Samstag, 27. Februar 2021

Gustave Courbet malt Jo, die schöne Irin (1866)

Gustave Courbet: Jo, die schöne Irin (1866); Stockholm, Nationalmuseum
(für die Großansicht einfach anklicken)
Die Irin Joanna Heffernam war in der ersten Hälfte der sechziger Jahre die Geliebte des amerikanischen Malers James McNeill Whistler (1834–1903) und hatte ihm 1862 und 1864 für zwei seiner berühmtesten Gemälde Modell gestanden: Symphony in White, No. 1: The White Girl und Symphony in White, No. 2: The Litle White Girl (beide in der Lononder Tate Gallery ausgestellt). Whistler und Joanna verbrachten 1865 die Monate Oktober und November in dem mondänen französischen Ferienort Trouville an der normannischen Kanalküste, wo der Maler Gustave Courbet (1819–1877) das Paar kennenlernte. Courbet bewohnte seit September eine Suite des Casinos von Trouville, blieb dort insgesamt drei Monate und schuf in dieser Zeit 35 Gemälde. 1866, als Whistler sich im chilenischen Valparaiso aufhielt und Joanna nach Paris zog, posierte sie für den rothaarigen Akt in Courbets erotischem Skandalbild Le Sommeil. In Auftrag gegeben hatte das Bild der türkische Diplomat Khalil Bey, für den Courbet ebenfalls 1866 das legendäre L’Origine du Monde anfertigte. Es wäre durchaus möglich, dass es auch die schöne Irin gewesen ist, die für dieses Luststück dem Maler ihren Schoß dargeboten hat.

James McNeill Whistler: Symphony in White, No. 1:
The White Girl (1862); Washington, D.C.,
National Gallery of Art

James McNeill Whistler: Symphony in White, No. 2:
The Little White Girl (1864); London, National Gallery

Gustave Courbet: Le Sommeil (1866); Paris, Petit Palais (für die Großansicht einfach anklicken)

Courbet zeigt Joanna im Dreiviertelporträt von links: Sie sitzt an einem Frisiertisch und streicht mit ihrer rechten Hand locker durch eine Strähne ihres geöffneten, weit über die Schultern fließenden kastanienroten Haares. Joanna wird ohne Schmuck gezeigt und trägt ein schlichtes schwarzes Kleid sowie eine weiße, oberhalb des Busens von einem eingesetzten Spitzenband durchbrochene Bluse. In ihrer auf dem Tisch aufgestützten Linken hält sie einen ovalen, schwarz gefassten Handspiegel. In ihm betrachtet sie aus blaugrünen Augen mit melancholisch abwesendem Blick, der durch eine über die linke Baue fallenden Locke leicht verschattet wird, ihr Gesicht. Oder ist es der prüfende, skeptische Blick einer Frau, die sich ihrer Schönheit bewusst, aber doch auch von Selbstzweifeln nicht frei ist?

Courbet rückt seinem selbstvergessenen Modell beinahe aufdringlich nah. Von drei Seiten des Rahmenes angeschnitten, füllt es die gesamte Malfläche bis auf ein wenig olivdunklen Grund. Joannas Haar ist überall im Bild: Flechten liegen nicht nur in ihrer rechten Hand, sondern schauen auch unter der linken hervor; die langen gelockten Wellen reichen links und rechts bis fast an den Bildrand. Die Haarfülle wirkt wild, fast ungebändigt; das Gesicht scheint in ihr nur eingebettet.

William Holman Hunt: Awakening Conscience (1853); London, Tate

Dante Gabriel Rossetti (1866/68, überarbeitet 1872/73); Wilmington, Delaware Art Museum

Die feingliedrige Frau mit aufgelöstem schulterlangem Haar war im 19. Jahrhundert besonders bei den Präraffaeliten ein beliebtes, häufig auch ambivalentes Motiv. Während sie auf dem Gemälde Awakening Conscience (1853) von William Holman Hunt (1827–1910) als gefallene, aber reuige „femme fragile“ an Maria Magdalena erinnert, zeigt Dante Gabriel Rossetti (1828–1882) in Lady Lilith seine Gefährtin Fanny Cornforth als eine kalte „femme fatale“, deren schönes Haar die Macht besitzt, die Herzen der Männer in ein tödliches Netz zu verstricken.

Courbet scheint überaus zufrieden gewesen zu sein mit seinem Porträt von Joanna, denn er fertigte drei weitere nahezu identische Wiederholungen gleichen Formats an, die koloristisch und maltechnisch nur minimal vom Original abweichen. Von diesen vier Fassungen gilt die Stockholmer Version als das Urbild; sie ist ebenso wie die Ausführung im New Yorker Metropolitan Museum mit „66“ datiert. Die beiden anderen Bilder befinden sich in Kansas City und in einer Schweizer Privatsammlung.

 

Literaturhinweise

Albrecht, Juerg: Gustave Courbet, Portrait de Jo, la belle Irlandaise. In: Beat Wismer (Hrsg.), El Greco bis Mondrian. Bilder aus einer Schweizer Privatsammlung. Wienand Verlag, Köln 1996, S. 62-67.

Herding, Klaus/Hollein, Max (Hrsg.): Courbet. Ein Traum von der Moderne. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010, S. 266.


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