Samstag, 27. Juni 2020

Umwälzende Nächstenliebe – Rembrandts Radierung „Petrus und Johannes heilen den Lahmen“

Rembrandt: Petrus und Johannes heilen den Lahmen an der Pforte des Tempels (1659); Radierung
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Die Apostelgeschichte berichtet davon, dass die Jünger Petrus und Johannes zur Gebetszeit auf den Stufen des Jerusalemer Tempels einen Lahmen treffen, der dort täglich zum Betteln abgesetzt wird. Als dieser sie um ein Almosen bittet, entgegnet Petrus: „Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!“ (Apostelgeschichte 3,6; LUT). Darauf kann der Lahme wieder gehen, er „lief und sprang umher und lobte Gott“ (3,8; LUT). Petrus erklärt den angesichts dieses Wunders zusammenlaufenden Menschen, dass die Heilung des Lahmen durch den Glauben an den auferstandenen Jesus Christus geschehen sei; er fordert die Menge zur Buße auf, und viele von ihnen werden gläubig. Die „Oberen und Ältesten und Schriftgelehrten“ (4,5; LUT) veranlassen deswegen, Petrus und Johannes einzukerkern und über sie Gericht zu halten. Letztendlich lässt man sie jedoch freium des Volkes willen, weil sie nichts fanden, was Strafe verdient hätte; denn alle lobten Gott für das, was geschehen war“ (4,21; LUT).
Die beiden Apostel und der Lahme sind auf Rembrandts Radierung von 1659, einem relativ großformatigen, sorgfältig ausgearbeiteten Blatt (18 x 21,5 cm), zwar im Vordergrund platziert, nehmen aber nur wenig Raum unter dem hohen Torbogen ein. Dieser gibt den Blick frei auf ein imposantes Schauspiel im Vorhof des Tempels: Auf einer hohen Stufenpyramide erhebt sich hier, von Säulen flankiert, ein opulenter Altarsockel. Rauchschwaden steigen auf, eine Opferzeremonie bewegt sich offensichtlich auf ihren Höhepunkt zu. Die Menge der Gläubigen drängt sich rechts unterhalb der Stufen und in den Logenplätzen im Hintergrund, die mit den gleichen Rundbögen versehen sind, unter der sich auch die Szene im Vordergrund abspielt. Links oben in einer Nische der massiven Tempelfassade wacht, von einem Baldachin überfangen, der Hohe Priester mit einem bischofsähnlichen Assistenten über die heilige Handlung. „In weiter Mantelhülle, nur von wenigen Linien umrissen, ist die weiße Gestalt gleichsam schwebend dem menschlichen Bereich entrückt“ (Keller 1979, S. 83). Die vernebelte, trennend in die Mitte gesetzte Altarpyramide macht die Entfernung und Entfremdung zwischen den Gläubigen und ihrem Oberhaupt besonders augenfällig.
Rembrandt stellt durch den am rechten Bildrand beginnenden, stark verschatteten Rundbogen eine optische Grenze zwischen Vorder- und Hintergrund her. Das Heilungsgeschehen ist regelrecht bühnenartig in Szene gesetzt, während der Hintergrund beinahe wie eine Kulisse wirkt. Ins Auge fallen dabei besonders die beiden Säulen, mit denen „Jachin“ und „Boas“ am Eingangstor des Jerusalemer Tempels gemeint sind: Die von König Salomo in Auftrag gegebenen Säulen und ihre Verzierungen werden im altestamentlichen Buch der Könige beschrieben (1. Könige 7,13-22).
Petrus kehrt der Opferzeremonie den Rücken zu. Der in Lumpen gehüllte Krüppel vor ihm, dessen Gesicht uns Rembrandt nicht zeigt, streckt seine Kappe aus und hofft auf eine Gabe. Halb die eigene Armut beteuernd, halb Segen spendend, breitet der Apostel die Hände über ihm aus: Statt einem Geldstück wird der Lahme durch Petrus Gesundheit und neuen Glauben empfangen. Misstrauisch verfolgen am linken Bildrand zwei Tempelgänger die Szene. Was sie sehen, steht im Widerspruch zum gewohnten altjüdischen Gottesdienst zum Aufgebot von Pomp, Sakralakt und Macht. „Petrus gibt ein Beispiel der umwälzenden christlichen Frömmigkeit, deren oberstes Gebot die Nächstenliebe ist, während es die alttestamentlichen Riten suspendiert“ (Keller 1979, S. 84). Symbolisch vollzieht Johannes den Übergang von der alten zur neuen Religion, indem er mit dem Körper noch der aufwendigen Kultzelebration zugekehrt steht, den Kopf aber zurückwendet und den elenden Menschen wahrnimmt, der ein größeres Recht auf seine Anteilnahme hat. Der üppigen, auf Sinnesüberwältigung zielenden Inszenierung steht die Kraft dieses neuen Glaubens gegenüber, der sich auf die Erlösungstat Christi beruft.
Der Detailreichtum der Darstellung ist erstaunlich – entspricht aber nur teilweise der biblischen Textvorlage. Die Apostelgeschichte spricht davon, dass Petrus um Johannes „um die neute Stunde, zur Gebetszeit“ (3,1), zum Tempel gingen: Das Neue Testament berichtet also nur von der alltäglichen Gebetsroutine der beiden Männer – die majestätische Ritus im Hintergrund wird nicht erwähnt. Rembrandt lässt die Apostel nicht nur als Angehörige einer religiösen Minderheit agieren, die, wie es dem Bibeltext entspricht, von der herrschenden Priesterkaste angefeindet und verfolgt wird, sondern stellt sie überdeutlich einer etablierten, hierarchisch-zeremoniell organisierten „Staatskirche“ gegenüber. Die historischen Schicksale des Protestantismus – also der Konfessionsstreit des 16. und 17. Jahrhunderts – und insbesondere der mennonitischen Denomination, der Rembrandt wahrscheinlich angehörte, dürften daher den zeitgenössischen Hintergrund seiner Radierung bilden.

Literaturhinweise
Kayser, Florian: Petrus und Johannes heilen den Lahmen an der Pforte des Tempels. In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 206;
Keller, Ulrich: Knechtschaft und Freiheit. Ein neutestamentliches Thema bei Rembrandt. In: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 24 (1979), S. 77-112;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

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