Dienstag, 9. Juli 2019

Palmzweige für den Sieger – Adam Elsheimers „Steinigung des Stephanus“

Adam Elsheimer: Steinigung des Stephanus (Datierung unsicher); Edinburgh,
National Gallery of Scotland (für die Großansicht einfach anklicken)
Der in Frankfurt am Main geborene Maler Adam Elsheimer (1578–1610) ließ sich im Jahr 1600 in Rom nieder, wo er im Alter von nur 32 Jahren starb. Seine meist kleinformatigen Bilder, überwiegend auf Kupfer und in miniaturhaft feiner Ausführung unter Zuhilfenahme einer Lupe gemalt, machten ihn berühmt und wurden besonders von seinen Künstlerkollegen hoch geschätzt, u.a. von Peter Paul Rubens. Zeitlebens hat sich Elsheimer mit der Darstellung des Lichts auseinandergesetzt und dabei sowohl stimmungsvolle Landschaften im Mondlicht geschaffen wie auch geheimnisvolle nächtliche Innenräume, die nur von spärlichem Kerzenschein erleuchtet werden. Der deutsche Maler war aber auch ein spannender Erzähler: Auf seinen Bildern werden dramatische Ereignisse wie die Sintflut, brutale Mord- und Marterszenen und ebenso erstaunliche christliche Wunder geschildert. Elsheimers früher Tod und seine langsame Malweise sind der Grund dafür, dass er ein überschaubares Werk hinterlassen hat: Gegenwärtig sind nur 40 Gemälde von seiner Hand bekannt. Einige von ihnen will ich in loser Folge vorstellen; beginnen wir mit der Steinigung des Stephanus.
Stephanus ist eine Gestalt aus dem Neuen Testament; er gehörte zu den ersten sieben Diakonen der Jerusalemer Urgemeinde, die von Petrus und den Aposteln eingesetzt wurden (Apostelgeschichte 6,1-7), und zu den frühesten Märtyrern der Christenheit. Durch eine herausfordernde Predigt erregte er den Zorn der jüdischen Hohepriester und Ältesten, was einen Aufruhr hervorrief und seine Steinigung vor der Stadt zur Folge hatte (Apostelgeschichte 6,8-15). Adam Elsheimers nur 34,7 x 28,6 cm großes Gemälde aus der National Gallery of Scotland in Edinburgh zeigt den jungen Stephanus, von Steinen getroffen, mit blutendem Kopf auf die Knie sinkend. Das Blut fließt von seiner linken Schläfe in einem geraden Strahl auf das Pflaster hinab. Stephanus trägt eine Dalmatika mit einer gestickten Darstellung der Kreuztragung Jesu – in seiner ergebenen Opferbereitschaft steht der Diakon in der unmittelbaren Nachfolge Christi, und wie der Sohn Gottes am Kreuz (Lukas 23,34) bittet er für seine Peiniger: „Er fiel auf die Knie und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Und als er das gesagt hatte, verschied er“ (Apostelgeschichte 7,60; LUT). 
Stephanus blickt auf zu einem prächtig gekleideten Reiter mit Turban und ist umringt von mehreren Menschen, die ihn mit weiteren Steinen bewerfen wollen. Von links oben fällt über die gesamte Diagonale des Bildes ein immer breiter werdender Lichtstrahl nach unten, der Stephanus erfasst und hell erleuchtet. Als Quelle des Lichts, in dem Engel mit Palmzweigen Stephanus entgegeneilen, sind Gottvater und Christus erkennbar. Palmzweige sind die Attribute der Märtyrer, die ihren im Martyrium errungenen Sieg über die weltlichen Mächte symbolisieren.
Adam Elsheimer: Der hl. Laurentius vor seinem Martyrium (Datierung unsicher);
London, The National Gallery
Die Hinrichtung des Stephanus ereignet sich an einem schönen Sonnentag in malerischer Landschaft vor antiken Ruinen. Schaulustige sind zu Fuß und zu Pferd herbeigekommen, um die Steinigung mitzuverfolgen. Im Hintergrund klettern junge Männer auf einen Baum – Logenplätze für das offenbar nicht ungewohnte Spektakel.
Elsheimers Gemälde steht in enger Beziehung zu einem vorher geschaffenen Bild  von ihm: Der hl. Laurentius vor seinem Martyrium. Auf beiden Gemälden wird das dramatische Geschehen nach rechts von einer großen, aufrecht stehenden Figur abgeschlossen.
Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1602); Rom, San Luigi dei Francesi
Caravaggio: Martyrium des Matthäus (1599/1600); Rom, San Luigi dei Francesi
Marsyas (röm. Kopie nach griech. Original); Paris, Louvre
Auf seiner Steinigung des Stephanus hat Elsheimer Anregungen durch römische Kunstwerke verarbeitet: So dürfte der schwarzweiß-gefiederte und in wallenden Tüchern herabschwebende Engel von Caravaggios Altarbild in San Luigi dei Francesi inspiriert sein, auf dem ein heranfliegender Engel dem Evangelisten Matthäus eingibt, was er niederschreiben soll. Der halbnackte, einen Stein erhebende Junge hinter Stephanus wiederum gleicht – spiegelverkehrt – der Figur eines Messdieners aus Caravaggios Martyrium des Matthäus (am gleichen Ort). Für den einen sicherlich tödlichen Stein zum Wurf nach oben reckenden Mann am rechten Bildrand könnte Elsheimer eine antike Marsyas-Skulptur als Vorbild gewählt haben. Franziska Bachner erkennt in dieser Anlehnung auch einen inhaltlichen Bezug zur Steinigung des Stephanus: „Indem mit dem Marsyas-Zitat die unbarmherzige Vergeltung der antiken Gottheit anklingt, unterstreicht Elsheimer im Gegenzug die Vorbildlichkeit des heiligen Stephanus in seiner Milde“ (Bachner 1995, S. 107).
Adam Elsheimer: Steinigung des Stephanus (Datierung unsicher); Köln,
Wallraf-Richartz-Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Eine Variation des Edinburgher Bildes findet sich im Kölner Wallraf-Richartz-Museum – wobei umstritten ist, ob es sich um eine Zweitfassung Elsheimers oder um eine Kopie von fremder Hand handelt. Auf dem qualitätvollen Kölner Gemälde fehlen der große Engel sowie der hoch aufragende junge Steinwerfer am rechten Bildrand. Es spricht eher gegen eine Kopie, dass diese beiden wichtigen Figuren weggelassen wurden. Möglicherweise handelt es sich bei dem Kölner Bild um eine eigenhändige Version Elsheimers, die von einem anderen Künstler vollendet worden ist.

Literaturhinweise
Andrews, Keith: Adam Elsheimer. Werkverzeichnis der Gemälde, Zeichnungen und Radierungen. Schirmer/Mosel, München 1985;
Bachner, Franziska: Figur und Erzählung in der Kunst Adam Elsheimers. Diss., Würzburg 1995, S. 105-110;
Klessmann, Rüdiger: Im Detail die Welt entdecken. Adam Elsheimer 1578–1610. Edition Minerva. Wolfratshausen 2006, S. 98-101;
Mai, Ekkehard: Zu einer »Steinigung des hl. Stephanus« aus Privatbesitz im Wallraf-Richartz-Museum Köln. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch XLV (1984), S. 305-310;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen