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Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1602); Rom, San Luigi dei Francesi/ Contarelli-Kapelle (für die Großansicht einfach anklicken) |
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Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1599), Kriegsverlust |
Auf diesem Gemälde, das wahrscheinlich im
Zweiten Weltkrieg in Berlin verbrannt ist, war ein bäurisch anmutender
Evangelist in einfachem Kittel zu sehen, ein bärtiger Kahlkopf, barfüßig, von gedrungener Gestalt, mit muskulösen Armen und Beinen. Matthäus, in leichter Aufsicht und vor ungestaltetem tief schwarzen Hintergrund dargestellt, hat sich in einem nicht näher bestimmten Umraum auf einem klappbaren Lehnstuhl (einem sogenannten „Sgabello di Savonarola“) niedergelassen. Sein kurzes, von der frühen Forschung als dunkelgrün beschriebenes Gewand entblößt seine Beine weit über die Knie, die auch durch den hellroten, über dem Stuhl liegenden Umhang nicht bedeckt sind. Die Stirn angestrengt in Falten
gelegt, die Augen weit aufgerissen und die nackten Beine
übereinandergeschlagen, liegt ein Foliant auf seinem linken Oberschenkel, auf dem deutlich hebräische Schriftzeichen zu erkennen sind. Alle Muskeln sind angespannt, am rechten Arm treten sogar die Adern hervor; die Finger liegen derart zusammengepresst auf der Buchseite und halten die Feder so flach, dass Matthäus als ebenso ungeübter wie unbeholfener Schreiber erscheint. Der linke Fuß wirft einen kräftigen Schatten und streckt sich uns so weit entgegen,
dass er die „ästhetische Grenze“, also die Bildgrenze zum Betrachterraum hin, zu durchstoßen scheint.
Neben Matthäus steht ein hell gewandeter jugendlicher Engel in anmutigem Kontrapost und mit großen weißen Schwanenflügeln, der ganz ähnlich auch auf Caravaggios früherem Gemälde Die Heilige Familie auf der Flucht als Musikant erscheint. Das verlorene Bild aus Berlin bezieht seinen besonderen Reiz aus der direkten Gegenüberstellung des grobschlächtigen Evangelisten mit der androgynen Zartheit des Engels, der ihm zur Seite getreten ist. Er hat die Augen halb geschlossen und den Mund, in dem sich die Zunge abzeichnet, leicht geöffnet; sein transparenter Umhang entblößt das linke Bein bis weit über die Hüfte und gibt den Blick auf den Bauchnabel frei. „Nimmt man die Schrittstellung und Körperwendung des Engels beim Wort, so scheint diese Haltung noch den Schwung der soeben erfolgten Herabkunft auszudrücken, die unmittelbare göttliche Reaktion auf das Stocken der Inspiration bei Matthäus“ (Schauerte 2007, S. 248).
Der mit langem gelockten Haar versehene Engel hat die Fingerspitzen seiner Rechten mit leichtem Druck auf die klobige Hand des Evangelisten gelegt, um ihm beim Niederschreiben der allzu groß geratenen hebräischen Buchstaben die Hand zu führen. Nimmt Matthäus den himmlischen Boten überhaupt wahr? Ungläubig, ja fast erschrocken starrt er auf die Schriftzeichen, die da fast ohne eigenes Zutun auf der weißen Seite erscheinen. Es ist der Anfang des Stammbaums Jesu zu erkennen, der Abraham und David als Vorfahren Christi nennt und damit die „Königslinie“ seiner Herkunft betont (Matthäus 1,1). In der altkirchlichen Literatur wird davon gesprochen, dass Matthäus sein Evangelium auf Hebräisch verfasst habe. Allerdings liegen uns heute keine hebräischen Urtexte des Matthäus-Evangeliums vor – überliefert ist nur eine Fassung auf Griechisch.
Die Buchseiten sind die Fläche im Bild, die Caravaggio am stärksten aufgehellt hat. Sie befindet sich im Schnittpunkt der Bilddiagonalen; genau genommen liegt das geometrische Zentrum des Gemäldes exakt an jener Stelle, an der die Schreibhand des Matthäus das Papier berührt. Als zweites wesentliches Kompositionsprinzip sei auf die gegengleich geschwungenen Körperkonturen der beiden Figuren hingewiesen, die, von den Köpfen ausgehend, über Schultern und Oberschenkel bis hinab zu den Knien fast ein Vollrund beschreiben. „Die Mittelsenkrechte hingegen ist durch die Überschneidung der beiden Gesichtskonturen, den rechten Arm des Engels und wiederum durch die Schreibhand des Evangelisten angedeutet. Der linke Unterschenkel des Heiligen mit der leichten Untersicht seiner Fußsohle (...) bildet Fortsetzung und Abschluss dieser Linie und ist auf diese Weise tatsächlich der dem Betrachter am unmittelbarsten entgegentretende Bildgegenstand“ (Schauerte 2007, S. 249).
Neben Matthäus steht ein hell gewandeter jugendlicher Engel in anmutigem Kontrapost und mit großen weißen Schwanenflügeln, der ganz ähnlich auch auf Caravaggios früherem Gemälde Die Heilige Familie auf der Flucht als Musikant erscheint. Das verlorene Bild aus Berlin bezieht seinen besonderen Reiz aus der direkten Gegenüberstellung des grobschlächtigen Evangelisten mit der androgynen Zartheit des Engels, der ihm zur Seite getreten ist. Er hat die Augen halb geschlossen und den Mund, in dem sich die Zunge abzeichnet, leicht geöffnet; sein transparenter Umhang entblößt das linke Bein bis weit über die Hüfte und gibt den Blick auf den Bauchnabel frei. „Nimmt man die Schrittstellung und Körperwendung des Engels beim Wort, so scheint diese Haltung noch den Schwung der soeben erfolgten Herabkunft auszudrücken, die unmittelbare göttliche Reaktion auf das Stocken der Inspiration bei Matthäus“ (Schauerte 2007, S. 248).
Der mit langem gelockten Haar versehene Engel hat die Fingerspitzen seiner Rechten mit leichtem Druck auf die klobige Hand des Evangelisten gelegt, um ihm beim Niederschreiben der allzu groß geratenen hebräischen Buchstaben die Hand zu führen. Nimmt Matthäus den himmlischen Boten überhaupt wahr? Ungläubig, ja fast erschrocken starrt er auf die Schriftzeichen, die da fast ohne eigenes Zutun auf der weißen Seite erscheinen. Es ist der Anfang des Stammbaums Jesu zu erkennen, der Abraham und David als Vorfahren Christi nennt und damit die „Königslinie“ seiner Herkunft betont (Matthäus 1,1). In der altkirchlichen Literatur wird davon gesprochen, dass Matthäus sein Evangelium auf Hebräisch verfasst habe. Allerdings liegen uns heute keine hebräischen Urtexte des Matthäus-Evangeliums vor – überliefert ist nur eine Fassung auf Griechisch.
Die Buchseiten sind die Fläche im Bild, die Caravaggio am stärksten aufgehellt hat. Sie befindet sich im Schnittpunkt der Bilddiagonalen; genau genommen liegt das geometrische Zentrum des Gemäldes exakt an jener Stelle, an der die Schreibhand des Matthäus das Papier berührt. Als zweites wesentliches Kompositionsprinzip sei auf die gegengleich geschwungenen Körperkonturen der beiden Figuren hingewiesen, die, von den Köpfen ausgehend, über Schultern und Oberschenkel bis hinab zu den Knien fast ein Vollrund beschreiben. „Die Mittelsenkrechte hingegen ist durch die Überschneidung der beiden Gesichtskonturen, den rechten Arm des Engels und wiederum durch die Schreibhand des Evangelisten angedeutet. Der linke Unterschenkel des Heiligen mit der leichten Untersicht seiner Fußsohle (...) bildet Fortsetzung und Abschluss dieser Linie und ist auf diese Weise tatsächlich der dem Betrachter am unmittelbarsten entgegentretende Bildgegenstand“ (Schauerte 2007, S. 249).
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Caravaggio: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (1594); Rom, Galleria Doria Pamphilj |
Jutta Held ist der Meinung, Caravaggio gebe mit
dem Motiv des Engels, der dem Evangelisten die Hand führt, Matthäus als
Analphabeten zu erkennen (Held 2007, S. 93). Sein rustikaler Charakter, seine Schwerfälligkeit
und sichtbare Mühe beim Schreiben unterstreichen seine Unwissenheit. Für Troy Thomas verunglimpft Caravaggio Matthäus aber keineswegs als Einfaltspinsel: „Caravaggio has not gratuitously made an image of an ignorant or stuipid saint. Matthew serves as a model of humility, freely accepting his need of divine guidance“ (Thomas 1985, S. 647). Die
göttliche Inspiration und Hilfe manifestiert sich hier in einem sehr direkten,
handgreiflichen Akt. „The point of the angel’s helping gesture is to stress the divine origin of the New Testament and the saint’s need of supernatural aid“ (Thomas 1985, S. 639).
Caravaggio hat die herkömmliche Beziehung zwischen erwachsenem Lehrer und kindlichem Schüler umgekehrt – Irving Lavin erkennt darin einen Rückgriff auf Sandro Botticellis Madonna des Magnifikat aus den Uffizien. Auf diesem Tondo schreibt Maria mit der Hilfe ihres Sohnes ihren berühmten Lobgesang nieder (Lukas 1,46-55).
Ein derart ungebilderter Evangelist wie Caravaggios Matthäus war den gelehrten Geistlichen von San Luigi dei Francesi möglicherweise nicht recht – denn das Bild wurde abgelehnt. Der Marchese Vincenzo Giustiniani hingegen übernahm das Gemälde sofort in seine Privatsammlung und finanzierte dafür eine zweite Fassung von Caravaggio, die bis heute als Altarbild der Kapelle dient.
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Sandro Botticell: Madonna des Magnifikat (1480/81); Florenz, Uffizien |
Ein derart ungebilderter Evangelist wie Caravaggios Matthäus war den gelehrten Geistlichen von San Luigi dei Francesi möglicherweise nicht recht – denn das Bild wurde abgelehnt. Der Marchese Vincenzo Giustiniani hingegen übernahm das Gemälde sofort in seine Privatsammlung und finanzierte dafür eine zweite Fassung von Caravaggio, die bis heute als Altarbild der Kapelle dient.
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Blick in die Contarelli-Kapelle; Rom, San Luigi dei Francesi |
Thomas Schauerte wiederum gibt zu bedenken, ob der Berliner Matthäus mit dem Engel möglicherweise gar nicht für die Contarelli-Kapelle angefertigt wurde – sondern von Anfang an für Vincenzo Giustiniani: Der leidenschaftliche Sammler habe wahrscheinlich zur fraglichen Zeit vier der damals führenden Maler Roms beauftragt, für ihn jeweils einen der Evangelisten zu malen. „Dabei wäre die Wahl bei dem ikonographisch anspruchsvollsten ersten unter den Evangelisten auf Caravaggio gefallen. Träfe dies zu, dann müsste der Matthäus Giustiniani überhaupt nicht mit der Ausstattung der Contarelli-Kapelle in Zusammenhang gebracht werden“ (Schauerte 2007, S. 260). Die Erstfassung sei viel zu klein für die Wandfläche über dem Altar gewesen. Während die zweite Fassung mit 296,5 auf 195 cm die passenden Maße aufweise, fehle der ersten mit nur 223 cm nicht weniger als ein gutes Viertel der erforderlichen Höhe und ca. 12 cm in der Breite. Lothar Sickel bemerkt darüber hinaus, dass nur das heutige Altarbild die perspektivisch korrekte Untersicht für den Betrachter bietet, während dem Gemälde aus der Sammlung Giustiniani dieses Merkmal völlig fehle (Sickel 2003, S. 109).
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Raffael: Jupiter und Cupido (1518); Rom, Wandfresko in der Villa Farnesina |
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Antike Büste des Sokrates; Rom, Musei Capitolini |
Die Gesichtszüge des Evangelisten wiederum entsprechen dem damals durch antike Porträtbüsten bekannten Kopf des Sokrates. „The bowling-ball head, wide-set, bulging eyes, blunt nose and the stocky gnarled body – all unmistakably conform to the image of Socrates as we know it from many ancient sources that describe his Silenius-like features and unrefined manners, and from preserved portraits“ (Lavin 1974, S. 70). Der griechische Philosoph „galt als prä-christliches Exempel menschlichen Nichtwissens, dem sein Daimon – in der Renaissance wie ein Engel dargestellt – die himmlische Weisheit übermittelte; da Sokrates nichts Schriftliches hinterlassen hat, glaubte man sogar, er sei des Schreibens unkundig gewesen“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 123).
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Caravaggio: Hieronymus übersetzt die Bibel ins Lateinische (1606); Rom, Galleria Borghese |
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Raffael: Triumph der Galatea (1506); Rom, Villa Farnesina |
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Guido Reni: Hieronymus und der Engel (1634/35); Wien, Kunsthistorisches Museum |
Literaturhinweise
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein
Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Harten, Jürgen: Bei Caravaggio. Die Annäherung des im Bild Erblickten an den Betrachter. In: Nike Bätzner (Hrsg.), Die Aktualität des Barock. Diaphanes, Zürich/Berlin 2014, S. 23-41;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (2. Auflage);
Lavin, Irving: Divine Inspiration in Caravaggio’s Two St. Matthews. In: The Art Bulletin 56 (1974), S. 59-81;
Norris, Christopher: The Disaster at Flakturm Friedrichshain. A Chronicle and List of Paintings. In: The Burlington Magazine 94 (1952), S. 337-347;
Raabe, Rainald: Der Imaginierte Betrachter. Studien zu Caravaggios römischem Werk. Gorg Olms Verlag, Hildesheim 1996, S. 100-108;
Schauerte, Thomas: Ein erfundener Skandal. Caravaggios „Matthäus Giustiniani“ und „Matthäus Contarelli“. In: Erich Garhammer (Hrsg.), BilderStreit. Theologie auf Augenhöhe. Echter Verlag, Würzburg 2007;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2009, S. 111-112;
Sickel, Lothar: Caravaggios Rom. Annäherungen an ein dissonantes Milieu. Edition Imorde, Emsdetten/Berlin 2003, S. 109-131;
Troy, Thomas: Expressive Aspects of Caravaggio’s First Inspiration of Saint Matthew. In. The Art Bulletin 67 (1985), S. 636-652;
von Rosen, Valeska: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600. Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 269-296.
(zuletzt bearbeitet am 30. März 2020)
Harten, Jürgen: Bei Caravaggio. Die Annäherung des im Bild Erblickten an den Betrachter. In: Nike Bätzner (Hrsg.), Die Aktualität des Barock. Diaphanes, Zürich/Berlin 2014, S. 23-41;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (2. Auflage);
Lavin, Irving: Divine Inspiration in Caravaggio’s Two St. Matthews. In: The Art Bulletin 56 (1974), S. 59-81;
Norris, Christopher: The Disaster at Flakturm Friedrichshain. A Chronicle and List of Paintings. In: The Burlington Magazine 94 (1952), S. 337-347;
Raabe, Rainald: Der Imaginierte Betrachter. Studien zu Caravaggios römischem Werk. Gorg Olms Verlag, Hildesheim 1996, S. 100-108;
Schauerte, Thomas: Ein erfundener Skandal. Caravaggios „Matthäus Giustiniani“ und „Matthäus Contarelli“. In: Erich Garhammer (Hrsg.), BilderStreit. Theologie auf Augenhöhe. Echter Verlag, Würzburg 2007;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2009, S. 111-112;
Sickel, Lothar: Caravaggios Rom. Annäherungen an ein dissonantes Milieu. Edition Imorde, Emsdetten/Berlin 2003, S. 109-131;
Troy, Thomas: Expressive Aspects of Caravaggio’s First Inspiration of Saint Matthew. In. The Art Bulletin 67 (1985), S. 636-652;
von Rosen, Valeska: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600. Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 269-296.
(zuletzt bearbeitet am 30. März 2020)
So anmutig elegant der Matthäus 1602 auch aunzuschauen ist, so menschlich vertraut erscheint mir die 1599er Fassung.
AntwortenLöschenVielen Dank für diese schöne Gegenüberstellung.