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Rembrandt: Jesus und die Ehebrecherin (1644); London, National Gallery (für die Großansicht einfach anklicken) |
„Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?“ (Johannes 8,4-5; LUT). Rembrandt zeigt den Moment, in dem Jesu Gegner diese verfängliche Frage vorgetragen und sie mit herablassender Häme auf seine Antwort lauern. Jesus steht reglos, hat noch nichts erwidert, „und doch ist in seiner Gestalt alles vorweggenommen, was er sagen wird“ (Keller 1979, S. 81). Er und seine beiden Jünger sind barfuß und tragen farblose Gewänder, die von den prächtigen Trachten der Pharisäer abstechen – Macht und Reichtum stehen hier Demut und Geringschätzung irdischer Güter gegenüber. Das hinterhältige Ansinnen, den demonstrativ von Gesten begleiteten Gesetzeseifer des Sprachführers begegnet Jesus mit vollkommener Gelassenheit. Die Hand, die abwehrend, anklagend oder verzeihend in Aktion treten könnte, liegt ruhig an seiner Brust. Anders als Bibeltext und Bildtradition nahelegen, hat Jesus bei Rembrandt aber wohl nicht mit dem Finger auf den Boden geschrieben, bevor er im nächsten Moment den sprichtwörtlich gewordenen Satz sagen wird: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“ (Johannes 8,7; LUT).
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Die Zeit des Erbarmens ist angebrochen |
Es ist nicht nur die körperliche Größe, die Jesus vor allen Versammelten heraushebt. Hinzu kommt, dass die Personen in seiner Nähe sich neugierig strecken, vorbeugen oder vom Alter gebeugt sind, einander auch wechselseitig behindern. „Dagegen wird seine aufrechte, unbeengte Haltung als Ausnahme erkennbar“ (Keller 1979, S. 82). Jesu schlichte, zwanglose Kleidung hebt sich einerseits ab von den bunt-prächtigen, doch körperlich einschränkenden Standestrachten der Pharisäer, andererseits fehlt ihr auch das Grobe und Unförmige, das den Bettelröcken der beiden Apostel links neben ihm anhaftet. Gelöst und frei fällt das Haar Jesu bis auf die Oberarme herab. „In ununterbrochener Linie, ohne vom Körper abgesetzt zu sein, wächst sein Haupt allmählich zu milder Überlegenheit über die Umstehenden empor“ (Keller 1979, S. 82). Die untere, schattige Partie seines Gewandes liegt in tiefem Braun; höher im Licht herrschen helle Braun- und Lilatöne vor, die zu Jesu rotblondem Haar überleiten. „Den wärmsten, lichtesten Farbton bezeichnet schließlich der Goldglanz des Stirnhaars, der zu der sanften Gesichtsstimmung wesentlich beiträgt“ (Keller 1979, S. 82).
Rembrandts Darstellung ist weitestgehend durch den Wortlaut des Johannes-Evangeliums gedeckt. Aber er fügt noch eine zweite Szene hinzu, der offensichtlich die Textgrundlage fehlt: Hinter Jesus setzt auf dem Londoner Gemälde eine lange Prozession von Männern, Frauen und Kindern jeden Standes ein, die über eine Treppe der Tribüne zustrebt, wo die jüdische Priesterhierarchie ihre Herrschaft zelebriert. Hier steht unter einem riesigen Baldachin der märchenhaft schimmernde Goldthron des Tempelherrn. Zur Linken des Thronpodestes ist ein Schreiber an einem Pult mit Aufzeichnungen beschäftigt, rechts lässt sich ein Würdenträger mit Bischofsstab und Weihrauchfass erkennen; eine große Zahl von weiteren Würdenträgern ergänzt den Hofstaat. Ein Altar zwischen zwei goldenen Säulen fungiert als Barriere, die dem Strom der Gläubigen in gebührender Entfernung von den Herrschenden Halt gebietet.![]() |
In der Version Pieter Bruegels d.Ä. (1565) schreibt Jesus bibeltreu mit seinem Finger auf dem Boden (London, Courtauld Institute of Art) |
Unterwürfig liegen einige Menschen vor dem Altar auf den Knien, dahinter vollzieht ein Priester mit goldener Opferschale eine kultische Handlung. Helles Licht ruht nur auf dem architektonischen Dekor der Tribüne; die Menschen sind kaum wahrzunehmen, als käme ihrer beflissenen Devotion nur untergeordnete Bedeutung zu. Insgesamt aber wirkt die Zelebrierung des jüdischen Tempeldienstes aber prominent genug, um mit dem Geschehen auf dem tieferen Tempelniveau in Konkurrenz zu treten. Die beiden Ereignisse müssen daher zusammen gesehen werden: Hinter den unmittelbaren Widersachern Jesu, die ihn mit ihrer Frage zu Fall bringen wollen, hat er im Hohepriester und der ganzen mosaischen Kultinstitution mit einem zwar jetzt noch entfernteren, aber weitaus mächtigeren Gegner zu tun.
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Jesu eigentlich Gegner sitzt rechts oben |
Literaturhinweise
Brinkmann, Bodo u.a. (Hrsg.): Rembrandts Orient. Westöstliche Begegnung in der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts. Prestel Verlag, München/ London/New York 2020, S. 246;
Keller, Ulrich: Knechtschaft und Freiheit. Ein neutestamentliches Thema bei Rembrandt. In: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 24 (1979), S. 77-112.
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
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