Mittwoch, 13. April 2022

Weit weg in der Ferne – Max Beckmann malt das Gleichnis vom verlorenen Sohn

Max Beckmann: Der verlorene Sohn (1949); Hannover, Museum Sprengel
(für die Großansicht einfach anklicken)

Das Geschichte vom verlorenen Sohn, der sich von seinem Vater vor dessen Tod schon sein Erbe auszahlen lässt, in einem fernen Land dieses Vermögen dann verprasst und schließlich ebenso bitterarm wie reuevoll zurückkehrt, ist bis heute wohl das bekannteste neutestamentliche Gleichnis (Lukas 15,11-32). Immer wieder in der Kunst dargestellt, dürfte Rembrandts großformatige Leinwand aus der St. Petersburger Eremitage die wohl populärste Umsetzung der biblischen Erzählung sein. Auch der deutsche Maler und Grafiker Max Beckmann (1884–1950) hat den Stoff in einem Gemälde bearbeitet, das sich heute im Museum Sprengel (Hannover) befindet.

Rembrandt: Heimkehr des verlorenen Sohnes (um 1666/69);
St. Petersburg, Eremitage (für die Großansicht einfach anklicken)

Beckmanns Komposition zeigt den Augenblick, in dem der verlorene Sohn verzweifelt seine ausweglose Situation erkennt: An einem Tisch sitzend, stützt er den vorgebeugten Kopf in beide Hände, eng umringt von exotisch leuchtenden Dirnen, mit denen er sein Geld und seine Jugend durchgebracht hat. Die papageienbunten Prostituierten lassen den Mann mit der schwarzen Schirmmütze unscheinbar und farblos aussehen. Seine Hände verdecken die Ohren, er will ihren Sirenengesang nicht mehr hören, er will nichts mehr sehen: Apathisch starrt er ins Leere und versinkt dumpf grübelnd in Melancholie, weil er die Sinnlosigkeit und Leere dieses Lebens erfasst. Das „Prassen“ (Luk. 15,13; LUT) hat jeden Reiz für ihn verloren; der Becher und die zum Teil barbusigen Frauen, die ihn umgeben, bleiben unbeachtet.

Die blonde Dirne links von ihm scheint den Bordellgast als ihr exklusives Eigentum zu betrachten: Er wirkt wie gefangen in ihren Armen – Symbol einer fatalen Umklammerung. Demonstrativ zeigt Beckmann die Verlorenheit dieses Mannes, den die Frauen in ihrer gefährlich-phosphoreszierenden Farbigkeit als Seelenfängerinnen umgeben. Es ist eine Gebärde der Hoffnungslosigkeit, mit der sich der Verführte vor ihnen verschließt.

Dramatisches Schwarz konturiert alle Formen. Jeder der Frauen ordnet Beckmann ein anderes Kolorit zu, ihrem jeweiligen Temperament entsprechend. Hinter dem Kopf des verlorenen Sohnes züngeln die roten Blumen wie Flammen empor. Die drei Frauentypen stammen augenscheinlich aus ganz unterschiedlichen Ländern – ein Hinweis darauf, dass der Sohn nach dem biblischen Bericht „weit weg in die Fremde“ (Luk. 15,13; GNB) gezogen ist. Wie Pieter Bruegel, Rembrandt und viele andere Maler vor ihm hat sich auch Beckmann entschieden, die biblische Gesellschaft in zeitgenössischer Kleidung darzustellen. Mehrdeutig bleibt der hart angeschnittene Kopf mit dämonischem Schattenwurf am rechten Bildrand. Ist es die Bordellmuter oder ein Hinweis auf den wartenden Vater und den missgünstigen Bruder – eine Vorausschau auf das Kommende also?

Beckmann, der 1937 aus Frankfurt nach Amsterdam emigriert und von dort 1947 nach St. Louis übergesiedelt war, hatte dieses Spätwerk am 3. Juli 1948 begonnen, die Leinwand dann aber bis zum 11. Juni 1949 stehen lassen. Wann immer der Künstler eine bekannte Geschichte malte, tat er das nicht als Illustration, sondern um die eigene seelische Befindlichkeit auszudrücken. Das unterscheidet seine Werke von der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts, und deswegen gilt sie als expressionistisch. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn diente ihm dazu, in den Jahren des Exils die persönliche Entfremdung von der Heimat zu gestalten. Noch während er an diesem Bild arbeitete, notierte der Maler am 9. Februar 1949 in sein Tagebuch: „Beckmann zog dann zuletzt in ein fernes, großes Land – und langsam sahen wir seine Gestalt undeutlicher werden. Schließlich verschwand sie ganz in unbestimmten Weiten.“ Am 27. Dezember 1950 starb Max Beckmann in New York. 

 

Literaturhinweise

Schulz-Hoffmann, Carla/Weiss, Judith C. (Hrsg.): Max Beckmann. Retrospektive. Prestel-Verlag, München 1984, S. 308;

GNB = Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.


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