu unterscheiden. Vielleicht soll das Bild den Kardinal auf geistreiche Weise daran erinnern, dass auch auf die guten Maler das Wort Jesu zutrifft: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ (Raspe 2013/14, S. 336).
Caravaggio: Emmausmahl (1601); London, National Gallery
Caravaggio schuf 1601 ein Emmausmahl (siehe meinen Post
,Brannte nicht unser Herz?), auf dem erneut ein ganz ähnliches Früchtestilleben abgebildet ist. Der Korb, in dem auf diesem Gemälde das Obst dargeboten wird, stimmt in Form und Flechtart so genau mit dem Mailänder Gegenstück überein, dass man annehmen kann, der Künstler habe beide nach dem gleichen realen Vorbild gemalt. Und auch hier passen die Früchte nicht zur Jahreszeit des Ostertages. Allerdings ist der Korb in Schrägsicht dargestellt, er steht auf dem gedeckten Tisch, über dessen Vorderkante er hinausragt, und sein Verhältnis zum Bildraum ist eindeutig.
 
Literaturhinweise
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggios Früchtekorb – das früheste Stilleben? In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 65 (2002), S. 1-23;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 99-102;
Hibbard, Howard: Caravaggio.Thames and Hudson, London 1983, S. 80-85;
Kroschewski, Nevenka: Über das allmähliche Verfertigen der Bilder. Neue Aspekte zu Caravaggio. Scaneg Verlag, München 2002, S. 128-139:
Müller, Jürgen: Die Botschaft des Tautropfens. In: F.A.Z., 03.03.2020, S. 14;
Prater, Andreas: Licht und Farbe bei Caravaggio. Studien zur Ästhetik und Ikonologie des Helldunkels. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1992, S. 93-101
Preimesberger, Rudolf: Noch einmal zu Caravaggios Früchtekorb. In: Sebastian Egenhofer u.a. (Hrsg.), Was ist ein Bild? Antwort in Bildern. Gottfried Boehm zum 70. Geburtstag. Wilhelm Fink Verlag, München 2012, S. 233-235;

Raabe, Rainald: Der Imaginierte Betrachter. Studien zu Caravaggios römischem Werk. Georg Olms Verlag, Hildesheim 1996, S. 46-55;
Raspe, Martin: Caravaggios Obstkorb zwischen Groteske und Galeriebild. In: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 41 (2013/14), S. 323-340;

Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011, S. 35.

(zuletzt bearbeitet am 20. Januar 2024)

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