Dienstag, 24. Januar 2017

In Holz gehauene Glückseligkeit – Hermann Scherers Skulptur „Die Schlafenden“


Hermann Scherer: Die Schlafenden (1924); Köln, Museum Ludwig
Eine nackte Frau liegt mit geschlossenen Augen auf einem ebenfalls nackten Mann, der sie mit seinem linken Arm umfasst. Seine angewinkelten und aufgestellten Beine umfangen ihren Unterkörper und verhindern, dass die Frau von ihm herabgleitet. Sie scheint gelöst zu schlafen oder wirkt zumindest ganz in sich versunken. Hermann Scherers Holzskulptur Die Schlafenden (1924) zeigt die Intimität, die glückliche Entspannung nach dem Liebesakt, in der beide ganz nah beieinander sind und doch jeder für sich ist. Scherer hat die Frau ganz in Gelb gefasst, was ihr Leichtigkeit verleiht; die Farbe „läßt etwas von dem Glücksgefühl, dem sie sich träumend hinzugeben scheint, nach außen dringen“ (Schwander 1988, S. 80). Deutlich davon abgehoben ist das erdhafte Braun des Männerkörpers.

Die Schlafenden ist eine von zwanzig Skulpturen, die der Schweizer Maler und Bildhauer Hermann Scherer während seiner kurzen Lebenszeit (1893–1927) geschaffen hat. Fast alle sind heute noch vorhanden: durchweg Menschenfiguren, meist Paare in gefühlsbetonter Beziehung – eine Mutter mit Kind, Liebende oder Freunde, viele in überraschend ursprünglichen Körperhaltungen dargestellt.
Erdhaftes Braun, glückliches Gelb
Seit 1917 lebte der deutsche Maler, Grafiker und Bildhauer Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) in der Schweiz. 1923 war der Expressionist in der Basler Kunsthalle zum ersten Mal in einer Schweizer Ausstellung mit seinen Werken vertreten. Auf die junge lokale Künstlergeneration wirkte Kirchner wie eine Offenbarung – vor allem auf den aus dem Südbadischen stammenden Hermann Scherer, der sich in Basel sein Geld mit der Ausführung von Bauplastiken verdiente. Kirchner und Scherer fanden Gefallen aneinander; Kirchner lud ihn in sein Atelierhaus nach Frauenkirch (bei Davos) ein, Scherer besuchte ihn mehrmals für längere Zeit, begann dort zu zeichnen, Holzschnitte und erste Holzplastiken anzufertigen. Der junge Mann entfaltete eine erstaunliche Schaffenskraft: In etwas mehr als einem Jahr entstanden sechzehn Skulpturen. Sein Erstlingswerk in Holz war das voluminöse Liebespaar (112 cm hoch). 
Hermann Scherer: Liebespaar (1924); Köln, Museum Ludwig
Ernst Ludwig Kirchner: Die Freunde (1924);
Basel, Kunstmuseum
Auch Kirchner gestaltete nun als Bildhauer vermehrt Paare aller Art, wobei er Scherer und dessen Basler Malerfreund Albert Müller als Modelle für seine 1924 entstandene lebensgroße Skulptur Die Freunde auserkor. Kirchner übernahm hier eine Geste von Scherers erstem Liebespaar und übertrug sie auf die beiden Männer: Die linke Figur (Müller) hebt den rechten Arm wie im Gespärch vor die Brust des Freundes, während er die Linke um seine Schulter legt. Die rechte Figur (Scherer) bleibt reglos stehen, die Arme und Hände steif an den Anzug gelegt, und blickt mit großen Augen ins Weite. Die ausdrucksvollen Köpfe der Feunde sind überproportional groß, die Körper in ihren grün und blau bemalten Anzügen dagegen schmal.
Zusammen mit Albert Müller und Paul Camenisch gründete Scherer Ende 1924 nach dem Vorbild der Dresdener „Brücke“ die Gruppe „Rot-Blau“. Im April 1925 konnte die Vereinigung (in die als vierter und letzter Künstler noch Werner Neuhaus aufgenommen wurde) in der Kunsthalle Basel erstmals ihre Werke präsentieren. Dabei hinterließen vor allem Scherers Holzkulpturen beim Publikum einen starken Eindruck.
Hermann Scherer: Mutter (1924); Aarau, Aargauer Kunsthaus
Das bekam der Gemeinschaft offensichtlich nicht gut. Noch vor Ausstellungsende gab Müller seinen Austritt aus der Gruppe bekannt – er sah sich benachteiligt, weil Scherer in der Kunsthalle mit einer größeren Zahl an Werken vertreten war. In der Folge zerbrach die zehnjährige Freundschaft zwischen Müller und Scherer. Auch Kirchner beklagte sich über seinen Basler Schüler: Scherer kopiere ihn sklavisch. Der deutsche Künstler fürchtete offensichtlich, dass das Werk der „Rot-Blau“-Gruppe bekannt wird, ohne dass man ihn als inspirierende Quelle würdigt. „Rot-Blau“ bestand jedoch nur wenige Jahre – nicht nur Müller starb im Dezember 1926 unerwartet früh mit 29 Jahren durch Typhus, sondern wenige Monate darauf auch Scherer am 13. Mai 1927 an einer Infektion.
Oskar Kokoschka: Die Windsbraut (1913); Basel, Kunstmuseum
Scherers Die Schlafenden ist mit dem expressionistischen Gemälde Die Windsbraut von Oskar Kokoschka verglichen worden (1914 entstanden), in dem sich die Frau (mit den Gesichtszügen von Alma Mahler) im Schlaf vertrauensvoll an den Mann schmiegt, der wiederum hellwach zu sein scheint.
Hermann Scherer: Mann und Weib (1924);
Chur, Bündner Kunstmuseum
Dass sich die Beziehung zwischen Mann und Frau aber auch zum Drama der Geschlechter entwickeln kann, hat Hermann Scherer ebenfalls dargestellt, z. B. in seiner zweiten großen Holzskulptur Mann und Weib: Vergeblich sucht hier eine niedersinkende Frau in den Armen des Mannes Schutz. Ihre Hände gleiten langsam von seinen Schultern, mit angstvoll aufgerissenen Augen blickt sie ins Ungewisse, während er in dumpfer Trostlosigkeit über sie hinwegstarrt. Indem Scherer das Paar hintereinander stellt, betont er die Vereinzelung der beiden Figuren: Sie sind einander nicht zugewandt, die äußere Nähe kann über ihre innere Ferne und  das Alleinsein eines jeden nicht hinwegtäuschen.
Hermann Scherer: Die Schlafenden (1924); Holzschnitt
Scherer hat seine beiden vollplastischen Schlafenden übrigens im gleichen Jahr noch einmal im zweidimensionalen Holzschnitt wiedergegeben, in dem die Figuren dann seitenverkehrt erscheinen.


Literaturhinweise
Henze, Wolfgang: Die Plastik Ernst Ludwig Kirchners. Monographie mit Werkverzeichnis. Verlag Henze & Ketterer; Wichtrach/Basel 2002, S. 227-246;
Schwander, Martin: Hermann Scherer. Die Holzskulpturen 1924–1926. Wiese Verlag, Basel/Stuttgart 1988, S. 80-85;
Schwandner, Martin: «Ich komme da auf ganz neue Sachen durch das direkte Heraushauen aus dem Holzstamm.» Zu den Holzskulpturen von Hermann Scherer. In: Beat Stutzer (Hrsg.), Hermann Scherer. Skulpturen, Gemälde, Holzschnitte. Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 1999, S. 9-29
von Maur, Karin: Ernst Ludwig Kirchner. Der Maler als Bildhauer. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2003, S. 74-80. 

(zuletzt bearbeitet am 3. Mai 2022)

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