Samstag, 31. Dezember 2016

Heiland auf der Mottendecke – Martin Schongauers „Geburt Christi“ (Berlin)


Martin Schongauer: Geburt Christi (um 1475); Berlin, Gemäldegalerie
(für die Großansicht einfach anklicken)
Martin Schongauer (um 1440–1491) gilt als Vollender der spätgotischen Malerei in Deutschland. Seiner Kunst wegen nannten ihn seine Zeitgenossen „Hipsch Martin“ oder auch „Martin Schön“. Wir kennen ihn vor allem als Grafiker – 115 seiner Kupferstiche sind erhalten geblieben (siehe meinen Post „Malen mit dem Grabstichel“). Sie waren in ganz Europa verbreitet und wirkten noch lange nach seinem Tod als Anregung auf andere Künstler. Auch Albrecht Dürer reiste nach Colmar, um bei Schongauer zu arbeiten – doch der Meister war bereits verstorben, als er eintraf. Dennoch ist Dürer wesentlich von der Formtradition der Schongauer-Werkstatt geprägt worden. Das malerische Werk Schongauers wurde von den Bilderstürmen und den Zeitläuften weitgehend vernichtet; nur wenige Gemälde sind auf uns gekommen, darunter vier Marien-Täfelchen und die berühmte Rosenhag-Madonna in Colmar (1473).
Die Berliner Geburt Christi ist eine dieser vier noch erhaltenen kleinformatigen Tafeln von der Hand des Colmarer Meisters. Es handelt sich bei diesen Gemälden nicht um Altar-, sondern um sogenannte Andachtsbilder, also um mobile, für den privaten Besitz und Gebrauch gedachte Werke, die auch auf Reisen mitgenommen werden konnten. Die Berliner Tafel ist mit 38,4 x 27,8 cm ungefähr doppelt so groß wie Schongauers Heilige Familie aus Wien, die ich bereits vorgestellt habe (siehe meinen Post „Liebliche Maid aus spätgotischer Zeit“).
Martin Schongauer: Heilige Familie (um 1475); Wien, Kunsthistorisches
Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Bei Schongauer hat sich die Geburt des Erlösers in einer Hütte vor einer Höhle ereignet. Das zerbrechlich wirkende Jesuskind liegt in einer weißen Windel am Boden, unter der eine zerschlissene rote Decke ausgebreitet ist. Alle anderen Figuren des Bildes wenden sich in ihrer Bewegung oder Blickrichtung dem Neugeborenen zu, auch Ochs und Esel. Maria ist ihm am nächsten: Betend kniet sie vor ihrem Kind; der Saum ihres blauen Mantel fällt direkt bis vor dessen Füße und betont die enge Beziehung der beiden.
Wie die alte Decke verweisen auch die beiden abgenutzten Bündel an Josephs Tragestab auf die Unbehaustheit und Armut der Heiligen Familie. Joseph, der ruhig-wachend hinter Maria und ihrem Sohn steht, ist ein zwar betagter, doch würdiger Mann mit langem Bart, gekleidet in einen leuchtend roten Mantel. Optisch wird seine Gestalt durch die intensive, warme Farbe nach vorne gezogen. „Zugleich nimmt diese den Bezug zum dumpferen Rot der Decke am Boden auf und verstärkt dadurch die vom stehenden Joseph über den gerichteten Blick der Jungfrau zum Kind herabführende Schräge“ (Kemperdick 2004, S. 180). Die offensichtlich nicht allzu prall gefüllte Geldkatze am Gürtel des Zimmermanns deutet sowohl auf seine Rolle als familienverantwortlicher Nährvater wie auf seinen wirtschaftlich bescheidenen Stand. Mehr als alle übrigen Gestalten weist Joseph „renaissancehafte Züge auf, die sich in Kontrapost, lebendig durchgearbeitetem Gesicht und den beweglichen Händen ausdrücken“ (Kemperdick 2004, S. 180).
Überhaupt wird die gesamte Bildfläche durch eine von links oben nach rechts unten verlaufende Diagonale geteilt; allerdings ist diese Linie nicht aufdringlich und wird lediglich unten rechts durch die Halme des Heubündels genau in die Ecke der Tafel geführt. Der Kopf Mariens, der vor dunklem Hintergrund hell als Zentrum des Bildes aufscheint, überschneidet gerade eben diese imaginäre Diagonale. Sie teilt das Bild in eine linke Hälfte, die man als „Innen“ bezeichnen kann und in der sich die Heilige Familie befindet. Die rechte Hälfte bildet das „Außen“: Hier kann der Blick in die Ferne schweifen, und zu dieser Seite gehören auch die herbeigeeilten Hirten, die respektvoll vor dem Eingang der Hütte knien. „In den Gewändern der beiden älteren werden das Blau und Rot von Maria und Joseph aufgegriffen, doch dabei so graubraun gebrochen, daß die Hirten auch in ihrer Tonigkeit ganz und gar der Landschaft zugeordnet bleiben, in deren Mittelgrund die Herde grast“ (Kemperdick 2004, S. 180/181).
Zerschlissene Kleidung, raue Hände und faltige, unrasierte Gesichter kennzeichnen die Hirten als Menschen, die im Freien harter Arbeit nachgehen. Dennoch sind die Männer sehr würdevoll und auffallend groß ins Bild gesetzt: Offensichtlich wurde die Gruppe nach dem Vorbild der Heiligen Drei Könige gestaltet. Wie diese repräsentieren die Hirten die drei Lebensalter und sind entsprechend hierarchisch positioniert: Der älteste, mit gefalteten Händen auf die Knie gesunken, ist dem Jesukind am nächsten; der mittlere, seinen Strohhut in der linken, eine Flöte in der rechten Hand haltend, hat sich noch nicht ganz auf die Knie niedergelassen, der jüngste steht noch. Ein Standpunkt gleich dem der Hirten ist auch dem Bildbetrachter zugewiesen, genauer: gleich dem des hinteren, in dessen Augenhöhe unser Blickpunkt liegt. Als Betrachter stehen wir nämlich gleichfalls unmittelbar vor der Schwelle der Hütte, deren rechter äußerer Pfosten genau mit dem Rahmen übereinstimmt – das Bildfeld öffnet sich also gewissermaßen zusammen mit der Vorderseite des Stalls unserem Blick.
Wie die Wiener Tafel kennzeichnet auch das Berliner Bild die prägnante Wiedergabe von eigentlich untergeordneten Gegenständen, wie z. B. das Arrangement der beiden Säcke und einer hinter ihnen kaum mehr sichtbaren Pilgerflasche in der linken unteren Ecke. Was daran auffällt, ebenso an der roten Decke unter dem Kind, „ist ein bemerkenswerter Sinn für die pittoresken Aspekte des Zerschlissenen. Den mürben, sich in Fädchen auffasernden Stoff der aufreißenden Beutel, die Webstruktur der gemusterten Decke mit ihren von Motten hineingefressenen Löchern meint man haptisch spüren zu können“ (Kemperdick 2004, S. 184). Schimmert der einfache Flechtkorb des Wiener Bildes wie ein Geschmeide, so ist Schongauers zerfressene Decke mit ihren Löchern so minutiös gemalt wie der Prachtteppich zu Füßen einer Madonna Jan van Eycks.
Jan van Eyck: Lucca-Madonna (um 1437); Frankfurt, Städel Museum
(für die Großansicht einfach anklicken)
Großartig ist schließlich auch die emailhaft gemalte Landschaft der Berliner Tafel. Links oben ist zwischen den Balken der Hütte noch das Dunkel der Nacht zu erkennen – auf der rechten Seite wird der Blick jedoch über eine nur mit weißen Farbtupfern wiedergegebene Schafherde im Mittelgrund in ein übersonntes Flusstal in die Tiefe geführt. Solche Landschaftsdarstellungen, die Schongauer auch in manche seiner Kupferstiche einbaut, leiten sich letztlich von der altniederländischen Malerei her.
Hugo van der Goes: Geburt Christi, Mitteltafel des Portinari-Altars (um 1475); Florenz, Uffizien
(für die Großansicht einfach anklicken)
Auch die Gruppe der drei Hirten weist deutliche Parallelen zur flämischen Kunst auf: Sie ist derjenigen auf dem sogenannten Portinari-Altar (1475) des Genter Meisters Hugo van der Goes bemerkenswert ähnlich. In der Geburt Christi, der Mitteltafel des Portinari-Altars (heute in den Uffizien), eilen wie bei Schongauer drei Hirten von rechts herbei, um das Jesuskind zu verehren. So groß ins Bild gesetzt, kommt dieses Motiv in der älteren und zeitgenössischen nordalpinen Tafelmalerei sonst nicht vor. Darüber hinaus zeigen beide Künstler die Hirten zum einen als derbe Gesellen, aber andererseits ebenso andächtig ergriffen und würdig. Bislang spricht jedoch nichts für eine direkte Verbindung der beiden Bilder, „weil ein Besuch Schongauers um 1475 in Gent ebensowenig anzunehmen ist wie eine Reise des van der Goes an den Oberrhein“ (Kemperdick 2004, S. 186).

Literaturhinweise

Eissenhauer, Michael (Hrsg.): Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2021, S. 240-242; 

Kemperdick, Stephan: Martin Schongauer. Eine Biographie. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2004, S. 177-190.

(zuletzt bearbeitet am 12. April 2022)



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen