Samstag, 6. März 2021

Das Wunder steht noch bevor – Albrecht Dürers „Kreuztragung Christi“ von 1498/99

Albrecht Dürer: Kreuztragung Christi (1498/99); Holzschnitt
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Die Szene der Kreuztragung ist ohne Frage das dramatischste Blatt aus Albrecht Dürers zwölfteiliger Holzschnitt-Folge zur Passion Christi, 1511 in Buchform veröffentlicht und Große Passion genannt. Die hochformatige Darstellung ist um 1498/99 entstandenen und gehört zu den frühen Blättern des Zyklus, die Dürer auch als Einzeldrucke vertreiben ließ.

Der friedvoll wirkende Hintergrund des Blattes steht deutlich im Kontrast zur geballten Dynamik im Bildvordergrund, das die Kreuztragung des dornengekrönten Christus zeigt. Als Gefangener wird er zur Hinrichtungsstätte gestoßen und gezerrt. Nur das Johannes-Evangelium erwähnt, dass Christus sein Kreuz selbst trug (Johannes 19,17). Dürer zeigt den Moment, in dem Jesus geschwächt zu Boden stürzt: Mit seiner Linken stützt er sich auf einen aus dem Boden herausragenden Stein, seine rechte Hand liegt auf dem Querbalken. Der Gottessohn kniet auf dem Boden, die Menge der hinter ihm aus dem gitterbewehrten Tor einer mittelalterlichen Stadt hervorquellenden Peiniger, Schaulustigen und Trauernden gerät ins Stocken. Das schräg auf dem Nacken aufliegende Kreuz lastet zugleich in den Händen Simons von Kyrene, der von den Schergen gezwungen wird, das Folterinstrument mitzutragen. Fest umklammert Simon mit beiden Händen den Längsbalken, während Christus im Gegensatz zu seinem greisen Helfer nahezu entkräftet wirkt. Dem Zug voran springt der Hund, der bereits auf dem Blatt der Geißelung Christi zu sehen ist.

Albrecht Dürer: Geißelung Christi (1496/97); Holzschnitt
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Kompositorisch bilden die Balken des Kreuzes eine Barriere – sie halten die bewegt agierende Figurengruppe im Bildmittelgrund auf Distanz. Jesus hält einen Moment inne: Er wendet den Kopf zur Seite und wirft einen eindringlichen Blick auf die mitfühlende Veronika. Sie reicht ihm ein Schweißtuch, das der Legende nach das Abbild seines Antlitzes behält, nachdem es sein Gesicht berührt. Das Wunder steht also noch bevor. Veronika und Christus bilden eine eng verbundene Gruppe, sie sind die eigentlichen Protagonisten der Szene. Als Einzige sind sie direkt aufeinander bezogen, als Einzige kommunizieren sie durch ihre Blicke miteinander. Dürer schafft zwischen diesen beiden Figuren trotz der angespannten, aggressiven Bildsituation einen Moment innerer Ruhe, der den Betrachter zur compassio einlädt.

Links unter dem Tor erscheint ein Helfer, der eine Leiter trägt und dabei den Kopf zwischen die Sprossen gesteckt hat. Das Motiv verweist auf die Annagelung Christi und die Aufrichtung des Kreuzes. Die Leiter zählt deswegen zu den „Arma Christi“. Vom Hintergrund abgetrennt wird die Szene durch zwei Reiter mit orientalisch anmutenden Kopfbedeckungen. Der in Rückenansicht Gezeigte trägt einen langen Speer in seiner linken Hand – es dürfte sich um den römischen Hauptmann Longinus handeln, nach dem apokryphen Nikodemus-Evangelium und nach der Legenda aurea jener römische Centurio, der Jesus nach dessen Tod eine Lanze in die Seite gestochen haben soll und dann (so das Matthäus- wie auch das Markus-Evangelium) die Gottessohnschaft Jesu bezeugte. Auf dem zweiten Pferd sitzt wohl Pilatus, der mit dem Gestus der geöffneten erhobenen Hand nochmals seine Unschuld am Tod Jesu bekräftigt.

Der mit dem Rücken zum Betrachter gewandte Kriegsknecht am rechten Bildrand, angetan mit zeitgenössischen engen Beinkleidern und geschlitztem Wams, duldet scheinbar, dass sich Veronika zu dem Delinquenten herabbeugt. Seine aufrechte Haltung mit der hoch aufragenden Hellebarde bremst den Bewegungsdrang der hinter Christus sich regelrecht stauenden Menge. „Dieser kompositionelle Kunstgriff kehrt im übrigen auf all jenen Szenen der Großen Passion wieder, wo das Geschehen eine Darstellungsrichtung von links nach rechts erwarten lässt: Eine gegen diese Lesegewohnheit verlaufende Handlung erzwingt auf subtile Weise ein Innehalten“ (Schröder/Sternath 2003, S. 308). Während der Soldat über seine Schulter aus dem Bild heraus blickt, ist er für einen Augenblick abgelenkt. Zwar zerrt er den zum Tode Verurteilten in diesem Moment nicht weiter, aber im nächsten Augenblick wird er erneut an dem Strick in seiner linken Hand reißen, der festgezurrt um Jesu Hüfte liegt – an diesem Mann ist kein Zeichen des Mitgefühls zu erkennen. Das gilt ebenso für den brutalen Gesellen hinter Jesus, der dazu ansetzt, dem Gottessohn den Griff seiner prachtvoll verzierten Streitaxt in den Nacken zu stoßen.

Zwischen dem Getümmel erscheinen am linken Bildrand die von Schmerz erfüllte Maria neben Johannes, der sie mit seiner Schulter von der Menge abschirmt. Mit gesenkten Blicken und demutsvollen Gesten nehmen sie an dem peinigenden Geschehen Anteil, das sie nicht verhindern können. Die Begegnung Marias mit ihrem Sohn bei seiner Kreuztragung gehört seit dem 15. Jahrhundert zu den auf sieben festgesetztem leidvollen Ereignissen im Leben der Gottesmutter. Die blühende Distel wiederum, die Dürer vor dem Stein platziert, ist als Symbolpflanze gemeint: Ihre kunstvoll gewundenen stacheligen Blätter unterstreichen die Qualen, die der von der Folter Gezeichnete auf dem Weg zu seiner Hinrichtung durchleidet.

Albrecht Dürer: Der Tod des Orpheus (1494, Zeichnung); Hamburg, Kunsthalle
Erwin Panofsky hat darauf hingewiesen, dass die Haltung des zu Boden gesunkenen Christus Dürers eigener Zeichnung des sterbenden Orpheus von 1494 sehr ähnelt: „Unbewußt stellte Dürer die frühchristliche Gleichsetzung Christi mit Orpheus wieder her und hielt sich so an sein Prinzip, ,die Bilder heidnischer Götter zu Darstellungen der Jungfrau Maria und Christi zu verwenden‘“ (Panofsky 1977, S. 82).

Dürers Blatt erinnert an Martin Schongauers Szene aus dessen Kupferstich-Passion (siehe meinen Post „Kunstvoll gestochenes Leiden“), doch hat der Nürnberger Meister das Motiv der Kreuztragung mit dem Zusammenbrechen unter der Kreuzlast vereint. Während Schongauer das Antlitz Christi im Tuch der Veronika verdoppelt, rückt Dürer allein das Haupt Christi ins Zentrum des Bildes. Die Haltung Christi verwendete Dürer bereits in seinem Kreuztragungs-Gemälde aus dem Dresdener Tafelbild der Sieben Schmerzen Mariae. Auch der Scherge, der Jesus nach rechts zieht, ist hier in Rückenansicht dargestellt. Das Motiv des um den Leib Jesu geschlungenen Seils, an dem er von einem Soldaten weitergezerrt wird, dürfte wiederum auf die Karlsruher Passion zurückgehen (siehe meinen Post „Der unvollständige Leidensweg“). Auch in der Kreuztragung aus Dürers Kleiner Passion ist Christus auf die Knie gesunken, sein schmerzhafter Fall jedoch durch das Auflasten des Ärmels noch drastischer betont.

Martin Schongauer: Kreuztragung Christi (um 1475); Kupferstich
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Albrecht Dürer: Kreuztragung Christi (1496); Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister
Meister der Karlsruher Passion (um 1450); Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
Dürers Bildlösung ist im frühen 16. Jahrhundert von bedeutenden Künstlern aufgegriffen worden: Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553) nimmt in seiner 14-teiligen Holzschnitt-Passionsfolge deutlich Bezug auf Dürers Blatt, ebenso Lucas von Leyden (1494–1533) in seiner Kupferstich-Passion; Raffael (1483–1520) verarbeitet Dürers Vorlage in seinem Gemälde Christus fällt unter dem Kreuz aus dem Prado, und um 1523/24 entstand schließlich Kreuztragung Christi von Matthias Grünewald (1470–1528), die sich ganz auf den zusammengebrochenen, erbarmungswürdigen Jesus konzentriert, den die ihn umgebenden Schergen malträtieren.
Lucas Cranach d.Ä.: Kreuztragung Christi (1509); Holzschnitt
Lucas van Leyden: Kreuztragung Christi (1521); Kupferstich
Raffael: Christus fällt unter dem Kreuz (um 1516); Madrid, Prado
Matthias Grünewald: Kreuztragung Christi (1523/24);
Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle

 Glossar

– Als Arma Christi (lat. „Waffen Christi“) werden Waffen, Foltergeräte oder andere Gegenstände bezeichnet, die in Beziehung zum Leiden und Sterben Jesu Christi stehen. Da die Passionswerkzeuge als Waffen zur Überwindung von Sünde und Tod gesehen werden, gelten sie auch als Siegeszeichen.

– Unter compassio versteht man in der mittelalterlichen Frömmigkeit das Einfühlen des Gläubigen in die Passion Christi und das Mitleiden mit ihm.

 

Literaturhinweise

Allgaier, Elke: Albrecht Dürer, Die Kreuztragung. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 255;

Fröhlich, Anke: Die Kreuztragung Christi. In: Mende, Matthias u.a. (Hrsg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band II: Holzschnitte. Prestel Verlag, München 2002, S. 197-199;

Kuder, Ulrich/Luckow, Dirk (Hrsg.): Des Menschen Gemüt ist wandelbar. Druckgrafik der Dürerzeit. Kunsthalle zu Kiel, Kiel 2004, S. 215;

Panofsky, Erwin: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. Rogner & Bernhard, München 1977 (zuerst erschienen 1943), S. 81-82;

Schneider, Erich (Hrsg.): Dürer als Erzähler. Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen aus der Sammlung-Otto–Schäfer-II. Ludwig & Höhne, Schweinfurt 1995, S. 60;

Schröder, Klaus Albrecht/Sternath, Maria Luise (Hrsg.): Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der Albertina Wien. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2003, S. 304-311.


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