Dienstag, 20. Januar 2015

Es ist zum Haareraufen – Gustave Courbets Selbstbildnis „Der Verzweifelte“


Gustave Courbet: Der Verzweifelte (1844/45); Privatsammlung
Ganz nah an den Bildvordergrund gerückt und bis zur Brust wiedergegeben, konfrontiert uns der junge Maler Gustave Courbet (1819–1877) auf diesem querformatigen, nahezu lebensgroßen Bildnis frontal mit sich selbst. Die Nasenlöcher gebläht, die Brauen zugleich zusammen- und herabgezogen und den Mund leicht geöffnet, hat er seine mit Glanzlichtern versehenen Augen weit aufgerissen und blickt direkt aus dem Gemälde in den Betrachterraum; ein möglicherweise dort befindlicher oder aber vor seinem inneren Auge aufsteigender Grund, ein Anlass für „dieses zwischen Schrecken, Staunen und Verzweiflung changierende Mienenspiel“ (Marchal 2012, S. 79) ist nicht sicht- und ermittelbar. Der expressive Gesichtsausdruck wird durch die Gestik unterstützt. Der Maler fährt sich mit beiden Händen durch die schulterlangen Haare und rauft sie sich mit seinen Fingern. Die an seinen halb entblößten Unterarmen hervortretenden Adern zeugen von der starken körperlichen Anspannung des Entsetzten, ebenso der diagonale Muskelwulst an der Stirn.
Unterstrichen wird der aufgewühlte Gemütszustand durch den asymmetrisch liegenden und daher eine momentane Bewegung suggerierenden Kragen, ebenso durch das Falten schlagende, locker fallende weiße Hemd, das den Hals freigibt. Auch die Lichtdramaturgie trägt wesentlich zum Gesamteindruck bei: Hell erleuchtete und verschattete Partien heben sich deutlich voneinander ab; dabei werden besonders die Stirn und der linke Arm des Malers betont. „Sein linker Ellenbogen, der durch das Anwinkeln des zum Kopf geführten Armes gegen den Betrachter, ja nahezu in dessen Raum vorzustoßen scheint, ist Ballungspunkt des Lichts und nächster Kontaktpunkt zum Rezipienten“ (Marchal 2012, S. 80). Der nicht näher bestimmte Hintergrund ist in Brauntönen gehalten; in seiner glatteren Malweise hebt er sich von dem mit sichtbarem, gröberen Pinselstrich angelegten Hemd ab.
Rembrandt van Rijn: Selbstbildnis mit offenem Mund (1630); Radierung
Gefühlszustände wie Angst, Entsetzen, Schrecken oder Wahnsinn vor dem Spiegel zu studieren und auf der Leinwand festzuhalten – das kennt die Kunstgeschichte vor allem von Rembrandt. Dessen Selbstbildnis mit offenem Mund oder das Selbstbildnis mit aufgerissenen Augen sind als Anregungen für Courbet auf jeden Fall zu berücksichtigen. Ulrich Pfarr verweist als Vorbild außerdem als William Hogarths Rollenporträt des Schauspielers David Garrick von 1745, das als Kupferstich verbreitet wurde und in dem die kontrahierten Brauen den Gesichtsausdruck bestimmen. Die davon erzeugten Stirnfalten fehlen allerdings bei Courbet.
Rembrandt van Rijn: Selbst mit aufgerissenen Augen (1630); Radierung
William Hogarth: David Garrick als Richard III. (1745); Liverpool, Walker Art Gallery
(für die Großansicht einfach anklicken)
Der Verzweifelte blieb ein Leben lang im Besitz des Künstlers. 1840 war der junge Provinzler Courbet (aufgewachsen im ostfranzösischen Jura, in Ornans bei Besançon) nach Paris übergesiedelt. In seinen frühen Briefen schreibt er häufig über das Gefühl, in der Hauptstadt fortwährend um Verständnis und künstlerische Anerkennung kämpfen zu müssen. Dieser biografische Hintergrund könnte – neben einem generellen Interesse an physiognomischen Studien und dem Mangel an Modellen – zu dieser malerischen „Selbstdramatisierung“ (Marchal 2012, S. 83) geführt haben. Courbet litt zeitlebens unter der Spannung zwischen demonstrativer Selbstsicherheit und inneren Selbstzweifeln. Andererseits entspricht es dem romantischen Künstlermythos im 19. Jahrhundert, das eigene innere Leiden besonders im Selbstbildnis zu betonen und auszustellen. Das Künstlergenie, so der Mythos, setzt sich über bestehende ästhetische Normen hinweg und wird dafür von der Gesellschaft missachtet und verspottet; es ist seiner Zeit künstlerisch voraus und wird Anerkennung, so seine Gewissheit, in der Zukunft erfahren. Dass der „wahre Künstler“ seinen Weg kompromisslos geht, bezahlt er mit Einsamkeit, Unverständnis und materieller Not. Er nimmt dieses Leiden auf sich, um sich selbst und seinen künstlerischen Idealen treu zu bleiben. Denkbar wäre aber auch, dass Courbet sein Bildnis sehr kalkuliert inszeniert hat: „Gleich dem Medusenhaupt, dem es formal angeglichen ist, zeigt es Angst und Schrecken, um selbst zu erschrecken“ (Pfarr 2010, S. 28).

Literaturhinweise
Herding, Klaus/Hollein, Max (Hrsg.): Courbet. Ein Traum von der Moderne. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010, S. 110;
Marchal, Stephanie: Gustave Courbet in seinen Selbstdarstellungen. Wilhelm Fink Verlag, München 2012, S. 78-84; 
Pfarr, Ulrich: Wie sich das Innere zeigt. Introspektion und mimischer Ausdruck bei Courbet. In:
Klaus Herding/Max Hollein (Hrsg.), Courbet. Ein Traum von der Moderne. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010, S. 26-30.

(zuletzt bearbeitet am 26. Februar 2021)

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