Donnerstag, 21. Juli 2022

Barfuß, langhaarig und alle überragend – Rembrandt malt „Jesus und die Ehebrecherin“ (1644)

Rembrandt: Jesus und die Ehebrecherin (1644); London, National Gallery
(für die Großansicht einfach anklicken)
Dieses 1644 datierte Gemälde Rembrandts aus der Londoner National Gallery zeigt die bekannte Episode aus dem Johannes-Evangelium (Johannes 8,3-11), in der eine beim Ehebruch ertappte Frau von Schriftgelehrten und Pharisäern zu Jesus gebracht wird, der gerade im Jerusalemer Tempel zu seinen Anhängern spricht. Rembrandt inszeniert das Geschehen vor einer erhöhten Ebene, auf der gerade ein Opferritus stattfindet. Während weite Teile des gewaltigen Innenraums im Halbdunkel versinken, wird Jesus von hellem Licht erfasst, das auch auf die vor ihm kniende Ehebrecherin fällt. Sie ist, wie es dem Bibeltext entspricht, in die Mitte gestellt, während ihre Ankläger sich im Halbkreis um sie versammelt haben: An den auch durch seine Körpergröße herausragenden Jesus schließt sich rechts die Gruppe seiner Kontrahenten an, unter denen sich neben exotisch kostümierten Schriftgelehrten und Pharisäern auch ein Soldat in spiegelnder Rüstung befindet; er hält das Kleid der Angeklagten fest, während der schwarz gewandete Anführer der Gruppe ihren Schleier lüftet und sie Jesus herausfordernd präsentiert.

„Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?“ (Johannes 8,4-5; LUT). Rembrandt zeigt den Moment, in dem Jesu Gegner diese verfängliche Frage vorgetragen und sie mit herablassender Häme auf seine Antwort lauern. Jesus steht reglos, hat noch nichts erwidert, „und doch ist in seiner Gestalt alles vorweggenommen, was er sagen wird“ (Keller 1979, S. 81). Er und seine beiden Jünger sind barfuß und tragen farblose Gewänder, die von den prächtigen Trachten der Pharisäer abstechen – Macht und Reichtum stehen hier Demut und Geringschätzung irdischer Güter gegenüber. Das hinterhältige Ansinnen, den demonstrativ von Gesten begleiteten Gesetzeseifer des Sprachführers begegnet Jesus mit vollkommener Gelassenheit. Die Hand, die abwehrend, anklagend oder verzeihend in Aktion treten könnte, liegt ruhig an seiner Brust. Anders als Bibeltext und Bildtradition nahelegen, hat Jesus bei Rembrandt aber wohl nicht mit dem Finger auf den Boden geschrieben, bevor er im nächsten Moment den sprichtwörtlich gewordenen Satz sagen wird: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“ (Johannes 8,7; LUT).

Die Zeit des Erbarmens ist angebrochen 
Es ist nicht nur die körperliche Größe, die Jesus vor allen Versammelten heraushebt. Hinzu kommt, daß die Personen in seiner Nähe sich neugierig strecken, vorbeugen oder vom Alter gebeugt sind, einander auch wechselseitig behindern. „Dagegen wird seine aufrechte, unbeengte Haltung als Ausnahme erkennbar“ (Keller 1979, S. 82). Jesu schlichte, zwanglose Kleidung hebt sich einerseits ab von den bunt-prächtigen, doch körperlich einschränkenden Standestrachten der Pharisäer, andererseits fehlt ihr auch das Grobe und Unförmige, das den Bettelröcken der beiden Apostel links neben ihm anhaftet. Gelöst und frei fällt das Haar Jesu bis auf die Oberarme herab. „In ununterbrochener Linie, ohne vom Körper abgesetzt zu sein, wächst sein Haupt allmählich zu milder Überlegenheit über die Umstehenden empor“ (Keller 1979, S. 82). Die untere, schattige Partie seines Gewandes liegt in tiefem Braun; höher im Licht herrschen helle Braun- und Lilatöne vor, die zu Jesu rotblondem Haar überleiten. „Den wärmsten, lichtesten Farbton bezeichnet schließlich der Goldglanz des Stirnhaars, der zu der sanften Gesichtsstimmung wesentlich beiträgt“ 

(Keller 1979, S. 82).

Rembrandts Darstellung ist weitestgehend durch den Wortlaut des Johannes-Evangeliums gedeckt. Aber er fügt noch eine zweite Szene hinzu, der offensichtlich die Textgrundlage fehlt: Hinter Jesus setzt auf dem Londoner Gemälde eine lange Prozession von Männern, Frauen und Kindern jeden Standes ein, die über eine Treppe der Tribüne zustrebt, wo die jüdische Priesterhierarchie ihre Herrschaft zelebriert. Hier steht unter einem riesigen Baldachin der märchenhaft schimmernde Goldthron des Tempelherrn. Zur Linken des Thronpodestes ist ein Schreiber an einem Pult mit Aufzeichnungen beschäftigt, rechts lässt sich ein Würdenträger mit Bischofsstab und Weihrauchfass erkennen; eine große Zahl von weiteren Würdenträgern ergänzt den Hofstaat. Ein Altar zwischen zwei goldenen Säulen fungiert als Barriere, die dem Strom der Gäubigen in gebührender Entfernung von den Herrschenden Halt gebietet.

In der Version Pieter Bruegels d.Ä. (1565) schreibt Jesus bibeltreu mit seinem Finger auf dem Boden
(London, Courtauld Institute of Art)

Unterwürfig liegen einige Menschen vor dem Altar auf den Knien, dahinter vollzieht ein Priester mit goldener Opferschale eine kultische Handlung. Helles Licht ruht nur auf dem architektonischen Dekor der Tribüne; die Menschen sind kaum wahrzunehmen, als käme ihrer beflissenen Devotion nur untergeordnete Bedeutung zu. Insgesamt aber wirkt die Zelebrierung des jüdischen Tempeldienstes aber prominent genug, um mit dem Geschehen auf dem tieferen Tempelniveau in Konkurrenz zu treten. Die beiden Ereignisse müssen daher zusammen gesehen werden: Hinter den unmittelbaren Widersachern Jesu, die ihn mit ihrer Frage zu Fall bringen wollen, hat er im Hohepriester und der ganzen mosaischen Kultinstitution mit einem zwar jetzt noch entfernteren, aber weitaus mächtigeren Gegner zu tun.

Jesu eigentlich Gegner sitzt rechts oben
Die beiden metallenen Tempelsäulen wie auch der Tempelvorhang, der zu beiden Seiten Seiten der imposanten Rückwand herabhängt, sind stimmige historische Elemente. Aber sie dienen nicht nur dazu, Zeit und Ort der Handlung näher zu bestimmen. Vielmehr weisen die Kostüme von Anklägern, Hohepriestern und Tempeldienern ihre Träger als Angehörige des Alten Bundes und damit der Zeit sub lege aus (unter dem mosaischen Gesetz stehend), während Jesus – barfuß, mit offenem Haar und in schlichtem Gewand auf den ersten Blick von ihnen zu unterscheiden – für den Neuen Bund steht, mit dem die Epoche sub gratia beginnt, die Zeit göttlichen Erbarmens und der Erlösung. Indem Jesus der ehrlich bereuenden, in strahlendes Weiß gekleideten Sünderin Vergebung und Gottes Gnade zuspricht, ohne dass hierfür gute Werke wie etwa rituelle Opfer nötig wären, wird er zum Widerpart des schräg über ihm zelebrierenden Hohepriesters. Der Bibeltext lässt sich so deuten, dass Jesus am Beispiel der Ehebrecherin zwar die Selbstgerechtigkeit angreift und bloßstellt, das mosaische Gesetz aber nicht aufhebt, sondern nur mildert. Bei Rembrandt kommt zu dieser Konfliktsituation eine zweite hinzu: Durch das priesterliche Treiben im Hintergrund des Londoner Gemäldes wird das gesamte jüdische Zeremonialwesen in Frage gestellt. „Daß Jesus das Joch der alttestamentlichen Kultordnung abgeworfen hat, ist Rembrandt ebenso wichtig wie die Milderung bzw. Aufhebung der traditionellen Moralgebote im Evangelium“ (Keller 1979, S. 83).

 

Literaturhinweise

Brinkmann, Bodo u.a. (Hrsg.): Rembrandts Orient. Westöstliche Begegnung in der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts. Prestel Verlag, München/ London/New York 2020, S. 246;

Keller, Ulrich: Knechtschaft und Freiheit. Ein neutestamentliches Thema bei Rembrandt. In: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 24 (1979), S. 77-112.

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

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