Montag, 10. Mai 2021

Christi Worte werden Bild – Rembrandts „Hundertguldenblatt“

Rembrandt: Hundertguldenblatt (um 1647/48 fertiggestellt); Radierung
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Rembrandts berühmtestes wie auch ambitioniertestes grafisches Werk ist ohne Frage sein Hundertguldenblatt. Die Radierung mit den Maßen 27,8 x 33,8 cm dürfte wohl 1640 begonnen worden sein und mehrere Jahre in Anspruch genommen haben, bis sie vollendet war. Der Titel „Hundertguldenblatt“ bezeichnet den hohen Verkaufswert des Blattes bereits zu Lebzeiten Rembrandts.

Was ist zu sehen auf der vielfigurigen Komposition? Mehr als 40 Personen finden sich auf der Radierung, immer neue Männer, Frauen und Kinder entdeckt man im Schatten – ganz so, als gewöhnten sich unsere Augen erst nach und nach an die Dunkelheit. Meist wird das Hundertguldenblatt mit dem 19. Kapitel des Matthäus-Evangeliums in Verbindung gebracht, wobei Rembrandt mehrere Episoden zu einer Szene zusammenfasst. Zentral im Bild befindet sich Christus. Er predigt einer Menschenmenge, die von beiden Seiten an ihn herantritt. Durch eine leichte Erhebung des Erdbodens ist der Sohn Gottes über die Menschen erhöht. Eine niedrige Mauer schirmt ihn von denen ab, die sich ihm von rechts durch einen Torbogen nähern. Ein tief verschattetes Gemäuer, in das eine dunkle hohe Nische eingelassen ist, hinterfängt die leuchtende Gestalt Jesu.

Christus, das Licht in der Dunkelheit
Von Christus, den Rembrandt aus der Mittelachse des Bildes nach links verschiebt, geht regelrecht eine optische Sogwirkung aus. Dass Jesus alle Blicke auf sich zieht, ist auch inhaltlich motiviert: Die Pharisäer versuchen ihm mit einer Fangfrage zur Ehescheidung eine Falle zu stellen (Matthäus 19,3-9), die Elenden und Bedürftigen hoffen auf ein Wunder. Auf den ersten Blick ist erkennbar, dass Rembrandt seine Radierung zweigeteilt hat: Auf zwei oppositionelle Parteien verteilt, stehen sich Hell und Dunkel gegenüber – auf der linken Seite die Verblendeten, auf der anderen die Schattenexistenzen, die sich in ununterbrochenem Zug aus der sie umgebenden Finsternis nach links ins Licht bewegen, auf Christus zu.

Die vornehm gekleideten Pharisäer sind in wenigen Umrissen skizziert. „Die körperliche Abgewandtheit der Pharisäer, die, da untereinander diskutierend, vom Hauptgeschehen abgelenkt und daher offensichtlich unaufmerksam sind, mag deren Glaubensskepsis, die sich in der Forderung eines Zeichens artikuliert, vor Augen stellen“ (Suthor 2014, S. 62). Eine Mauer, auf die einzelne Pharisäer ihre Arme stützen, verdeutlicht ihre Distanz gegenüber Christus. Diese Gruppe hat Rembrandt übrigens aus einem Kupferstich mit der Anbetung der Könige (1513) von Lucas van Leyden (1494–1533) übernommen. Zusammen mit der Rückenfigur des Mannes am linken Bildrand sind die Pharisäer „als Abwartende und als Gegner eben durch ihre Unbeweglichkeit charakterisiert“ (Raupp 1004, S. 419).

Lucas van Leyden: Anbetung der Könige (1513); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Zur Linken Christi tritt eine Mutter eine Stufe empor, um ihren Säugling zur Segnung darzubieten. Jesus streckt ihr seine rechte Hand entgegen. Der Weg der Mutter zu Christus erscheint dabei „nicht nur als Weg in die Tiefe, sondern vor allem als ein Aufstieg in die Höhe“ (Raupp 1994, S. 417). Mit seiner Begrüßungsgeste weist der Sohn Gottes gleichzeitig auch Petrus zurück, dessen Gestalt den Zwischenraum ausfüllt. Denn der versucht offensichtlich zu intervenieren: Mit seiner rechten Hand scheint Petrus die Mutter-Kind-Gruppe auf Abstand halten zu wollen. Rembrandt veranschaulicht hier den in der Bibel formulierten Wunsch Christi, die Kinder zu sich kommen zu lassen (Matthäus 19,13-14). Dass es ausgerechnet Petrus ist, der den Kindern den Weg zu Christus versperren will und von seinem Herrn deswegen getadelt wird, hat man als eine Stellungnahme Rembrandts für die protestantische und gegen die katholische Auffassung der Beziehung zwischen Gott und Mensch sehen wollen.

Lasst die Kinder zu mir kommen!
Im Vordergrund links will ein kleiner Junge an der Hand einer älteren Frau der Mutter mit dem Säugling nacheilen. Mit seinem ausgestreckten erhobenen Ärmchen scheint er auf Jesu einladende Geste zu reagieren, wenn er seine Mutter aus ihrer Wegrichtung wegzuziehen versucht und sie auf Christus weist. Es ist dieser kleine Junge, den Jesus ruft, um ihn mitten unter die Jünger zu stellen (Matthäus 18,1-7). Die Jünger waren an ihren Meister herangetreten, um ihn zu fragen, wer der Größte im Himmelreich sei. An diesem Kind wird Jesus seine Antwort veranschaulichen: „Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“ (Matthäus 18,3; LUT). Links von Jesus sitzt außerdem betrübt der „reiche Jüngling“, der sich nicht entschließen kann, Jesus nachzufolgen und all seine Habe zu verkaufen, um sie den Armen zu geben (Matthäus 19,21). Jürgen Müller hat erkannt, dass Rembrandt für diese Figur auf Michelangelos Jeremia aus der Sixtinischen Kapelle zurückgegriffen hat – ein berühmtes Motiv, das schon früh im Kupferstich reproduziert wurde.

Betrübt, weil unschlüssig: der reiche Jüngling

Michelangelo: Jeremia (um 1508/1512); Rom, Sixtina

Den Zuzug der Bedürftigen von rechts wird aufgehalten von einer auf einer Strohmatte liegenden, womöglich lahmen Frau mit nackten Füßen. Offensichtlich blind – Augen und Mund sind halb geschlossen –, greift sie hilfesuchend nach vorn und berührt dabei – planimetrisch – den Gewandsaum Christi. Wahrscheinlich ist ihr Vertrauen in den Heiland so groß, dass sie denkt: Berühre ich nur sein Kleid, so wird mir schon geholfen sein. Ihr Oberkörper scheint beinahe aufgerichtet – als wolle sie sich erheben ... Unter ihrer geflochtenen Matte lugen Efeublätter hervor: Es handelt sich um jene immergrüne Pflanze, die sich oft an frühchristlichen Sarkophagen findet, weil sie Unsterblichkeit und ewiges Leben symbolisiert. Als Sinnbild der Erlösung zu verstehen ist daher auch der Efeu, der sich an der rückwärtigen Wand und auf der hohen Mauer rechts erkennen lässt. 

Der Liegenden zur Seite kniet eine weitere Frau und betet zu Christus. Ihr Gesichtsausdruck bleibt uns verborgen, weil sie in Rückenansicht dargestellt ist. Zwischen den beiden erhebt sich eine ältere, ärmlich gekleidete Frau, die Christus am nächsten kommt. Sie schaut von unten zu ihm auf. Ihre flehend erhobenen betenden Hände werfen einen tiefen Schlagschatten auf das helle Gewand Christi. Und ein weiterer Schlagschatten zeichnet sich auf dem Gewand Christi ab, nämlich der seiner zur Predigt erhobenen Linken. Ein Daumen ist abgespalten, eine Hand öffnet sich nach unten und scheint sich der klar umrisssenen Hand der gläubigen Alten entgegenzustrecken.

Holm Bevers sieht in der Mauer, an der Christus steht, eine Anspielung auf die sinnbildliche Bezeichnung Christi als Eckstein (1. Petrus 2,4-6 und Matthäus 21,42). Für diese Interpretation spricht, dass die Kante des gemauerten Blocks mit der vertikalen Bildachse übereinstimmt und ihm damit besondere Bedeutung verliehen wird. Die Grube und der abgerissene Zweig im Vordergrund wiederum könnten auf Matthäus 15,13-14 (LUT) verweisen, wo Jesus über die Pharisäer sagt: „Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, die werden ausgerissen. Lasst sie, sie sind blinde Blindenführer! Wenn aber ein Blinder den andern führt, so fallen sie beide in die Grube.“ In dem Tor am rechten Bildrand steht ein Kamel; es lässt sich mit einem weiteren Wort Christi an seine Jünger verknüpfen: „Wahrlich, ich sage euch: Ein Reicher wird schwer ins Himmelreich kommen. Und weiter sage ich euch: Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme“ (Matthäus 19,23-24; LUT). Das Hundertguldenblatt, so hat es Matthias Winner formuliert, „bringt Christi Worte ins Bild“ (Winner 2006, S. 82) – das Evangelium soll nicht nur gelesen und gehört, es soll auch geschaut werden können.

In der alten Frau mit Pelzkappe unter dem Kamelkopf erkennt Winner eine „Bordellmutter“ (Winner 2006, S. 81), die den Zeigefinger ihrer linken Hand durch eine Schlaufe führt, was als zweideutig-obszöne Geste verstanden werden kann. Neben ihr steht eine schwarze Frau, auch sie mit einer Pelzkappe versehen sowie einem Ohrring geschmückt. Winner vermutet in ihr eine Prostituierte, weil sie genau über der obszönen Geste eine Geldkatze trägt. „Diese Frau ist eine Hure, eine Sünderin, und ihr Körpervolumen gibt rechts außen in der Gesamtkomposition das dunkle Gegengewicht zum beleuchteten Pharisäer am linken Rand“ (Winner 2006, S. 81/82). Am Tor sitzt unterhalb der Prostituierten ein Mann: Diese Rückenfigur ist nur auf den besten Abzügen des Hundertguldenblattes zu erkennen, sie versinkt regelrecht im Schatten der Druckerschwärze. „Es kann nur ein sündiger Zöllner am Tor sein, dem zusammen mit den Huren der Einzug ins Himmelreich leichter gefallen sein dürfte als Pharisäern und Schriftgelehrten“ (Winner 2006, S. 82).

Der Zug von Bettlern, Blinden, Krüppeln, Kranken und Sündern folgt der Einladung Jesu: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken“ (Matthäus 11,28; LUT). Dass alle, die aufgebrochen sind, um bei Christus Hilfe und Heilung zu suchen, Pilger sind, verdeutlicht die Jakobsmuschel, dem Abzeichen aller Pilger, die zu Füßen der drei alten Frauen auf dem Boden liegt. Nach Hans-Joachim Raupp veranschaulicht Rembrandt auf seiner Radierung kompositionell noch weiteres Wort Jesu aus dem Matthäus-Evangelium – dass nämlich die Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten sein werden (Matthäus 19,30 und 20,16). Es beruht auf den rhetorischen Figuren der Antithese und des Chiasmus. „Diesen Figuren entspricht eine antithetische und chiastische Ordnung des Bildes, d. h. Gegensätze kreuzen sich um die Gestalt Christi herum“ (Raupp 1994, S. 418). Das drückt sich bildlich aus in der nach rechts abfallenden Diagonale der hellen Figurenzone gegenüber der nach rechts ansteigenden Diagonale der Schattenzone.

Hans Holbein d.J.: Christus als das wahre Licht (um 1524); Holzschnitt
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Dem Antlitz Christi entströmen radial Lichtstrahlen in das Dunkel hinter ihm. „Ich bin das Licht der Welt“, sagt Jesus über sich selbst zu den Pharisäern (Johannes 8,12; LUT); „wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ Winner betrachtet den Holzschnitt Christus als das wahre Licht (um 1524 entstanden) von Hans Holbein d.J. (1497–1543) als wichtige Anregung für das Hundertguldenblatt. Rembrandt habe von dieser Grafik den Bildgedanken übernommen: Holbein stellt Christus in die Mitte zwischen zwei Menschenzüge. Links folgen einfach gekleidete Bauern, Bürger und Frauen der einladenden Rechten des Erlösers, der auf die Flamme eines Osterleuchters zeigt. Nach rechts tappt ein Zug gelehrter und großer Herren, die an Mönchskutte, Doktor-Tracht und – ganz vorn – sogar an der päpstlichen Tiara erkennbar sind, den beiden Philosophen Aristoteles und Platon nach. Nur diese beiden sind namentlich beschriftet. All diese „Weisen und Klugen“ (Matthäus 11,25; LUT) kehren Christus den Rücken, halten sich aber wie Blinde gegenseitig an ihren Kleidern fest. Ihr Blindenführer Aristoteles stolpert gerade über einen Stein am Rand einer Grabgrube, in die der blinde Platon bereits hineingestürzt ist.

Leonardo da Vinci: Abendmahl, Dreiergruppe mit Judas, Petrus und Johannes (1494-1497);
Mailand, Maria Maria delle Grazie

Von Holbein entlehnt, so Winner, habe Rembrandt die einladende Geste und das talarartige Kleid seines Christus. Rembrandts Elendszug, der von rechts auf den Erlöser zukommt, folge ganz dem Schema des Holzschnitts, wie auch die geistlich blinden Pharisäer als Gruppe links „sich am Rand einer Grabesgrube befinden, die ebenfalls Holbein entlehnt ist“ (Winner 2006, S. 83). Für die Halbfiguren der Pharisäer hinter der Steinbrüstung hat Rembrandt eine Jüngergruppe aus Leonardo da Vincis Abendmahl variiert, das der Künstler durch einem italienischen Kupferstich kannte: Der Pharisäer mit hohepriesterlicher Kopfbedeckung, der sich mit dem Ellenbogen auf die Mauer stützt, übernimmt seitenverkehrt das Sitzmotiv von Leonardos Judas. Auch für den Mann hinter der betenden Frau, der mit beiden Armen nach rechts weist, hat sich Rembrandt an einer Figur aus dem Abendmahl orientiert – dem Jünger Matthäus. 

Raffael: Transfiguration (1518/20); Rom, Vatikanische Museen
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Doch Rembrandt zitiert nicht nur Michgelangelo und Leonardo, sondern auch den dritten großen italienischen Renaissance-Meister, wenn auch nicht sofort erkennbar: Raffael. So stellt die Liegende zu Füßen Christi eine in Teilen wörtliche Übernahme aus dessen  Transfiguration dar: Aus dem sitzenden Matthäus am vorderen linken Bildrand wird bei Rembrandt eine kranke Frau. Dabei übersetzt er den dynamisch ausgestreckten Arm des Evangelisten in die Geste, den Heiland oder doch immerhin sein Gewand berühren zu wollen. Als weiteres verborgenes Zitat muss auch die kniende Frau neben der liegenden Kranken gesehen werden, die das Motiv der Maria Magdalena aus der Transfiguration abwandelt.

 

Literaturhinweise

Müller, Jürgen: Homer und die Pharisäer. Eine neue Deutung von Rembrandts „Hundertguldenblatt“. In: Stephanie Buck/Jürgen Müller, Rembrandts Strich. Paul Holberton Publishing, London 2019, S. 45-57;

Raupp, Hans-Joachim: Rembrandts Radierungen mit biblischen Themen 1640–1650 und das »Hundertguldenblatt«. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 57 (1994); S. 403-420;

Suthor, Nicola: Rembrandts Rauheit. Eine phänomenologische Untersuchung. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014, S. 58-69;

Winner, Matthias: Rembrandts »Hundertguldenblatt« und Raffaels »Schule von Athen«. In: Jahrbuch der Berliner Museen 51 (2009), Beiheft: Rembrandt – Wissenschaft auf der Suche. Beiträge des Internationalen Symposiums Berlin 4. und 5. November 2006, S. 77-86;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

(zuletzt bearbeitet am 23. September 2021)

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