|
Gustave Courbet: Der Verzweifelte (1844/45); Privatsammlung |
Ganz nah an den
Bildvordergrund gerückt und bis zur Brust wiedergegeben, konfrontiert uns der
junge Maler Gustave Courbet (1819–1877) auf diesem querformatigen, nahezu
lebensgroßen Bildnis frontal mit sich selbst. Die Nasenlöcher gebläht, die Brauen zugleich zusammen- und herabgezogen und den
Mund leicht geöffnet, hat er seine mit Glanzlichtern versehenen Augen weit
aufgerissen und blickt direkt aus dem Gemälde in den Betrachterraum; ein möglicherweise
dort befindlicher oder aber vor seinem inneren Auge aufsteigender Grund, ein
Anlass für „dieses zwischen Schrecken, Staunen und Verzweiflung changierende
Mienenspiel“ (Marchal 2012, S. 79) ist nicht sicht- und ermittelbar. Der
expressive Gesichtsausdruck wird durch die Gestik unterstützt. Der Maler fährt
sich mit beiden Händen durch die schulterlangen Haare und rauft sie sich mit seinen
Fingern. Die an seinen halb entblößten Unterarmen hervortretenden Adern zeugen
von der starken körperlichen Anspannung des Entsetzten, ebenso der diagonale Muskelwulst an der Stirn.
Unterstrichen wird
der aufgewühlte Gemütszustand durch den asymmetrisch liegenden und daher eine
momentane Bewegung suggerierenden Kragen, ebenso durch das Falten schlagende,
locker fallende weiße Hemd, das den Hals freigibt. Auch die Lichtdramaturgie
trägt wesentlich zum Gesamteindruck bei: Hell erleuchtete und verschattete
Partien heben sich deutlich voneinander ab; dabei werden besonders die Stirn
und der linke Arm des Malers betont. „Sein linker Ellenbogen, der durch das
Anwinkeln des zum Kopf geführten Armes gegen den Betrachter, ja nahezu in
dessen Raum vorzustoßen scheint, ist Ballungspunkt des Lichts und nächster Kontaktpunkt
zum Rezipienten“ (Marchal 2012, S. 80). Der nicht näher bestimmte Hintergrund
ist in Brauntönen gehalten; in seiner glatteren Malweise hebt er sich von dem
mit sichtbarem, gröberen Pinselstrich angelegten Hemd ab.
|
Rembrandt van Rijn: Selbstbildnis mit offenem Mund (1630); Radierung |
Gefühlszustände wie
Angst, Entsetzen, Schrecken oder Wahnsinn vor dem Spiegel zu studieren und auf
der Leinwand festzuhalten – das kennt die Kunstgeschichte vor allem von
Rembrandt. Dessen Selbstbildnis mit
offenem Mund oder das Selbstbildnis
mit aufgerissenen Augen sind als Anregungen für Courbet auf jeden Fall zu
berücksichtigen. Ulrich Pfarr verweist als Vorbild außerdem als William Hogarths Rollenporträt des Schauspielers David Garrick von 1745, das als Kupferstich verbreitet wurde und in dem die kontrahierten Brauen den Gesichtsausdruck bestimmen. Die davon erzeugten Stirnfalten fehlen allerdings bei Courbet.
|
Rembrandt van Rijn: Selbst mit aufgerissenen Augen (1630); Radierung |
|
William Hogarth: David Garrick als Richard III. (1745); Liverpool, Walker Art Gallery
(für die Großansicht einfach anklicken) |
Der Verzweifelte blieb ein Leben lang im Besitz des Künstlers. 1840 war der
junge Provinzler Courbet (aufgewachsen im ostfranzösischen Jura, in Ornans bei
Besançon) nach Paris übergesiedelt. In seinen frühen Briefen schreibt er häufig
über das Gefühl, in der Hauptstadt fortwährend um Verständnis und künstlerische
Anerkennung kämpfen zu müssen. Dieser biografische Hintergrund könnte – neben
einem generellen Interesse an physiognomischen Studien und dem Mangel an
Modellen – zu dieser malerischen „Selbstdramatisierung“ (Marchal 2012, S. 83)
geführt haben. Courbet litt zeitlebens unter der Spannung zwischen demonstrativer Selbstsicherheit und inneren Selbstzweifeln. Andererseits entspricht es dem romantischen Künstlermythos im
19. Jahrhundert, das eigene innere Leiden besonders im Selbstbildnis zu betonen
und auszustellen. Das Künstlergenie, so der Mythos, setzt sich über bestehende
ästhetische Normen hinweg und wird dafür von der Gesellschaft missachtet und
verspottet; es ist seiner Zeit künstlerisch voraus und wird Anerkennung, so
seine Gewissheit, in der Zukunft erfahren. Dass der „wahre Künstler“ seinen Weg
kompromisslos geht, bezahlt er mit Einsamkeit, Unverständnis und materieller
Not. Er nimmt dieses Leiden auf sich, um sich selbst und seinen künstlerischen
Idealen treu zu bleiben. Denkbar wäre aber auch, dass Courbet sein Bildnis sehr kalkuliert inszeniert hat: „Gleich dem Medusenhaupt, dem es formal angeglichen ist, zeigt es Angst und Schrecken, um selbst zu erschrecken“ (Pfarr 2010, S. 28).
Literaturhinweise
Herding, Klaus/Hollein, Max (Hrsg.): Courbet. Ein Traum von der Moderne. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010, S. 110;
Marchal, Stephanie:
Gustave Courbet in seinen Selbstdarstellungen. Wilhelm Fink Verlag, München
2012, S. 78-84;
Pfarr, Ulrich: Wie sich das Innere zeigt. Introspektion und mimischer Ausdruck bei Courbet. In:
Klaus Herding/Max Hollein (Hrsg.), Courbet. Ein Traum von der Moderne. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010, S. 26-30.
(zuletzt bearbeitet am 26. Februar 2021)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen