Samstag, 22. Oktober 2016

Alles nur getürkt – Parmigianinos „Selbstbildnis im Konvexspiegel“


Parmigianino: Selbstbildnis im Konvexspiegel (1523/24); Wien, Kunsthistorisches Museum
Im Herbst 1524 schenkte der italienische Maler Parmigianino (1503–1540) Papst Clemens VII. eines der ungewöhnlichsten Selbstporträts, die in der Frühen Neuzeit entstanden sind: Der Künstler hatte als Bildträger die hölzerne Nachbildung eines mittelgroßen Konvexspiegels gewählt und auf dessen gewölbte Fläche sein Bildnis als verzerrte Spiegelung gemalt (Durchmesser 24,4 cm). Der heutige breite Rahmen – das Werk ist im Kunsthistorischen Museum Wien ausgestellt – macht allerdings die ursprünglich beabsichtigte Fiktion eines alltäglichen Gebrauchsgegenstandes zunichte. Denn gemeint war einer jener einfachen Rundspiegel, wie sie vor allem in Venedig hergestellt wurden, als der teurere, zumeist viereckige Flachspiegel sich noch nicht durchgesetzt hatte. Die Malfläche erhält bei Parmigianino also den Anschein eines Spiegels, das gemalte Porträt den Anschein einer natürlichen Spiegelung.
Fingiert ist folgende reale Situation: Der auffallend jugendliche, beinahe knabenhafte Künstler zeigt sich sitzend in einem Raum mit Kassettendecke und hochgelegenem Fenster. Offenbar handelt es sich um sein Atelier, denn am rechten Rand des Bildes erscheint eine Staffelei. Der runde glänzende Spiegel davor deutet auf einen halb abgewendeten Rundspiegel seitlich der Staffelei. Die Entstehungssituation des künftigen Selbstbildnisses ist hier simuliert. Doch der Porträtierte blickt nicht in den Spiegel im Bild, sondern aus dem Bild heraus, was bedeutet, dass er sich dem wirklichen Spiegel, also der vorgewölbten Malfläche des Bildes zuzuwenden scheint.
Dabei hält Parmigianino dem Betrachter die lässig abgelegte, bizarr vergrößerte und überlängte rechte Hand entgegen. Obwohl sie am unteren Bildrand platziert ist, zieht sie durch ihre Vergrößerung die Aufmerksamkeit auf sich, noch bevor der Betrachter sich dem Gesicht zuwendet. Das Haupt besetzt zwar den Mittelpunkt des Bildes, befindet sich aber in größerer Distanz zum Spiegel und fällt deshalb im Vergleich zur Hand eher klein aus. Die Hand bildet „eine abschirmende Schranke, hinter der der Kopf um so sicherer an der vom Kragen bis zum Scheitel markierten Achse entlang aufragen kann“ (Warnke 1997, S. 108). Durch das gemeinsame Inkarnat sind Kopf und Hand deutlich aufeinander bezogen: Es ist der Kopf, der die Hand aktiviert; nicht nur die Hand, sondern auch die Erfindungsgabe ist entscheidend, wenn ein bedeutsames Werk entstehen soll. Parmigianino betont auf diese Weise, dass es sich bei der Malerei ganz wesentlich um einen intellektuellen Prozess handelt.
Das Handgelenk des Künstlers wächst regelrecht aus einer feinen Hemdrüsche hervor. Die vier Finger sind entspannt ausgestreckt; den kleinen Finger ziert ein Goldring, der Daumen bleibt hinter dem aufgelegten Handrücken verborgen. „Daß die Hand ruht und keinen Pinsel mehr hält, mit dem doch die Tondo-Tafel gemalt worden ist, zeugt von der Vollendung des Werks“ (Winner 2005, S. 102). Parmigianinos Gesicht ist im Vergleich zur rechten Hand und dem stark fluchtenden Hintergrund nahezu unverzerrt wiedergegeben – hierbei dürfte ein flacher oder anders gewölbter Spiegel zum Einsatz gekommen sein.
Entgegen der Atelierrealität zeigt Parmigianino sich in einem pelzbesetzten Wams, also in vornehmer, hoffähiger Kleidung nach der aktuellen Mode. „Sie erinnert daran, dass in der Frühzeit der Gattung Selbstporträt (...) die Kleidung nicht die soziale Wirklichkeit, sondern den sozialen Anspruch des Malers spiegelt“ (Preimesberger 2005, S. 50). Parmigianino ist, wie Sylvia Ferino-Pagden feststellt, der erste italienische Maler, der sich in seinem Atelier darstellt und damit seine Profession preisgibt: „Bis fast zur Mitte des 16. Jahrhunderts zogen gerade die italienischen Maler es vor, sich als Gentleman darzustellen, ohne Hinweise auf ihre Arbeitsinstrumente, wahrscheinlich um nicht Gefahr zu laufen, wieder unter die ,artes mechanicae‘ gereiht zu werden“ (Ferino-Pagden 2003, S. 50).
Martin Warnke sieht in dem extravaganten, in äußerst reduziertem Farbspektrum ausgeführten Kunstwerk vor allem „ein Bewerbungsstück“ (Warnke 1997, S. 110) des einundzwanzigjährigen Malers, mit dem er seine Originalität unter Beweis stellen und sich im päpstlichen Rom potentiellen Auftraggebern empfehlen wollte. Seit dem 15. Jahrhundert war es übliche Praxis, dass Künstler unaufgefordert Arbeiten an Höfe oder Fürsten sandten, um sich in Erinnerung oder ins Gespräch zu bringen. Für Matthias Winner schließlich zeigt Parmigianinos Selbstbildnis „nichts anderes als das körperhafte Bild einer überdimensionalen Pupille“ (Winner 2005, S. 113), denn die flache Wölbung des hölzernen Malgrunds folge nicht dem steileren Reliefgrund eines Konvexspiegels, sondern ähnele proportional dem abgeflachten Profil des menschlichen Sehlochs.  

Literaturhinweise
Ferino-Pagden, Sylvia: Parmigianinos Selbstporträt: Materie und Reflex. In: Sylvia Ferino-Pagden (Hrsg.), Parmigianino und der europäische Manierismus. Silvana Editoriale, Mailand 2003, S. 43-55;
Haselstein, Ulla: Selbstporträts im Konvexspiegel: Parmigianino und Ashbery. In: Erika Greber/Bettine Menke (Hrsg.), Manier – Manieren – Manierismen. Gunter Narr Verlag, Tübingen 2003, S. 41-62;
Preimesberger, Rudolf: Giorgio Vasari: Ursprungslegende eines Selbstporträts (1550). In: Rudolf Preimesberger u.a. (Hrsg.), Porträt. Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren. Diettrich Reimer Verlag, Berlin 1999, S. 262-273;
Preimesberger, Rudolf: Parmigianino, Selbstbildnis im Konvexspiegel, 1523/24. In: Ulrich Pfisterer/Valeska von Rosen, Valeska (Hrsg.): Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Philipp Reclam, Stuttgart 2005, S. 50;
Warnke, Martin: Der Kopf in der Hand. In: Martin Warnke, Nah und Fern zum Bilde. Beiträge zu Kunst und Kunsttheorie. DuMont Buchverlag, Köln 1997, S. 108-120;
Winner, Matthias: Das ›O‹ von Lorenzo Lotto und Parmigianinos Selbstbildnis im Konvexspiegel. In: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 36 (2005), S. 93-116.

(zuletzt bearbeitet am 28. April 2023)

Donnerstag, 6. Oktober 2016

Bullige Majestät – Hans Holbeins Porträt Heinrichs VIII.


Hans Holbein: Heinrich VIII: (1536/37); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
(für die Großansicht einfach anklicken)
Der deutsche Maler Hans Holbein (1498–1638) war 1532 zum zweiten Mal nach England aufgebrochen, wo er sein Ziel, Hofmaler Heinrichs VIII. zu werden, spätestens 1536 erreichte. Als sein wohl wichtigster Auftrag gilt das Wandgemälde des Königs und seines Vaters, Heinrich VII., zusammen mit ihren Ehefrauen, Elisabeth von York und Jane Seymour (1537 entstanden). Ganzfigurig waren die vier Personen in einem kostbar ausgestatteten Renaissance-Architekturambiente zu Seiten eines Steinpodests mit umfangreicher Inschrift wiedergegeben. Das monumentale Gruppenporträt wurde allerdings 1698 durch einen Brand im Whitehall Palace völlig zerstört; es existiert jedoch eine Kopie aus dem 17. Jahrhundert, die eine genaue Vorstellung des verlorenen Originals vermittelt. Ein Entwurf Holbeins, der zur Ausführung des Wandbildes diente und sich erhalten hat, stimmt in Körperhaltung, Kleidung und Physiognomie sehr weitgehend mit einem kleinformatigen Porträt Heinrichs VIII. überein, das sich heute im Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid befindet.
Kopie des 1698 zerstörten Holbein-Wandbildes in Whitehall Palace (1667 angefertigt);
Hampton Court Palace, The Royal Collection
Holbeins Bildnis, das den König als nah an den Vordergrund gerückte Halbfigur zeigt, ist mit großer feinmalerischer Präzision ausgeführt. Oberkörper und Kopf sind leicht nach rechts gewandt, der Blick jedoch richtet sich direkt nach vorne auf den Betrachter. Wir sehen eine gedrungene Gestalt mit breiten Schultern vor uns – ein Eindruck, den der ausladende Schnitt der ärmellosen Schaube mit ihrem breiten Pelzbesatz noch verstärkt. Der Oberkörper wird von den seitlichen Bildrändern angeschnitten, ebenso an der unteren Bildkante der angewinkelte rechte Arm und die ringgeschmückten Hände, „die durch die Körperdrehung aus der Mittelachse nach rechts verschoben sind“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 378). In seiner Rechten hält Heinrich einen einzelnen Handschuh. Holbein „schafft mit der bildparallelen Führung des Armes und der »Reihung« der Hände einen festen Riegel, der die Figur zum Außenraum hin hermetisch abgrenzt“ (Buck 1997, S. 84).
Während der Oberkörper wie ein massiver Sockel wirkt, ragt der Kopf, der auf einem kurzen, feisten Hals sitzt, frei vor dem einfarbig mit leuchtendem Blau bemalten Hintergrund auf. Das juwelenbesetzte schwarze Barett, über dessen Rand sich eine weiße, flaumige Straußenfeder biegt, stößt an die obere Bildgrenze. Der flache Hut wirkt auf dem massigen Kopf mit seiner bulligen Kinnpartie und dem Stiernacken geradezu zierlich, setzt aber mit seiner schwungvollen Schräge „in dem strengen Achsensystem von Horizontalen und Vertikalen einen belebenden Akzent“ (Buck 1997, S. 85). Der König, erkennbar von beträchtlicher leiblicher Fülle, scheint den engen Bildraum des sehr kleinen Formats (28 x 20 cm) fast zu sprengen und demonstriert „körperliche Dominanz“ (Buck 1997, S. 93).
Der glatt gespannte, silberfarbene Stoff des langärmeligen Obergewandes hat trotz der zahlreichen Schlitze, die das gebauschte Hemd sichtbar werden lassen, eine geradezu metallische Anmutung. Das Wams ist in der Taille straff gegürtet und mit goldgefassten Rubinen besetzt; vertikal verlaufende Bordüren zeigen ein in sich verschlungenes florales Ornament. Der goldbestickte, enge Kragen des weißen Hemdes ist faltenlos um den Hals des Königs nach oben geführt und schließt exakt mit dem Haaransatz ab. „So wird der Kopf korsettartig gestützt“ (Buck 1997, S. 86) und die Konzentration des Betrachters ganz auf das Gesicht gelenkt. Heinrich trägt eine prunkvolle modische Renaissancetracht und keinesweg Königsornat. Neben dem Braun des Pelzes und dem dunklen Rot der Rubine weist die aus Gold- und Silberstoffen bestehende Kleidung keine weiteren Farben auf. Um den Hals liegt eine lange, schmale Kette, deren Glieder in regelmäßigen Abständen durch Heinrichs Initiale unterbrochen werden. Zwei der Rubine schließen das an dieser Kette angebrachte Medaillon ein.
Körperliche Dominanz auf engstem Raum
Pose und Ausdruck Heinrichs VIII. haben vermuten lassen, „es könne sich um eines jener Bildnisse gehandelt haben, die als Geschenke an die europäischen Höfe geschickt wurden, als Beweis dynastischer oder vertraglicher Verbundenheit“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 378). Da sich diverse Porträts zeitgenössischer Herrscher im Besitz des englischen Hofes befanden (darunter mehrere Bildnisse des französischen Königs Franz I.), ist anzunehmen, dass es entsprechende Gegenstücke, also Bilder Heinrichs, auch in anderen Fürstenhäusern gab. Die exquisite Ausführung verweist auf den hohen Anspruch und die gehobene Stellung von Auftraggeber und Empfänger. Das gilt ebenso für das kostbare Ultramarin, das Holbein für den Hintergrund verwendet hat. Stephanie Buck vertritt ganz explizit die Ansicht, Holbeins Bildnis sei für Franz I. bestimmt gewesen. In dessen Sammlungen hätte es sich bestens eingefügt, denn das französische Renaissanceporträt tendierte im Allgemeinen zum Kleinformat. Jean Clouet (1480–1541) hatte zudem in seinem Porträt des Königs Franz I. den Typus vorgegeben: knapper Brustausschnitt, klare Konturen, auffällige Flächigkeit und ausschließliche Konzentration auf den bildfüllenden Herrscher.
Jean Clouet: Franz I. (um 1530); Paris, Louvre
Denkbar ist aber auch, dass wir hier eines der Brautbewerbungsbilder des Königs vor uns haben, der zeit seines Lebens immer wieder auf der Suche nach einer neuen Ehefrau war. Auf jeden Fall hat Holbein mit diesem Porträt die Norm festgelegt für alle späteren Darstellungen des Königs und damit dessen öffentliche Erscheinung maßgeblich mitgeprägt.

Literaturhinweise
Bätschmann, Oskar/Griener, Pascal: Hans Holbein. DuMont Buchverlag, Köln 1997, S. 189;
Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei.  Hirmer Verlag, München 2002, S. 132;
Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010;
Buck, Stephanie: Holbein am Hofe Heinrichs VIII. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1997, S. 82-102.

(zuletzt bearbeitet am 1. Juli 2020) 

Dienstag, 20. September 2016

Rex triumphans – die romanische Kreuzigungsgruppe aus Innichen


Kreuzigungsgruppe aus der Stiftskirche in Innichen (um 1250; für die Großansicht einfach anklicken)
Foto: © Almbauer. CC BY-SA 3.0

Wenn man die stets von Touristen durchflutete Fußgängerzone im Südtiroler Innichen verlässt und die dortige romanische Stiftskirche betritt, wird man sogleich von einem wohltuenden Halbdunkel und einer erstaunlichen Stille umfangen. Das Beeindruckendste an diesem Kircheninnern ist allerdings eine im Altarraum angebrachte hölzerne Kreuzigungsgruppe aus dem 13. Jahrhundert (um 1250 entstanden). Zum ersten Mal begegnete ich ihr im Sommer 2011 – und es war tatsächlich eine besondere religiöse Erfahrung. Ich bin beim Anblick dieser Christusfigur in einem Maß zur Ruhe gekommen, wie ich das zuvor lange nicht mehr erlebt hatte und auch danach bislang nicht wieder. Davon am Schluss mehr.
Die der Gotik vorausgehende Kunstepoche der Romanik stellt den Gekreuzigten vor allem als Christus coronatus bzw. Christus victor dar, d. h. als einen über den Tod triumphierenden Christus. Dabei ist der Sohn Gottes meist in einer aufrecht stehenden, frontalen, unbewegt-symmetrischen Haltung am Kreuz befestigt; die Füße sind nebeneinander gesetzt. Mimik und Körper zeigen keinerlei Spuren von Folter oder Schmerz; das Haupt, auf dem oft eine Krone sitzt, ist in gerader Haltung erhoben, die Augen sind offen, das Antlitz ist das eines Lebenden. Diese Triumphkreuze sind in der Regel überlebensgroß; meist wurden sie hoch oben an eisernen Ketten aufgehängt oder auf einen hölzernen Balken montiert, ebenfalls in beträchtlicher Höhe. „Die Triumphkreuze beherrschten als eschatologisches Zeichen des Sieges und Triumphes Christi an markanter Stelle den Kirchenraum“ (Beer 2005, S. 25).
Nur wenige Triumphkreuze sind noch in ihrem ursprünglichen architektonischen Zusammenhang anzutreffen, selbst wenn sie sich noch an ihrem Ursprungsort befinden. Die nördlich der Alpen entstandenen Triumphkreuze sind meist als Skulptur gestaltet bzw. als Skulpturengruppen. Auf italienischem Boden dagegen überwiegt bei den Triumphkreuzen eindeutig die Form der croci dipinti. Gemalte Triumphkreuze in der Art von Tafelkreuzen gibt es im Norden nur in wenigen Ausnahmefällen.
Auch das Triumphkreuz in Innichen ist überlebensgroß: Der Corpus des Gekreuzigten ist 250 cm hoch (mit Suppedaneum). Seine Arme sind in leicht geschwungener Linie fast horizontal ausgespannt, die ausgestreckten Hände knicken im Handgelenk ein wenig nach unten. Christi Oberkörper ist extrem lang und schmal gearbeitet; über einer eingeschnittenen Thoraxlinie sind die seitlich anschließenden Rippen ornamental eingeritzt. Eine tiefe, rundum laufende Kerbe markiert den Halsansatz. Ein mehrfach gedrehter Hüftwulst mit großem Knoten hält das scheinbar dünne Lendentuch, das zahlreiche Plissefalten strukturieren. Besonders über dem rechten Knie, wo der Stoff etwas höher liegt, ist die Fältelung sehr dicht und die Saumkante bewegt. Der linke Oberschenkel zeichnet sich dagegen erkennbar unter dem eng anliegenden Tuch ab, während eine diagonale Saumkante das Knie bedeckt.
Das längliche Antlitz Jesu wird von einer hohen, vierzackigen Lilienkrone bekrönt, die über den großen Ohrmuscheln ansetzt. Der Blick der weit geöffneten Augen ist geradeaus gerichtet. Unter den hochgezogenen Brauen liegen große, etwas mandelförmige Augäpfel; die Nase ist lang und gerade, der Nasenrücken leicht abgeflacht. Der geschlossene Mund sitzt über einem mittig geteilten Kinn, ein Oberlippenbart mit spitzen Enden sowie ein Backenbart aus regelmäßigen Rundlöckchen vervollständigen die Physiognomie. Auf jeder Schulter liegt eine dünne Haarsträhne auf.
Christus als der neue Adam steht auf dem Kopf des ersten Adam
Als Suppedaneum dient Christus ein menschlicher Kopf – es ist der Kopf Adams, durch den der Tod in die Welt kam, weil mit ihm und vorgezeichnet von ihm alle Menschen gesündigt haben (Römer 5,12). Christus als der neue oder auch der „zweite“ bzw. der „letzte Adam“ (1. Korinther 15,45, LUT) hat jedoch – so die theologische Aussage – durch seinen in freier Hingabe erlittenen, stellvertretenden Sühnetod den Tod für alle Menschen überwunden.
Das Auflagekreuz ist nicht mehr original
Die beiden Assistenzfiguren Maria und Johannes stehen in blockhafter Strenge unter den ausgebreiteten Armen Christi, als ständen sie unter seinem Schutz. Ihre Köpfe sind leicht nach vorn und nach unten geschoben. Das ungegliederte, fest anliegende Haupthaar des Johannes fällt hinter den großen Ohren in den Nacken herab; Haar und Schultern Marias werden von einem Maphorion bedeckt. Maria hat die erhobenen Hände überkreuzt und flach auf die Brust gelegt. Sie ist mit einem Poncho-artigen Überziehmantel bekleidet, Paenula genannt, sowie einem Untergewand, das gerade bis zu den beschuhten Füßen herabfällt. Johannes trägt über einem Untergewand mit weiten Ärmeln eine Art Tunika, die über der rechten Schulter liegt, über die Rückseite nach vorne führt und unter dem rechten Arm hochgerafft wird. Mit der Linken hält der Jünger Jesu ein kleines Buch an seine Brust, die Finger der rechten Hand liegen auf dessen Oberkante: Mit ihm ist wohl das von Johannes verfasste Evangelium gemeint.
Johannes und Maria: blockhaft streng in gefasstem Schmerz
Die Ausstrahlung Christi, dieses königlichen Überwinders, der wirkt, als hätte er sich selbst, ganz aus freien Stücken an das Kreuz gestellt, hatte damals für mich etwas ungemein Trostreiches. War ich tief verzagt oder sehr aufgewühlt, ich kann es nicht mehr genau sagen – ich empfand den Anblick Jesu jedenfalls als Einladung, mich mit unter seine ausgebreiteten Arme zu stellen und wie Maria und Johannes göttlichen Frieden zu empfangen.
Kreuzigungsgruppe (um 1160/1180); Bologna, San Pietro
In der Krypta des Doms von Bologna befindet sich eine Triumphkreuz-Gruppe, die sowohl stilistisch als auch vom Typus her eng mit dem Skulpturen-Ensemble in Innichen verbunden ist. Sie dürfte zwischen 1160 und 1180 entstanden sein. Auch hier sind die Figuren streng frontal ausgerichtet, wirken allerdings schlanker; Maria und Johannes scheinen ganz in sich versunken, was durch die geschlossene Umriss-Silhouette betont wird, und zeigen, zugunsten einer gänzlich hieratischen Darstellung, keinerlei emotionale Bewegung. 
Triumphkreuz (um 1200); Wien, Belvedere
Eine erkennbare Verwandtschaft ist auch bei einem um 1200 datierten Tiroler Holzkruzifix gegeben, das heute im Wiener Belvedere aufbewahrt wird. Die 88,5 cm hohe Figur wird zwar ebenfalls frontal präsentiert, der Kopf jedoch neigt sich leicht zur linken Seite, während sich die Hüfte nach rechts biegt und die Oberschenkel in die Gegenrichtung pendeln.

Glossar
Maphorion: Schleier, der auf bildlichen Darstellungen Haar und Schultern der Mutter Jesu bedeckt
Suppedaneum: Fußbrett bei einer Kreuzigung

Literaturhinweise
Beer, Manuela: Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert. Verlag Schnell & Steiner, Regensburg: Schnell & Steiner 2005, S. 651-656;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 25. April 2024)

Montag, 19. September 2016

Ein Bild nur für zwei – „Das Pelzchen“ („Het Pelsken“) von Peter Paul Rubens


Peter Paul Rubens: Das Pelzchen (um 1638); Wien, Kunsthistorisches Museum
Es gehört zu den Glanzstücken des Kunsthistorischen Museums in Wien: Peter Paul Rubens’ ganzfiguriges, nahezu lebensgroßes Porträt seiner zweiten Ehefrau Hélène Fourment, vom Künstler selbst Het Pelsken genannt („Das Pelzchen“, um 1638 entstanden). Der bereits 55-jährige flämische Maler hatte die Sechzehnjährige im Dezember 1630 geheiratet; seine erste Frau Isabella war 1626 mit 36 Jahren ein Opfer der Pest geworden. Hélène schenkte vier Kindern das Leben: 1632, 1633, 1635 und 1637; das fünfte kam erst nach Rubens’ Tod 1640 zur Welt.
Eine junge Frau steht uns in leichter Schrittstellung und nach rechts gewandt gegenüber, in einer Haltung zwischen Schreiten und Innehalten, den Blick auf den Betrachter gerichtet. Ihr schulterlanges gelocktes Haar wird von einem weißen Band geziert; an den Ohren trägt sie Anhänger, an denen rechts eine leuchtend weiße Perle aufblitzt. Sie ist nackt, doch hat sie sich einen Pelzmantel um den Körper geschlungen, den sie mit graziler Geste festhält; unter dem mit einer breiten Goldstickerei gesäumten Pelz ist noch ein zarter weißer, durchsichtiger Stoff zu erkennen.
Mit ihren bloßen Füßen steht das Mädchen auf einem roten Teppich, der den Blick des Betrachters nach rechts und aus dem Bild heraus führt. Der Bildraum, in dem es sich befindet, ist nicht eindeutig bezeichnet. Er ist dunkel getönt und vermischt sich stellenweise übergangslos mit dem satten Braun des Pelzmantels. An zwei Stellen ist er jedoch aufgehellt: hinter dem Mantelärmel am linken Bildrand und oberhalb des Teppichs. Schemenhaft zeichnen sich die Konturen eines Brunnenbeckens ab, das mit einer Löwenmaske geschmückt ist. Aus seinem Maul fließt ein Wasserstrahl, der nur durch wenige Lichtreflexe angedeutet wird. Direkt darunter liegt ein rotes, mit Quasten verziertes und von den Bildrändern überschnittenes Samtkissen auf dem Teppich.
Der Brunnen könnte darauf verweisen, dass Rubens seine junge Frau in einem Rollenporträt dargestellt hat: nämlich entweder als Susanna im Bade (eine Geschichte aus den apokryphen Schriften des Alten Testaments; Daniel 13,1-64) oder als die von König David begehrte Bathseba (2. Samuel 11). „Insbesondere der rote Teppich und das Kissen verstärken diesen Eindruck, die im biblischen Bildthema eine Herrscherikonographie implizieren“ (Ecker/Pataki 2007, S. 113). Allerdings zeigt Hélène weder die Unbekümmertheit einer Bathseba, die sich beim Baden unbeobachtet glaubt, noch lässt sich das Erschrecken der Susanna erkennen, die ihre heimlichen Beobachter entdeckt.
Hélène hat den linken Arm um ihren Bauch gelegt und hält mit ihrer Hand den Ärmel des schweren Pelzmantels – wobei durchaus unklar bleibt, ob sie ihre Blöße bedecken will oder im Begriff ist, ihren „Sichtschutz“ loszulassen. Auch die Finger ihrer rechten Hand, die scheinbar den über der linken Schulter liegenden Mantelkragen fassen, könnten ihn ebenso gut im nächsten Moment ganz von sich schieben. Das Ergebnis ist ein verheißungsvoller Schwebezustand.
Kapitolinische Venus; Rom, Musei Capitolini
Diese Verheißung wird noch durch die Haltung der Arme gesteigert: Während Frauengestalten wie die Kapitolinische Venus (siehe meinen Post „Aphrodite – knidisch und kapitolinisch“) oder die apokryphe Susanna überrascht oder schamhaft aus dem Bade steigen, macht Hélène keineswegs den Versuch, mit Hilfe ihrer Arme und Hände die Brüste oder ihre Scham zu bedecken. Ganz im  Gegenteil: Durch den unter den Busen gelegten rechten Arm werden die Brüste angehoben und dem Betrachter regelrecht kokett-lustvoll präsentiert. Seit der Frühen Neuzeit dienten Darstellungen der sich unbeobachtet wähnenden Susanna und Bathseba nicht mehr nur der moralischen Unterweisung – sie boten vor allem die Möglichkeit, dem Betrachter im Mantel einer biblischen oder mythologischen Erzählung einen nackten weiblichen Körper zu zeigen. Rubens’ Ehefrau dagegen präsentiert sich „ihrem Voyeur“ in vollem Bewusstsein ihrer körperlichen Reize und Verführungskraft. Dabei verrät Hélènes aus dem Bild gerichteter Blick, dass sie ihren Betrachter sehr wohl wahrnimmt – sie sieht ihn ebenso offen wie lockend an.
Peter Paul Rubens: Das Urteil des Paris (1636); London, National Gallery

In dem späten Gemälde Das Urteil des Paris (1636; London, National Gallery) trägt die Göttin Juno einen ähnlichen Pelzmantel wie Hélène in Het Pelsken: Verheißungsvoll lässt sie ihn herabgleiten, um sich wie Venus und Minerva vor Paris zu entblößen – er soll entscheiden, wer die Schönste von ihnen ist. Auch die Bathseba in der Dresdner Gemäldegalerie (um 1635) stellt der Maler mit einem solchen Mantel – hier um die Hüften geschlungen – beim Baden dar. Diese Werke belegen, „daß Rubens um das erotische Potential der partiellen Verhüllung eines nackten Frauenkörpers mit einem Pelz wußte und bewußt in seinen Bildern einsetzte“ (Ecker/Pataki 2007, S. 117).

Peter Paul Rubens: Bathseba (um 1635); Dresden, Gemäldegalerie Alter Meister
Die erotische Komponente in Het Pelsken ist unübersehbar und beschränkt sich nicht nur auf den reizvollen Kontrast von dunklem Fell und weicher, heller Haut. Denn dass gerade ein Pelz die Scham der Frau verdeckt, kann man auch als pikante Anspielung verstehen: „Mit dem Titel Het Pelsken verweist Rubens nicht nur auf eine ,kleine Frau im Pelz‘, sondern macht gleichsam das ,kleine Pelzchen‘ der Frau als den erotischen Mittelpunkt des Gemäldes zum intimen Bildthema“ (Ecker/Pataki 2007, S. 119). Dabei erinnern besonders die überdeutlich ausgestellten Brüste an bereits erlebte erotische Freuden bzw. laden zu neuerlichen ein. Die beiden Arme Hélènes sind also nicht um den Körper geführt, um ihn notdürftig zu bedecken, es handelt sich vielmehr um eine Geste „des zärtlichen Werbens, der suggestiven Vorwegnahme einer liebenden Umarmung“ (Feghelm 2005, S. 91).
Rubens hatte seiner Frau das freizügige Porträt testamentarisch vermacht, um es nach seinem Tod bewust nicht in die Erbmasse eingehen zu lassen. Dadurch ist der private Charakter des Gemäldes belegt, ebenso wie durch den vom Künstler selbst gewählten intimen Bildtitel. Es trägt den Stempel von tatsächlich gelebter Sexualität. Hélènes verführerisches Spiel des Ver- und Enthüllens ist an keine mythologische oder biblische Figur adressiert – es gilt niemand anderem als dem Betrachter des Bildes, ihrem eigenen Ehemann. Rubens selbst gehört also unbedingt mit zum Bild, er ist das Gegenüber in diesem erotischen Dialog, und Hélène kokettiert völlig legitim mit ihm. Es spricht viel dafür, dass der Maler-Gatte schon bald an die Stelle des Kleidungsstückes treten wird, der sich um den Leib der jungen, begehrenswerten Frau schmiegt ... Wir heutigen Betrachter sind nicht gemeint – Het Pelsken war nie für den öffentlichen Blick gedacht.  
Die Katholikin Hélène Fourment wiederum dürfte das Bild als „pictorial embodiment of the marital union (Thøfner 2004, S. 17) mit ihrem Ehemann gesehen haben; in späteren Jahren diente es ihr vielleicht „as a memento of the pleasures of their marriage (Thøfner 2004, S. 15). In diesem Zusammenhang sind denn auch Hélènes errötete Wangen und ihre deutlich aufgerichteten Brustwarzen zu sehen: „Such delicate pictorial hints of female arousal suggest that the woman in Het Pelsken is indeed showing the bashful signs of wifely sexual willingness (Thøfner 2004, S. 19).
Kristin Lohse Belkin hat darauf hingewiesen, dass es sich bei dem um Hélènes Stirn  und über den Kopf gespannten weißen Tuch um ein bandon handelt: Es sollte der Faltenbildung vorbeugen und war deswegen manchmal mit einer Creme versehen. Man trug es aber nicht nur nachts, sondern auch in Zeiten der Krankheit und im Wochenbett. „The inclusion of Helenas bandon should be seen as part of the frank portrayal of her body, with all its imperfections“ (Lohse Belkin 2006, S. 305). Unter diesem Aspekt stellt sie Rubens Bildnis Rembrandts berühmte Sitzende nackte Frau von 1631 an die Seite, an deren Körper deutlich die Spuren des getragenen Korsetts und ihrer Strumpfbänder zu erkennen sind. „Helena’s opulent flesh, the cupping of her rounded stomach and full breasts signify her several pregnancies, including possibly a very recent one. In this context, the head-dress with the bandon conveys perfectly the intimacy between husband and wife“ (Lohse Belkin 2006, S. 308/309). Auch für Margit Thøfner verweisen die vollen Brüste der jungen Frau nicht nur auf sexuelle Freuden, sondern ebenso auf ihre mehrfache Mutterschaft: „Helena may have seen the breasts in Het Pelsken as celebrating her own fertility (Thøfner 2004, S. 22).
Rembrandt: Sitzende nackte Frau (1631); Radierung
Tizian: Mädchen im Pelz (1535); Wien, Kunsthistorisches Museum
Als Anregung für Het Pelsken könnte Tizians Mädchen im Pelz (1535) gedient haben, das Rubens in der Sammlung Karls I. in England gesehen und auch kopiert hatte. Tizians Gemälde ist heute ebenfalls im Kunsthistorischen Museum Wien ausgestellt. „Rubens transformed this idealized renaissance nude into a body of flesh and blood (...), with folds of skin under the arms and on the belly, cushions of fat around the knees and breasts that yield easily to the touch“ (De Clippel 2010, S. 142).
Peter Paul Rubens: Die drei Grazien (1635); Madrid, Museo del Prado
Rubens hat seine zweite Frau übrigens mit Vorliebe als Modell für die unterschiedlichsten Frauengestalten in seinen Gemälden eingesetzt: Hélène erscheint etwa als siegreiche Venus in dem bereits genannten Urteil des Paris, als eine der drei Grazien, als widerspenstige Beute eines Satyrs oder als Hagar in der Wüste. 1644, vier Jahre nach dem Tod ihres ersten Mannes, heiratete Hélène erneut: Sie wurde die Frau von Jan Baptist de Broechoven, einem angesehenen Antwerpener Patrizier – und gebar in dieser Ehe weitere sechs Kinder. Hélène starb 1673 in Brüssel im Alter von 59 Jahren.

Literaturhinweise
De Clippel, Karolien: Naked or not? Some thoughts on nudity and portraiture in seventeenth-century-painting. In: Katlijne van der Stighelen u.a. (Hrsg.), Pokerfaced. Flemish and Dutch Baroque Faces Unveiled. Brepols Publishers, Turnhout 2010, S.141-161;
Ecker, Diana/Pataki, Zita Ágota: Phantasie im Pelz – Bemerkungen zu Rubens’ Het Pelsken. In: Eveliina Juntunen/Zita Ágota Pataki (Hrsg.), Rubens im Blick. Ausgewählte Werke unter Re-vision. ibidem-Verlag, Stuttgart 2007, S. 109-136;
Feghelm, Dagmar: »... Helenen in jedem Weibe«. In: Dagmar Feghelm/Markus Kersting, Rubens – Bilder der Liebe. Prestel Verlag, München 2005, S. 69-91;
Held, Julius S.: Het Pelsken. In: Julius S. Held, Rubens-Studien. E.A. Seemann Verlag, Leizig 1987, S. 64-72; 
Lohse Belkin, Kristin: ‘La belle Hélène’ and Her Beauty Aids: A New Look at ‘Het Pelsken’. In: Katlijne Van der Stighelen (Hrsg.), Munuscula Amicorum. Contributions on Rubens and His Colleagues in Honour of Hans Vlieghe. Band I. Brepols Publishers, Turnhout 2006, S. 299-310;
Mai, Ekkehard/Vlieghe, Hans (Hrsg.): Von Bruegel bis Rubens. Das goldene Jahrhundert der flämischen Malerei. Verlag Locher, Köln 1992, S. 408-409;
Poeschel, Sabine: Starke Männer, schöne Frauen. Die Geschichte des Aktes. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2014, S. 101;
Schug, Albert: »Helenen in jedem Weibe« – Helene Fourment und ein besonderer Porträttypus im Spätwerk von Peter Paul Rubens. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 46/47 (1985/86), S. 119-164;
Thøfner, Margit: Helena Fourments Het Pelsken. In: Art History 27 (2004), S. 1-34;
von Simson, Otto: Peter Paul Rubens (1577–1640). Humanist, Maler und Diplomat. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1996, S. 347-348.

(zuletzt bearbeitet am 18. Juli 2024)

Sonntag, 21. August 2016

Wenn Blicke töten können – Caravaggios „Haupt der Medusa“


Caravaggio: Haupt der Medusa (1597/98); Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
Der antike Dichter Ovid erzählt in seinen Metamorphosen (IV, 753-803), dass die wunderschöne Medusa, eine der drei Gorgonen-Schwestern, von Poseidon im Tempel der Athene vergewaltigt wird. Athene, Zeugin der Tat, bestraft daraufhin – nicht den Täter, sondern Medusa, indem sie sie in ein hässliches Ungeheuer mit Schlangenhaaren, langer Zunge und glühenden Augen verwandelt. Fortan genügt ein Blick in ihre Augen, um versteinert zu werden. Dem Göttersohn Perseus gelingt es, sich der schlafenden Medusa zu nähern und ihr den Kopf abzuschlagen – er nutzt dazu eine Tarnkappe, einen Spiegelschild und geflügelte Schuhe. Mit dem Medusenhaupt an seinem Schild, dessen versteinernde Wirkung anhält, besiegt Perseus danach zahlreiche Feinde und schenkt den Kopf schließlich Athene.
Caravaggio (1571–1610) hat das soeben abgeschlagene, schlangenbesetzte Haupt der Medusa 1597/98 auf einen Prunkschild gemalt (genauer: auf ein schildförmiges, mit Leinwand überzogenes Stück Pappelholz). Das Gemälde stellt also dar, was es zugleich ist. In Auftrag gegeben wurde das Werk von Kardinal del Monte als Geschenk für Ferdinando I.; es war für die neue Waffenkammer des Großherzogs bestimmt. Der Kardinal gehörte zu den frühen Förderern Caravaggios – Ende 1595 hatte er den Maler für fünf Jahre als Mitglied des Haushalts in seinen Palazzo aufgenommen.
Mund und Augen der Medusa sind weit aufgerissen, Blutströme schießen aus dem Hals, ihr letzter grauenhaft verzerrter Blick erscheint wie eingefroren, „fixiert den Betrachter mit eindringlicher Direktheit und droht diesen seinerseits zu versteinern“ (Schütze 2009, S. 72). Was Caravaggio auf seinem Schild zeigt, ist das Spiegelbild der Medusa, in dem die Sterbende sich selbst erblickt – Perseus nutzte ihn, um sein Gegenüber nicht direkt ansehen zu müssen. Klaus Krüger hat die bildlichen Paradoxien benannt, mit denen Caravaggio den Betrachter irritiert: „Die Darstellung verkörpert ein akutes Hier und Jetzt und manifestiert sich doch zugleich als ein vergangenener Moment, derjenige der Enthauptung; sie setzt einen Schrei in Szene, dessen Hörbarkeit indes unhörbar ist; sie zeigt ein erstarrtes Leben und eine lebendige Erstarrung, einen höchst lebhaft-reaktiven Blick, der gleichwohl ohne innere Regung wie ins Leere gerichtet ist“ (Krüger 2006, S. 26).
Um die Verkürzungen des Spiegelbildes auf dem konvexen Malgrund überzeugend abbilden zu können, dürfte sich der Maler eines schildförmigen Spiegels bedient haben (eines „scudo a specchio“), der zu seinem Hausstand gehörte und auch in dem Gemälde Die Bekehrung Maria Magdalenas erscheint (siehe meinen Post Erleuchtet von göttlicher Gnade“). Wahrscheinlich hat Caravaggio für das Medusenhaupt sein eigenes Antlitz in diesem Spiegel studiert.
Caravaggio: Die Bekehrung Maria Magdalenas (1598/99); Detroit, The Detroit Institute of Art
Der römische Barockmaler maß sich bei der Wahl seines Themas mit keinem Geringerem als Leonardo da Vinci (1452–1519): Der berühmte Renaissance-Künstler hatte nämlich gleichfalls einen mit einem Medusenhaupt geschmückten Schild geschaffen, der zu den mediceischen Sammlungen gehörte, jedoch seit 1587 verschollen war. Caravaggios Medusenschild sollte den von Leonardo ersetzen – und natürlich wollte der junge Künstler den großen Meister übertreffen. Zugleich erinnerte Caravaggio mit seinem abgeschlagenen Gorgonenhaupt an Benvenuto Cellins bekannte Bronzestatue des Perseus auf der Pizza della Signoria in Florenz (siehe meinen Post „Cellinis Medusentöter“).
Benvenuto Cellini: Perseus (1554-1554); Florenz, Piazza della Signoria
Caravaggio stellt mit seinem Schild nicht nur den Medusa-Mythos dar, sondern demonstriert auch die Wirkmacht seiner Malkunst: Er hat den entsetzten, immer noch versteinernden Blick der Medusa im Spiegel des Schildes festgehalten „und dabei mit solch dramatischer Lebendigkeit versehen, dass der staunende Betrachter vor Schrecken und Bewunderung vor dem Bild erstarrt“ (Schütze 2009, S. 72).
Giambattista Marino (1569–1625) hat das Gemälde in einem Madrigal seiner Galeria (1619) beschrieben und als Allegorie der militärischen Tugenden Ferdinandos de’ Medici gedeutet:

La testa di Medusa in una rotella
di Michelagnolo da Caravaggio
nella Galeria del Gran Duca di Toscana

Hor quai nemici fian, che freddi marmi
Non diuengan repente
In mirando, Signor, nel vostro scudo
Quel fier Gorgone, e crudo,
Cui fanno orribilmente
Volumi viperini
Squallida pompa e spauentosa ai crini?
Ma che! Poco l’armi
A voi sia d’huopo il formidabil mostro,
Che la vera Medusa è il valor vostro.


Das Haupt der Medusa auf einem Schild
von Michelangelo da Caravaggio,
in der Galerie des Großherzogs von Toskana

Nun, was für Feinde wären das, die nicht sofort
zu kaltem Stein würden,
wenn sie, Herr, auf eurem Schild
jene stolze und grausame Gorgo betrachten,
der auf schreckliche Weise
ein Gewirr von Vipern
einen hässlichen und furchtbaren Haarschmuck bildet?
Doch was! Von geringerem Nutzen
ist euch im Kampf das schreckliche Ungeheuer:
denn die wahre Medusa ist euer Mut.

(übersetzt von Christiane Kruse und Rainer Stillers; aus Giambattista Marino, La Galeria. Zweisprachige Auswahl. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2009, S. 50/51)

Eine Enthauptung mit schreckensweiten Augen und aufgerissenem Mund hat Caravaggio etwa zeitgleich auch in seinem Gemälde Judith und Holofernes wiedergegeben (siehe meinen Post „Barock-Splatter“). Beide Bilder belegen das Interesse des Künstlers an heftigen Affekten, die sich besonders im Gesichtsausdruck zeigen; ein erstes Beispiel hierfür ist sein frühes Werk Jüngling, von einer Eidechse gebissen.
Caravaggio: Judith und Holofernes (1598/99); Rom, Galleria Nazionale dArte Antica
Caravaggio: Jüngling, von einer Eidechse gebissen (1593/94); Florenz, Fondazione Longhi
Constanze Hager hat jüngst noch eine alternative Deutung zu Caravaggios Medusenschild vorgestellt: Der Maler zeige nicht die gespiegelte Enthauptung Medusas, sondern das Gorgoneion selbst, also das tatsächliche Medusenhaupt auf dem Schild der Göttin Athene. „Wäre eine Spiegelung gemeint, ließe sich erwarten, dass die Umgebung, in der die Gorgo sich bei ihrer Enthauptung befand, mitgespiegelt würde“ (Hager 2016, S. 48); die konvexe Oberfläche des Malgrundes müsste außerdem, so Hager, ein deutlich konvex verzerrtes Spiegelbild zur Folge haben. Da keine Details darauf hinwiesen, dass es sich bei Caravaggios Gemälde um ein spiegelndes, metallisches Schild handele, wäre es naheliegend, es als das hölzerne Schild zu betrachten, das es tatsächlich ist“ (Hager 2016, S. 49). Das abgebildete Medusenhaupt sei daher als plastischer Kopf zu verstehen, der auf einen grünen Schild geheftet ist und auf diesen einen Schatten wirft“ (Hager 2016, S. 50). Durch Schatten und Blutwunde verdeutliche Caravaggio, dass es sich bei dem Gorgonenhaupt um einen abgetrennten Kopf handelt.
Caravaggios Medusa ist – wie könnte es anders sein – auch tiefenpsychologisch interpretiert worden: In dem kurzen Aufsatz „Das Medusenhaupt“ von 1922  deutet Sigmund Freud den abgeschlagenen Kopf der Gorgo als Symbol für die männliche Kastrationsangst. Die Zahnreihe im weit geöffneten Mund wiederum erinnert an den Mythos der vagina dentata („bezahnte Vagina“), den Freud ebenfalls mit der Kastrationsangst in Verbindung bringt.

Literaturhinweise
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 103-106;
Hager, Constanze: Caravaggios Medusenschild von 1598 – ein Gorgoneion? In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 97 (2016), S. 62;
Harten, Jürgen/Martin, Jean-Hubert (Hrsg.): Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2006, S. 256-257;
Hibbard, Howard: Caravaggio. Thames and Hudson, London 1983, S. 67-69;

Krüger, Klaus: Das unvordenkliche Bild. Zur Semantik der Bildform in Caravaggios Frühwerk. In: Jürgen Harten und Jean-Hubert Martin (Hrsg.), Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2006, S. 24-35;

Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011.

(zuletzt bearbeitet am 30. November 2024)