Dienstag, 20. Februar 2024

„Er lud auf sich unsre Schmerzen“ – Die „Kreuztragung Christi“ von Matthias Grünewald

Matthias Grünewald: Kreuztragung Christi (um 1523/25);
Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle

Die beiden Gemälde der Kreuztragung und der Kreuzigung Christi von Matthias Grünewald (14890–1528) bildeten ursprünglich die Vorder- und Rückseite einer großen Tafel, die vermutlich als Altarbild diente und sich, seit dem 18. Jahrhundert nachweisbar, in der Pfarrkirche St. Martin in Tauberbischofsheim befand. 1882 wurde sie von dem Sammler Edward Habich erworben, der sie ein Jahr später bei einer Restaurierung spalten ließ. 1900 erwarb die Großherzogliche Kunsthalle Karlsruhe die beiden Tafeln, wo sie seither zu den bedeutendsten Ausstellungsstücken der Mittelaltersammlung gehören. Die Tauberbischofsheimer Gemälde werden dem Spätwerk Grünewalds zugerechnet und somit in die Zeit zwischen 1523 und 1525 datiert. Beide Werke sollen hier vorgestellt werden, zunächst die Kreuztragung Christi, in einem späteren Post dann die Kreuzigung.

Christus ist unter der Last des riesigen Kreuzes, dass er selbst nach Golgatha zu tragen gezwungen wird, auf die Knie gestürzt. Mit kraftlosen Händen versucht er den Querbalken festzuhalten, der ihm von der linken Schulter gleitet. Das fahle, erbarmungswürdige Antlitz Jesu unter der Dornenkrone bildet genau auf der Schnittstelle der beiden Bilddiagonalen das Zentrum des Gemäldes und wird zusätzlich durch den unmittelbar hinter ihm aufragenden Pfeiler der Architektur im Hintergrund betont. Was wir hier vor uns haben, ist die künstlerische Umsetzung eines in mittelalterlichen Passionstraktaten vielfach aufgegriffenen Jesaja-Zitates: „Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet“ (Jesaja 53,2-3; LUT). Geschaffen hat sie Matthias Grünewald, dessen Isenheimer Altar zu den bekanntesten christlichen Kunstwerken überhaupt gehört. Auch dort ist der geschundene Gottessohn das zentrale Darstellungsthema (siehe meinen Post „Illum oportet crescere“). 

Matthias Grünewald: Kreuzigung Christi (um 1523/25);
Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
Vier Peiniger drangsalieren Jesus: Links zerrt ihn ein mit gelber Kappe und grauem Knüppel ausgestatteter Häscher am Gewand; rechts kniet ein mit Hellebarde und Schwert bewaffneter Büttel, der Christus anblickt und ihm Grimassen schneidet. Dahinter holen zwei weitere Knechte kraftvoll zum Schlag gegen den Gestürzten aus. Der mit einem Turban bekleidete Scherge scheint schreiend, wie sein offener Mund zeigt, auf Christus zuzustürzen, um ihm einen Hieb zu versetzen. Der Peiniger rechts benützt die sich gabelnde Rute eines Dornstrauchs, um auf sein Opfer einzuschlagen; sein Gesicht wird vom Kreuzbalken verdeckt, „wodurch er gleichsam die anonyme, blinde Aggression verkörpert“ (Mack-Andrick 2007, S. 244). Mit seiner Linken hält er den Strick, mit dem er den Delinquenten weiterzerren wird. Die vier Angreifer sind in Kostüme der Zeit um 1520 gekleidet, die ein kräftiges, grelles Kolorit aufweisen. Giftige Grün- und Gelbtöne sowie ein aggressives Rot herrschen vor und können als farbige Attribute der Männer verstanden werden. Die Männer wollen den Zusammengebrochenen wieder hoch- und vorantreiben, durch das rechte Stadttor hinaus zur Schädelstätte, die in der Ferne an zwei aufragenden Kreuzen erkennbar ist. Dass dies das Ziel des Zuges ist, verdeutlicht unmissverständlich die nach rechts oben weisende Schräge des Querbalkens, der das Auge des Betrachters folgt.

Matthias Grünewald: Verspottung Christi (um 1504);
München, Alte Pinakothek

Darstellungen der Kreuztragung Christi waren seit dem 12. Jahrhundert oft figuren- und szenenreiche Bilder mit betonter Bewegungsrichtung. Der qualvolle und von vielen Personen begleitete Gang Christi nach Golgatha spielte sich meist auf freiem Feld vor den Stadtmauern Jerusalems ab. Grünewald beschränkt sich in seinem Gemälde dagegen auf den Fall Christi unter dem Kreuz. Und er zeigt Jesus völlig allein, in größter Verlassenheit: Keine Mutter, keiner der Jünger steht ihm bei, keine Magdalena weint um ihn, keine Veronika wischt ihm den Schweiß ab, kein Simon von Kyrene hilft ihm, das Kreuz zu tragen. Die Reduktion dient Grünewald dazu, sein Gemälde zu einer Art Andachtsbild zu verdichten. Der Weg nach Golgatha wird bei ihm „durch die zentrierende Komposition angehalten, so dass das Geschehen wie eingefroren dem Betrachter zur verinnerlichten Betrachtung präsentiert wird“ (Mack-Andrick 2007, S, 242). Dabei übernimmt Grünewald auch Figuren und Szenen aus anderen Passionsmomenten: So stammt der rechts kniende Landsknecht, der den Zug nach Golgatha aufhält, von vergleichbaren Spöttern aus „Geißelungen“ oder „Verspottungen“. Eine solche Übernahme charakteristischer Typen aus dem Passionsgeschehen lässt sich schon bei Grünewalds früher Verspottung Christi beobachten (siehe meinen Post „Ein Frühwerk von Matthias Grünewald“), wo er den sonst für Kreuztragungen üblichen „Seilzieher“ anstelle eines knienden Spötters einbezog.

Meister der Karlsruher Passion: Kreuztragung Christi (um 1450),
Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle

Wie bei vielen anderen mittelalterlichen Darstellungen der Kreuztragung wird Christus von Grünewald im Maßstab deutlich größer abgebildet und damit hervorgehoben, ja regelrecht monumentalisiert. Die gleiche Bildstrategie wird z. B. auf der Kreuztragung Christi der Karlsruher Passion eingesetzt (siehe meinen Post „Der unvollständige Leidensweg“), ebenso von Hans Multscher (1400–1467) auf der entsprechenden Tafel seines Wurzacher Altars. Auf allen drei Gemälden wird das leidvolle, von der Anstrengung gezeichnete Haupt Christi mit den deformierten Gesichtern seiner mitleidlosen Peiniger kontrastiert. Diese drastische Gegenüberstellung gehört zu den zentralen Darstellungsverfahren der mittelalterlichen Passionsschilderungen. Gleichzeitig erzeugen die beiden früheren, noch im 15. Jahrhundert entstandenen Tafeln „durch die von der Vielzahl der Schergen mit ihren bedrohlichen Waffen verursachte Enge das Gefühl von Beklommenheit und Ausweglosigkeit (Mack-Andrick 2007, S. 242). Die gleiche Wirkung wird von Grünewald durch die architektonische Beengtheit seiner Komposition hervorgerufen.

Hans Multscher: Kreuztragung Christi (1437); Berlin, Gemäldegalerie

Das Motiv der Schergen, die auf Jesus einschlagen, begegnet in der Bildtradition häufig; oft wird der Erlöser auch mit einem Stock oder mit dem Knauf eines Schwertes gestoßen. Aber es tritt niemals derart markant und beinahe ausschließlich in Erscheinung wie bei Grünewald. „Man darf fast sagen: Es wird hier nur geschlagen!“ (Arndt/Moeller 2002, S. 50). Der Eindruck heftigster Aggression wird verstärkt die symmetrisch-konzentrische Struktur der Gruppe: Von links wie von rechts bedrängen je zwei Schergen den völlig erschöpften Heiland, der ihren Tätlichkeiten schutzlos ausgeliefert ist. Nichts lenkt den Betrachter ab von der furchtbaren Marterung Christi, die sich vor seinen Augen als nicht enden wollendes Geschlagenwerden vollzieht. Grünwalds Anordnung der Figuren bewirkt, „dass man diese Szene nicht als vorübergehende Phase eines übergreifenden Geschehens, sondern wie einen Dauerzustand erlebt“ (Arndt/Moeller 2002, S. 52).

Christi Blick ist gen Himmel gerichtet, was als stummer Dialog mit Gottvater und demütiges Einwilligen in seinen Heilsplan gedeutet werden kann. Der „himmelnde Blick“, der sich als pathoserfüllte mimische Konvention vor allem im 17. Jahrhundert großer Beliebtheit bei Christus- und Heiligendarstellungen erfreute, wird hier bereits bei Grünewald eingesetzt. Aber dieser Blick verweist gleichzeitig auch auf die Inschrift des Architravs über Christus. Es ist die Bibelstelle Zitat aus Jesaja 53,5: „ER IST VMB VNSER SVND WILLEN GESCLAGEN“. (In der Luther-Übersetzung von 2017 lautet der vollständige Vers: „Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“) Damit wird das augenblickliche Leiden Christi und sein bevorstehender Kreuzestod mit der alttestamentlichen Prophetie verknüpft und zum Sühneopfer Christi für die Menschheit und zur Erfüllung des göttlichen Ratschlusses erklärt. „Wer diese Kreuztragung betrachtet, sieht den Schrecken äußerster Todesnot, zugleich liest er, dass eben dies seine Rettung sei, auf die er vertrauen kann. So lässt das Bibelzitat ihn erkennen, was auf dem Bild eigentlich gemeint ist, Wort und Bild zusammen werden zur Quelle der Selbsterkenntnis einerseits, der Heilshoffnung andererseits“ (Arndt/Moeller 2002, S. 48). Das Leiden Christi „vumb unser sund willen“ ist vom Betrachter mitverschuldet, doch macht das alte Prophetenwort im selben Zug den Heilsplan Gottes erkennbar. Letzten Endes ist es das Ziel des Schreckensbildes, Trost zu vermitteln.

Dirk Jacobsz Vellert: Die Vision des hl. Bernhard (1524); Kupferstich

Die Szene spielt sich zwischen zwei durch eine Art Portikus verbundenen Toren ab. Unter dem Haupt Christi erscheint wie eine Bekrönung vor dem leuchtend blauen Himmel ein majestätischer Rundbau, der entweder als der Tempel Salomos oder als Grabeskirche gedeutet wurde. Die Architektur hat Grünewald mit italianisierenden Element der Renaissance-Baukunst verziert (z. B. die kannelierte Kugel über dem Architrav oder das in lockerer Malerei gestaltete Dekor der Bogenarchivolte rechts). Hierfür gibt es wohl eine spezielle Vorlage, die Grünewalds Beeinflussung durch südniederländische Renaissance-Ornamentik zeigt: Ein Kupferstich von Dirk Jacobsz Vellert mit einer Darstellung der Vision des hl. Bernhard (1524) präsentiert die Figuren vor einer reich verzierten architektonischen Schauwand. Die linke Seite dieser Anlage ähnelt frappierend dem Hintergrund von Grünewalds Kreuztragung, bis hin zu dem hinter der Wand aufragenden Zentralbau (hier der Turm einer Kirche). Selbst die kannelierte Kugel über dem linken Pilaster findet sich prominent im Gemälde wieder, und auch die Ornamente in der Bogenarchivolte stimmen, wenn auch vereinfacht, annähernd überein.

 

Literaturhinweise

Achenbach-Stolz, Karin: Die „Kreuztragung“ von Matthias Grünewald aus restauratorischer Sicht. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 104-115;

Arndt, Karl/Moeller, Bernd: Die Bücher und letzten Bilder Mathis Gothart-Nitharts, des so genannten Grünewald. In: Rainhard Riepertinger u.a. (Hrsg.), Das Rätsel Grünewald. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2002, S.45-60:

Mack-Andrick, Jessica: Die „Kreuztragung“ des Tauberbischofsheimer Altars als Beispiel andachtsfördernder Bildstrategien. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 241-246;

Vetter, Ewald M.: Matthias Grünewald Tauberbischofsheimer Kreuztragung. Rekonstruktion und Deutung. In: Pantheon XLIII (1985); S. 40-53;

Ziermann, Horst: Matthias Grünewald. Prestel Verlag, München/London/New York 2001, S. 185-186;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

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