Montag, 7. Oktober 2024

Für alle Konfessionen geeignet –Rembrandts Radierung „Der Tod Mariens“ (1639)

Rembrandt: Der Tod Mariens (1639); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)

Über den Tod Mariens, der Mutter Jesu, wird in der Bibel nichts berichtet. Doch die Legenda aurea, das im späten 13 Jahrhundert zusammengestellte Standardwerk der Heiligenverehrung, erzählt, dass sämtliche Apostel auf wundersame Weise an ihrem Sterbebett zusammengekommen seien. Diese zwölf Gefährten Jesu zeigt Albrecht Dürers Marientod – eines der insgesamt 20 Blätter aus seiner 1502 bis 1510 entstandenen Holzschnittfolge zum Marienleben (siehe meinen Post „Ein Buch für die Himmelskönigin“). Dürer präsentiert die schmächtige, tief in die Kissen zurückgesunkene Maria in einem von einem Bogen überwölbten Baldachinbett. Um die stark verkürzt dargestellte Figur reihen sich die Abschied nehmenden Apostel. Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, reicht Maria die Sterbekerze, während sie von Petrus mit Weihwasser besprengt wird; andere lesen aus heiligen Schriften; Kreuzstab, Weihwasser und Räucherwerk unterstreichen den rituellen Charakter der Szene.

1638 erwarb Rembrandt (1606–1669) Dürers Marienleben. Deutlichstes Zeugnis seiner Auseinandersetzung mit dieser Serie ist eine Radierung von 1639, die uns die Todesstunde der Gottesmutter zeigt. Rembrandt übersetzte das Werk des Nürnberger Meisters in die ihm eigene Bildsprache und schuf dabei eine seiner großformatigsten und anspruchsvollsten Grafiken überhaupt (41 x 31,4 cm).

Albrecht Dürer: Marientod (aus dem Marienleben, 1502-1510);
Holzschnitt (für die Großansicht einfach anklicken)

Rembrandt verwandelt Dürers Sterbeszene in ein „aufwändig inszeniertes Theatrum mortis, auf das der Betrachter von seinem leicht erhöhten Standpunkt wie auf eine Bühne blickt“ (Pawlak 2019, S. 459). Hier haben sich nicht die Apostel, sondern klagende Frauen und Männer um das Lager der Sterbenden geschart. Ihre Aufmerksamkeit gilt mehr dem körperlichen Zustand als dem Seelenheil der sichtlich ausgezehrten Maria. Reglos liegt sie in einem Himmelbett, zu dem zwei Stufen führen: Ihre Arme sind schwer und die Augen geschlossen, aus ihrem Mund läuft Speichel. Der orientalisch kostümierte Priester – gemeint ist wohl ein jüdischer Tempelgeistlicher – und sein Gefolge am linken Bildrand beobachten die Szene ebenso untätig wie der vor einem aufgeschlagenen Buch sitzende Mann im Vordergrund. Ganz nah an Maria herangetreten ist ein bärtiger Helfer, der ihr ein Kissen zurechtrückt und ihr den Mund mit einem Tuch abtrocknet. 

Ein Arzt fühlt sorgenvoll den Puls, während die Trauergemeinde angespannt auf seine medizinische Einschätzung der Lage zu warten scheint – ein im Zusammenhang mit dem Marientod völlig neuartiges Motiv. Ob die völlig entkräftet wirkende Maria bereits tot ist, bleibt sowohl für alle Beteiligten wie auch für den Betrachter unsicher. Durch ihren hervorgehobenen Figurenmaßstab setzen schließlich die klagende Frau vorn am Bett sowie die hell beleuchtete Figur mit den ausgebreiteten Armen einen besonderen Akzent in der ausdrucksstarken Trauer der Anwesenden. Der riesige Vorhang am rechten Bildrand wiederum wird von Rembrandt wie ein Hoheitszeichen eingefügt.

Während die untere Bildpartie detailreich und naturalistisch ausgearbeitet ist, erscheint der obere Bereich nur skizziert, ja erscheint insbesondere über dem Baldachin des Bettes wie ein grafisches Experiment: „Ohne in klaren Konturen zu verlaufen, überkreuzen sich im oberen Teil der Komposition dynamisch mehrere Schichten rasch gezogener Linien in geradezu abstrakten Formen“ (Pawlak 2019, S. 460). Unbemerkt von den Besuchern bricht das Jenseits in das Sterbezimmer ein: Ein übernatürliches Licht fließt herab und erhellt das Sterbebett. Auf einem Wolkenband erscheinen rudimentär gezeichnete Engel und rufen die Gottesmutter in die himmlische Herrlichkeit, deren Glanz bereits die bleiche Gestalt der Liegenden beleuchtet. Denkbar ist aber auch, dass mit dem größten Engel derjenige Himmelsbote gemeint ist, der laut Jacobus de Voragines Legenda aurea mit einem Palmzweig in den Händen Maria ihren nahenden Tod verkündet (Voragine 2014, S. 1511).

Katholiken – im protestantisch geprägten Holland eine Minderheit – konnten in der Radierung die Darstellung eines für sie wichtigen Themas bewundern. Der katholischen Gemeinde Amsterdams war zwar seit 1581 die öffentliche Ausübung ihres Bekenntnisses offiziell verboten, praktizierte ab er ihren Glauben weiterhin in vielen der sogenannten Versteckkirchen (Schuilkerken). „Gerade das Medium der Druckgraphik begünstigte unter solchen Umständen eine kontemplative Versenkung in den Marientod als Glaubensmysterium“ (Pawlak 2019, S. 460). Zugleich hat Rembrandt aber auf alle liturgisch-katholischen Geräte verzichtet, darunter auch auf das Kreuz. Ebenso fehlt der in der Legenda aurea genannte Palmzweig des Engels. Calvinisten und Lutheraner hatten so die Möglichkeit, die Szene als eine „reformierte Totenbettzeremonie zu betrachten und in der Figur der sterbenden Maria ein Beispiel für Demut, Glauben und Gehorsam zu finden“ (Peterlini 2017, S. 190). Deswegen dürfte Rembrandt im Vordergrund auch das aufgeschlagene Buch platziert haben – sicherlich ist eine Bibel gemeint, als Grundlage und Bindeglied aller christlichen Denominationen. Darüber hinaus dürfte Der Tod Mariens auch als Kunstwerk von hohem Rang und eindringliche Schilderung menschlicher Endlichkeit über konfessionelle Grenzen hinweg geschätzt worden sein.

Rembrandt: Maria und Kind auf den Wolken (1641); Radierung
Rembrandt: Maria mit den Leidenswerkzeugen (1642); Radierung
Rembrandt: Die Heilige Familie mit Katze und Schlange (1654); Radierung

Katholische Kunstliebhaber hatte Rembrandt sicherlich auch im Blick gehabt, als er in späteren Jahren weitere Marien-Darstellungen schuf, so etwa die Radierungen Maria und Kind auf den Wolken und Maria mit den Leidenswerkzeugen, 1641 und 1642 entstanden, sowie Die Heilige Familie mit Katze und Schlange aus dem Jahr 1654.

Literaturhinweise

Barker, Mary Christine: Transcending Tradition: Rembrandts Death of the Virgin 1639: A Re-Vision. In: Dutch Crossing 34 (2010), S.  138-161;

Bernier, Ronald R.: The Economy of Salvation: Narrative and Liminality in Rembrandts Death of the Virgin. In: Religion and the Arts 9 (2005), S. 173-205;

Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 203-205;

Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Ein Virtuose der Druckgraphik. SMB DuMont, Köln und Berlin 2006, S. 82;

Pawlak, Anna: Ars bene moriendi. Der Transitus Mariae in der niederländischen Kunst der Frühen Neuzeit. In: Renate Dürr u.a. (Hrsg.), Religiöses Wissen im vormodernen Europa. Schöpfung – Mutterschaft – Passion. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2019, S. 431-462;

Peterlini, Giuseppe: Der Tod Mariens, 1639. In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 190-191;

de Voragine, Jacobus: Legenda aurea. Zweiter Teilband. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. Verlag Herder, Freiburg i.Br. 2014, S. 1509-1569.

 

(zuletzt bearbeitet am 9. Februar 2025)


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen