Samstag, 15. Mai 2021

Paradigma des proletarischen Milieus – Otto Dix malt seine Eltern

Otto Dix: Bildnis der Eltern (1921); Basel, Kunstmuseum (für die Großansicht einfach anklicken)
Zwei Mal, 1921 und 1924, hat der deutsche Maler und Grafiker Otto Dix (1891–1969) seine Eltern porträtiert. Die Doppelbildnisse befinden sich heute im Kunstmuseum von Basel und im Sprengel Museum Hannover. Das Gemälde von 1921 zeigt die dreiviertelfigurig und vor dunkel gehaltenem Hintergrund wiedergegebenen Eltern in einem wenig charakterisierten Raum, der Vater näher an den Betrachter herangerückt und nach links gewendet auf einem Hocker, die Mutter auf dem Sofa sitzend. Die beiden Figuren sind in einem annähernd quadratischen Bildformat auf den schräg im Bildraum stehenden Sitzmöbeln rechtwinklig angeordnet, wobei der rechts platzierte Vater gegenüber der Mutter dominiert, weil er sie überschneidet und sie von ihm und dem Sofa eingefasst ist. Die Darstellung des Ehepaares konzentriert sich auf die hell beleuchteten Köpfe und Hände, „die durch ihre Reihung den Blick des Betrachters nach links ins Bild hineinführen, wo er über die Augen der Mutter und die Linie der Sofalehne zu den Augen des Vaters gleitet“ (Schubert 1973, S. 274).

In Arbeitskleidung mit aufgekrempelten Ärmeln, die schweren Hände auf den Knien abgelegt, blickt der Vater wie unbeteiligt am Betrachter vorbei ins Leere, während die Mutter in gestreifter Schürze uns ebenso direkt wie kummervoll anschaut. Louise Dix wirkt gleichzeitig so, „als müsse sie im nächsten Moment etwas in der Küche erledigen und als könne sie noch viele Jahre so dasitzen“ (Otto 1984, S. 62). Es ist ein ungeschöntes Porträt der Eltern: Die zusammengesunkenen Figuren sind mit kränklich wirkender Hautfarbe wiedergegeben; sie erscheinen ausgemergelt und abgehärmt, gezeichnet von körperlicher Arbeit, die noch keinen Achtstundentag kennt. Die vergrößerten Hände verweisen deutlich darauf, dass sie ein Leben lang immerfort zupacken mussten, um die Existenz der Familie zu sichern: Franz Dix war Eisengießer in einer Geraer Schmelzhütte und hatte mit seiner Frau vier Kinder.

Otto: Die Eltern des Künstlers (1924); Hannover, Sprengel Museum
(für die Großansicht einfach anklicken)
1924 präsentiert Dix seine Eltern frontal eng nebeneinander und aufrecht auf dem Sofa sitzend, das nun bildparallel vor der Wand steht. Diesmal sind die Ärmel heruntergekrempelt und zugeknöpft. Gegenüber dem früheren Bild wirkt die Komposition, als würden die Eltern dem Sohn „offiziell“ Modell sitzen. Wie auf dem ersten Bild belebt kein Lächeln die Gesichter. Dix hat seine Eltern als regungslose, „auf dem Sofa fast versteinerte Menschen verewigt“ (Otto 1984, S. 64). Sie sind in leichter Aufsicht wiedergegegeben, erneut in ihrem häuslichen Kontext, der diesmal heller beleuchtet ist. Das Alter des Vaters, 62 (also noch nicht Rentner), und das der Mutter, 61, wird nach Art der Alten Meister aus der Dürer-Zeit mittels eines beschriebenen Zettels an der Wand angegeben. Das Gemälde ist in einem langwierigen Arbeitsprozess entstanden – in altmeisterlicher Lasurtechnik erreicht Dix dabei die Farbigkeit großer Vorbilder des 16. Jahrhunderts.

Der Hintergrund des früheren Gemäldes ist in grauschwarzen Tönen angelegt; das dunkelgrüne Sofa wird gegenüber den Figuren nicht plastisch herausgearbeitet, da es farblich eng mit der Rückwand verbunden bleibt. Lediglich die Armlehne, die vorn link ins Bild reicht, bildet räumlich und flächig eine deutliche Form. In dem Gemälde von 1924 ist die Wand, die den Hintergrund bildet, in zwei Zonen gegliedert; der gemusterte obere Streifen in Türkis, der untere Teil in dunkler wirkendem Blaugrau gemalt. Wie das Sofa ist auch die Kleidung der Eltern 1924 heller wiedergegeben als 1921: Das helle Violett der Jacke der Mutter war 1921 ein dunkles Rot; die Hose des Vaters bleibt in Oliv bis Schwarz, Schürze der Mutter und Hemd des Vaters sind blau-weiß gestreift. Der Vater trägt im späteren Bild noch eine braune Weste über dem zugeknöpften Hemd und legt seine linke Hand auf die braune Stoffdecke, die die Sitzfläche des Sofas schonen soll. Die Kleider sind 1924 deutlich akkurater dargestellt. Die gemalte Maserung der Zimmerwand, die Maserung des Holzes, die unterschiedlichen Stoffe der Bekleidung, die Struktur der braunen Sofadecke und die Musterung des Sofabezuges mit den pflanzen- und blütenhaften Formen, selbst der geflickte Riss dort – all diese Details sind mit großer Genauigkeit wiedergegeben. Diese Details fehlen in der ersten Fassung.

Im Elternbildnis von 1924 schauen Mann und Frau beinahe gedankenverloren vor sich hin, ohne sich für das Porträt in Szene zu setzen, ohne Pose, ohne bewusste Selbstdarstellung. Das Paar schließt sich formal zu einem quadratischen Block innerhalb des Querrechteck-Formates zusammen. „Die übergroß erscheinenden Hände strömen in ihrem Nebeneinander Ruhe und Gleichmut aus“ (Schubert 1973, S. 271). Eine Berührung findet allerdings nicht statt. Sind die beiden Porträtierten 1921 nah an den Betrachter herangerückt, hat Dix sie 1924 in ihrem frontalen Sitzen wieder von uns entfernt; „ebenso wird von Dix das Blicken der Alten weniger intensiv und bohrend gemalt“ (Schubert 1973, S. 280). Die beherrschende Stellung des Vaters im Bild von 1921 veranschaulicht seine Dominanz als Ernährer und Versorger gegenüber der Mutter als Hausfrau. 1924 ist die Mutter nicht mehr untergeordnet wiedergegeben: Sie sitzt gleichberechtigt neben ihrem beinahe einfältig und geistesabwesend wirkenden, passiv vor sich hin blickenden Mann.

Im ersten Bild scheinen die Eltern während einer Ruhepause in einem harten Arbeitsalltag dargestellt. Auf dem Gemälde ein Hannover werden Vater und Mutter nicht nur in ihrer „guten Stube“ und bei hellem Licht gezeigt – sie sind auch erkennbar nicht für die Arbeit, eher für den Feierabend gekleidet und präsentieren sich deutlich aufrechter, als ob Besuch zu erwarten wäre. „Das wochentägliche Zusammengesunkensein ist einem sonntäglichen Da-Sitzen gewichen. Das bedeutet, daß Dix die Eltern im Jahre 1921 als Arbeiter schlechthin und ihr Porträt als Paradigma des proletarischen Milieus verstanden wissen wollte“ (Schubert 1973, S. 280).

 

Literaturhinweise

Otto, Gunter: Otto Dix – Bildnis der Eltern. Klassenschicksal und Bildformel. Fischer Taschenbuch Verlag, Franfurt am Main 1984;

Schubert, Dietrich: Die Elternbildnisse von Otto Dix aus den Jahren 1921 und 1924. Beispiel einer Realismus-Wandlung. In: Städel-Jahrbuch 4 (1973), S. 271-298.


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