Mittwoch, 21. Oktober 2020

Porträt-Kunst der italienischen Frührenaissance (5): Domenico Ghirlandaios „Bildnis eines alten Mannes mit Kind“

Domenico Ghirlandaio: Bildnis eines alten Mannes mit Kind (um 1490);
Paris, Louvre (für die Großansicht einfach anklicken)

Im Louvre befindet sich eine für die Porträt-Kunst der Renaissance ungewöhnliche Tafel: das Doppelbildnis zweier Personen aus entgegengesetzen Lebensaltern, gemalt von Domenico Ghirlandaio (1449–1494), entstanden um 1490. Es zeigt die vertrauensvolle Zwiesprache zwischen Greis und Kind; die Wärme und Vertrautheit der beiden Figuren lässt die Annahme zu, dass sie Großvater und Enkel sind. Der alte Mann umarmt das Kind, das seinerseits seine kleine, zarte Hand an die Brust des Großvaters legt. Der Greis beugt sich aufmerksam zu seinem Enkel vor, der den Kopf zurücklegt, um den liebevollen Blick zu erwidern. Der alte Mann trägt einen mit Pelz gefütterten Mantel und hat eine rote Mütze über die Schulter geworfen. Das Kind, im strengen Profil wiedergegeben, blickt zu dem Großvater auf, und dieser Blick stellt die den Bildaufbau bestimmende Diagonale her. Der Augenpunkt des Betrachters liegt mit dem des Alten ungefähr auf einer Höhe, sodass sein Blick durch das Fenster ins Freie schweifen kann. Im Zentrum des Bildes ist das mächtige Greisenhaupt platziert, das durch eine kleine Wendung nach rechts im Dreiviertelporträt und in geringer Aufsicht präsentiert wird. „Die in leichter Schrägstellung präsentierte Architektur von Wand und Fenster hinterfängt den Kopf und lässt ihn vor dieser neutralen Folie plastisch hervortreten“ (Diers 2016, S. 29).

Die beiden Figuren sind in dem gezeigten Moment ganz bei sich, selbstvergessen nehmen sie den Betrachter nicht wahr, der sich bei dieser intimen Szene beinahe als Störung empfinden muss. So sehr hier einserseits die seelische Harmonie zwischen Jung und Alt betont wird, so deutlich werden andererseits die äußerlichen Gegensätze zwischen den beiden hervorgehoben: die Körpergröße, das Alter und die Gesichtszüge. Das graue Haar, die runzlige Haut und die Warze kontrastieren mit der glatten rosigen Haut und den blonden Löckchen des Knaben. Vor allem aber sticht die von einer Wucherung verzerrte Nase des alten Mannes besonders hervor – sie bildet regelrecht den Mittelpunkt des Bildes. Die „Rhinophyna“ (Acne rosacea) genannte Krankheit hat ihre Ursache in einer Gefäßgeschwulst und geht nicht, wie früher oft angenommen wurde, auf Alkoholmissbrauch zurück. Ein solch „unschönes“ Gesicht und darüber hinaus die entstellte Nase im Zentrum bedeutete für die damalige Zeit sicherlich eine Verletzung der geläufigen Porträtkonventionen. Denn die pysiognomische Theorie der Zeit schloss durchaus noch in der äußerlichen Erscheinung der Person auf deren Inneres, deren Eigenschaften – eine solch deformierte Nase hätte also durchaus auch auf einen „deformierten Charakter“ verweisen können.

Und dennoch haben sich offensichtlich beide Seiten, sowohl Auftraggeber wie Künstler, bewusst für diesen Verismus entschieden. Abgemildert wird der Anblick des Alten durch die Aufsicht, in der Ghirlandaio seinen Kopf wiedergibt. Es ist aber vor allem die offenkundige Zuneigung, die ihm der Knabe entgegenbringt, sowohl im Blick als auch in der Gestik, die hier gewissermaßen als neutralisierendes Element dient. „Weniger die äußere als vielmehr die innere Schönheit, die Schönheit der Seele, darzustellen, scheint einer der Leitgedanken der Komposition zu sein, besser noch, beide Ansprüche in einem Bild zu vereinen“ (Diers 2016, S. 30). Die Hinzufügung des Kindes macht es möglich, den alten Mann als liebevollen, gütigen, weisen und nachdenklichen Menschen zu zeigen. „Allenfalls Madonnendarstellungen ließen sich zum Vergleich heranziehen, wollte man der Intensität der persönlichen Beziehung nachspüren, die vor allem durch den wechselseitigen Blickaustausch gestiftet wird“ (Diers 2016, S. 27). Das christliche Modell wird quasi aus dem Bereich privater Andacht in jenen des privaten Angedenkens übertragen, „der religiöse Andachtsraum zum weltlichen Andenkenraum umdefiniert“ (Diers 2016, S. 44).

Dass die Szene in Florenz spielt (der Wirkungsstätte des Malers), und zwar in vornehmer Patrizier-Gesellschaft, deuten die prachtvollen, rot leuchtenden Gewänder der Figuren an. Der pelzverbrämte Kapuzenmantel des Alten hüllt mit seinen weichen Falten dessen Oberkörper vollständig ein und umschließt zugleich jenen des Kindes, das durch seinen ärmellosen Wams in Rot über schwarzem Untergewand sowie einer roten Kappe seinem Gegenüber nicht nur körperlich, sondern auch farblich eng verbunden ist. Der Bildfläche nach ist das schlichte Fenster der Sphäre des Kindes zugeordnet, der Augenposition nach ausschließlich jener des Alten. Nur er hat die Möglichkeit, nach draußen zu blicken. In diesem Moment hat er sich aber intensiv dem Kind in seinen Armen zugewendet – das Landschaftspanorama bietet sich also in erster Linie dem Betrachter dar.

Die Szenerie lehnt sich erkennbar an den von Hans Memling in Italien eingeführten niederländischen Porträttypus an (siehe meinen Post „Die Porträtkunst des Hans Memling“). Zu sehen ist vorne ein Weg, dessen Verlauf weiter hinten von einem Fluss fortgesetzt wird, der sich an begrünten Wiesen, Hügeln und Bergen vorbeischlängelt und im Hintergrund in einem See verliert. Im Mittelgrund erkennt man am Fuß des Berges eine kleine Kirche oder Kapelle. Menschen sind nicht auszumachen – „eine Ideal- oder Phantasielandschaft, die sich nicht damit aufhält, die Toskana anders als in formelhafter Kürze mittels Versatzstücken ins Bild zu setzen“ (Diers 2016, S. 31). Dabei scheinen die beiden Bergformationen das ungleiche Paarverhältnis der Hauptszene zu wiederholen, indem sich dem Alten der kahle, dem Jungen aber der üppig bewachsene und bewohnte Berg zuordnen lässt.

Domenico Ghirlandaio: Kopf eines alten Mannes (um 1490, Zeichnung); Stockholm, Nationalmuseum
(für die Großansicht einfach anklicken)
Ghirlandaios Zeichnung eines – wahrscheinlich bereits verstorbenen – alten Mannes mit einer ähnlich missgebildeten Nase und charakteristisch großen Ohren gilt als Vorbereitung für das Pariser Doppelbildnis. Sein Gemälde dürfte daher als Memorialporträt vor allem dem Gedenken an die Persönlichkeit des alten Mannes gedient haben. Die Einbeziehung des jungen – vermutlich lebenden – Familienmitglieds und die liebevolle Beziehung zwischen ihnen weist darüber hinaus auch auf die dynastische Bewusstsein des Dargestellten hin, der in der Begegnung mit dem Knaben möglicherweise über den Fortbestand seines Geschlechts sinniert.

Literaturhinweise

Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei. Hirmer Verlag, München 2002, S. 100;

Campbell, Lorne u.a. (Hrsg.): Die Porträtkunst der Renaissance. Van Dyck, Dürer, Tizian ... Chr. Belser AG, Stuttgart 2009, S. 244-247;

Christiansen, Keith/Weppelmann, Stefan (Hrsg.): Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst. Hirmer Verlag, München 2011, S. 160-162;

Diers, Michael: Auf die Stirn geschrieben. Domenico Ghirlandaios Porträt eines Alten mit seinem Enkel. In: Michael Diers, Vor aller Augen. Studien zu Kunst, Bild und Politik. Wilhelm Fink, Paderborn 2016, S. 27-47.

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