Dienstag, 19. Februar 2019

Entrückt und unantastbar – Wilhelm Lehmbrucks „Große Sinnende“


Wilhelm Lehmbruck: Große Sinnende (1913/14, Gips); Stuttgart, Staatsgalerie
Die Große Sinnende, 1913/14 gestaltet, ist die letzte ganzfigurige Frauendarstellung im Werk von Wilhelm Lehmbruck (1881–1919). Danach beschäftigte sich der Bildhauer nur noch mit Fragmenten weiblicher Körper, während Männer- und Jünglingsdarstellungen ganzfigurig blieben.
Die überlebensgroße, schlanke weibliche Aktfigur steht aufrecht auf einem flachen Sockel. Über den eng nebeneinander gestellten Füßen erheben sich die deutlich überlängten Beine: ein linkes Standbein und ein rechtes, sich nur auf die Zehen stützendes und etwas vorragendes Spielbein. Der rechte Arm mit der entspannt geöffneten Hand hängt locker neben dem Körper herab und ist nach hinten gedreht. Ihren linken Arm hat die Figur rechtwinklig gebeugt: Während die Oberarme bis zum Ellbogen parallel verlaufen, wird der linke anders als der rechte Unterarm quer über den Rücken geführt; die Hand umfasst von hinten den anderen Arm, sodass in der Vorderansicht die Finger der linken Hand in der Armbeuge sichtbar werden.
Auf dem langen Hals mit den breiten Schultern sitzt der nach rechts geneigte kleine Kopf. Die Augen sind geöffnet, der Blick scheint träumerisch ins Unbestimmte zu schweifen bzw. nach innen gerichtet zu sein. „Der Vertikalzug der Figur resultiert nicht allein aus der Länge ihrer Einzelglieder, der Zehen, Beine, Arme und Finger, er wird auch vom Kontrapost, der damit einhergehenden leicht angedeuteten Körperdrehung und der senkrechten Linie des herabhängenden Armes unterstützt“ (Ende 2015, S. 194). Der gesenkte Kopf und die Horizontale des angewinkelten Armes unterbrechen die dominierende, ruhig aufsteigende Achse; ebenso beleben der Kontrapost und die den Rumpf einrahmende Armhaltung die symmetrisch-strenge Konstruktion der Skulptur.
In der Rückenansicht bilden Arme, Schulterlinie und Taille beinahe ein Quadrat, dessen Seitenlängen von den Abmessungen der Sockelbreite vorgegeben werden. Trotz der strengen Komposition offenbart die Rückenansicht der Statue eine dezente Bewegung: Aus der Fuß- und Beinstellung ergibt sich die Andeutung einer in die Länge gezogenen S-Linie. „Das etwas nach vorn zeigende Spielbein schneidet den Umriss des Standbeins unten an, so dass die Unterschenkel als geschlossene Form erscheinen“ (Ende 2015, S. 195). Der aufgestellte rechte Fuß, das entsprechend herausstehende Knie, der nach unten weisende Zeigefinger der rechten Hand, der Klammergriff der linken und der gebeugte Kopf betonen die rechte Seite der Gestalt. Zwischen den Beinen ergibt sich ein schmaler länglicher Freiraum, zwischen Hüfte und gestrecktem rechten Arm und der Hand am Ellbogen ein schmaler Spalt.
Während der Körper der Großen Sinnenden von vorn und hinten hoch aufgeschossen und überschlank wirkt, erscheint die Figur im Profil keineswegs hager: Die schweren Formen der Unterschenkel und Knie, das Gesäß, der rundliche Bauch und das starke Schultergelenk verleihen ihr eine in der Frontalansicht nicht ersichtliche, kräftige Plastizität. Die Taille ist als Trennlinie gebildet zwischen dem beinahe kugeligen Becken und dem unvermittelt darauf gesetzten kegelförmigen Rumpf. Dieser ist mit als Halbkugeln gestalteten Brüsten versehen. „Aus diesen geometrischen ,Bauteilen‘ konstruiert Lehmbruck einen hohen, gerüsthaft strengen ,Körperturm‘, der dennoch organisch gewachsen und lebendig erscheint“ (Ende 2015, S. 195). Lehmbruck verzichtet bei seiner Großen Sinnenden darauf, den nackten Körper vordergründig „sinnlich“ zu gestalten, wie es für die Mehrzahl der weiblichen Aktplastiken dieser Zeit charakteristisch ist.
Lehmbruck hat seiner weiblichen Figur kein individuelles Antlitz verliehen, sondern vielmehr den Typus einer melancholisch-nachdenklichen, in sich gekehrten Frau geschaffen. Die hohe Stirn, die weit auseinander stehenden Augen und die Neigung des im Verhältnis zum Körper viel zu kleinen Kopfes verstärken den Eindruck einer von der Welt entrückten, unzugänglichen, in sich verschlossenen Figur: Sie nimmt weder Blickkontakt zum Betrachter auf noch fixiert sie einen bestimmten Punkt. Da Lehmbruck auf alles Anekdotische verzichtet hat, entzieht sich seine Große Sinnende einer eindeutigen Interpretation: Wir haben eine säulenhaft aufragende, unantastbar wirkende, völlig in sich versunkene Gestalt vor uns, „die in einer eigenen Maß- und Vorstellungswelt beheimatet zu sein scheint“ (Ende 2015, S. 204).

Literaturhinweise
Berger, Ursel: Lehmbrucks Stehende weibliche Figur und verwandte Frauendarstellungen seiner Pariser Werkphase. In: In: Martina Rudloff/Dietrich Schubert, Wilhelm Lehmbruck. Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen 2000, S. 49-69;
Ende, Teresa: Wilhelm Lehmbruck. Geschlechterkonstruktionen in der Plastik. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2015.

(zuletzt bearbeitet am 13. März 2021) 

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