Sonntag, 13. Dezember 2020

Kunst kommt von Klauen – Gerrit van Honthorsts „Befreiung Petri“

Gerrit van Honthorst: Die Befreiung Petri (um 1616); Berlin, Gemäldegalerie
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Die innovativen Bilderfindungen des italienischen Barockmalers Caravaggio (1571–1610) wurden von Künstlern aus ganz Europa in solch großem Umfang nachgeahmt, dass eine eigene Bewegung entstand – der „Caravaggismus“. Zu Caravaggios wichtigsten Stilmerkmale gehörten ein flacher Bildraum, nah  gesehene Halbfiguren, dramatische Hell-Dunkel-Effekte und eine am Modell orientierte Figurendarstellung (siehe meinen Post „Mit dem Scheinwerfer gemalt“). Gerrit van Honthorst (1592–1656) zählt mit Dirck van Baburen (1595–1624) und Hendrick ter Brugghen (1588–1629) zu den wichtigsten holländischen Caravaggisten. Alle drei waren Abschluss ihrer Lehrjahre in Utrecht nach Rom gereist – hatten aber Caravaggio selbst dort nicht mehr angetroffen. Was sie in Rom allerdings sehen konnten, waren dessen aufsehenerregende Altarbilder und sonstigen Gemälde. Und alle drei kehrten nach Italienaufenthalt nach Utrecht zurück. Nicht nur auf ihre Bilder, sondern insgesamt auf die holländische Gemäldeproduktion zwischen 1615 und 1630 hatten Caravaggios Gestaltungselemente ohne Frage großen Einfluss.

Gerrit van Honthorst: Dornenkrönung Christi (um 1622); Amsterdam, Rijksmuseum
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Honthorst traf wahrscheinlich um 1613 in Italien ein. Als „Gherardo delle Notti“ wurde er schon während seiner Zeit in Rom berühmt: Zu erkennen sind seine Nachtstücke an der von Kerzenschein oder einer Fackel erleuchteten Szenerie, wobei die künstliche Lichtquelle oft hinter einem Bildgegenstand oder einer Figur verborgen oder nur teilweise sichtbar ist. Die Flamme selbst bildet auf diese Weise nicht mehr den hellsten Bereich der Komposition, sondern stattdessen der sie umgebende Raum, wodurch eine gleichmäßig erleuchtete intime Bildfläche entsteht. Von allen Werken Honthorsts, die während seines Romaufenthalts bis 1620 entstanden sind, ist Die Befreiung Petri (um 1616) sicherlich dasjenige, das von Caravaggios Malweise und Stilmitteln am meisten beeinflusst ist.

Honthorst Gemälde bezieht sich auf eine Episode aus der Apostelgeschichte, die sich im Neuen Testament direkt an die Evangelien anschließt. König Herodes Agrippa I. lässt Angehörige der christlichen Gemeinde in Jerusalem verhaften und foltern; der Apostel Jakobus wird enthauptet, Petrus gefangen genommen und scharf bewacht: „So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott. Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis. Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach: Steh schnell auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen“ (Apostelgeschichte 12,5-7; LUT)

Honthorst reduziert die Bilderzählung auf die beiden Hauptfiguren des biblischen Berichts, er verzichtet sowohl auf die Soldaten wie auch auf die Wachen vor dem Kerker. Selbst die Ketten, die von den Händen Petri fallen sollten, hängen nur an der Wand, um die Szene identifizieren zu können. Petrus weicht erschrocken zurück angesichts des Engels eintretenden Engels und des mit ihm unerwartet einfallenden Lichts. Der Apostel wird regelrecht scheinwerferartig angeleuchtet und die Szene damit in ein Helldunkel getaucht, das so viele Werke Caravaggios kennzeichnet. Petrus sitzt am Boden und fasst sich mit der linken Hand an die faltige Stirn, um sich vor dem hereinflutenden Helligkeit zu schützen. Das durch die geöffnete Tür in die dunkle Zelle eindringende Licht ergießt sich am ausgestreckten Arm des Engels entlang über das Antlitz des alten Mannes; dabei scheint der himmlische Bote soeben die Worte „Steh schnell auf!“ zu sprechen.

Caravaggio: Berufung des Matthäus (1599/1600); Rom, San Luigi dei Francesi
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Der ausgestreckte Arm des Engels ist ohne Frage eine Übernahme aus Caravaggios Berufung des Matthäus in der Kirche San Luigi die Francesi (Contarelli-Kapelle; siehe meinen Post „Heimgeleuchtet“), wo Christus mit dem gleichen Zeigegestus dargestellt wird. Auch der Effekt des Lichtstrahls, der das wundersame Ereignis unterstreicht, ist diesem Gemälde Caravaggios entnommen. Als Inspirationsquelle zu nennen wären ebenso Caravaggios Bilder Matthäus mit dem Engel (1599) und Christus im Garten Gethsemane (um 1605), die sich ehemals in Berlin befanden und 1945 bei einem Fliegerangriff zerstört wurden. Honthorst hat den Faltenwurf des rotbraunen Mantels von Petrus ähnlich angelegt wie den von Petrus im Vordergrund des Gethsemane-Gemäldes.

Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1602); Kriegsverlust
Caravaggio: Christus im Garten Gethemane (1605); Kriegsverlust
Auch ter Brugghen hat die Befreiung Petri dargestellt, allerdings in einem hochformatigen Gemälde (1624). Er nutzt ebenfalls das verlorene Altarbild Caravaggios mit dem von einem jugendlich-schönen Engel inspirierten Matthäus als Ausgangspunkt. Dabei drängt sich bei ter Brugghen der jugendliche Engel dem Evangelisten noch näher auf als in Caravaggios Vorlage. Die beiden Gestalten sind als Halbfiguren vor dunklem Hintergrund, das Format fast ausfüllend, nah und groß an den vorderen Bildrand gerückt. Der einfache, alte Fischer ist zutiefst erschrocken über das wundersame Geschehen. Den zahnlosen Mund vor Bestürzung  geöffnet, blicken seine weit aufgerissenen Augen verwirrt und fassungslos an dem Engel – nur die Ketten an seinen Handgelenken erinnern daran, dass wir hier den „Apostelfürsten“ vor uns haben. Der Engel berührt Petrus mit seiner Rechten an der Schulter, während die linke Hand nach oben weist – auf Gott, der ihn  gesandt hat. Wie Caravaggio betont ter Brugghen die Gegensätzlichkeit der beiden Protagonisten – rechts der greise Apostel mit wettergegerbtem, Gesicht und groben Händen, links der knabenhafte Engel mit heller Haut und schmalen Fingern.

Hendrick ter Brugghen: Die Befreiung Petri (1624); Den Haag, Mauritshuis
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Gerrit van Honthorst: Der Zahnarzt (1622); Dresden, Gemäldegalerie
Gerrit van Honthorst: Bei der Kupplerin (1625); Utrecht, Centraal Museum

Nachdem Honthorst 1620 nach Utrecht zurückgekehrt war, schuf er zunächst noch weitere Gemälde jener Art, mit der er sich in Italien einen Namen gemacht hatte, wie z. B. Der  Zahnarzt (1622) oder Bei der Kupplerin (1625). Er betrieb bald eine große Werkstatt mit zahlreichen Schülern. Honthorsts Figuren sind gegenüber denen Caravaggios erkennbar idealisierter – anders als das große Vorbild verzichtete er auf die Wiedergabe derber Gesichter und schrumpeliger Hautfalten. Sein Bildpersonal ist auch ästhetischer als das von Baburen und ter Brugghen, seine Malweise glatter und feiner, seine Kompositionen weiträumiger angelegt – und das traf den Geschmack der holländischen Aristokratie außergewöhnlich gut. Im Frühjahr 1628 reiste er für einige Monate nach London, wo er Aufträge vom englischen Hof erhielt, und nach 1630 fasste er zudem Fuß am Hof des Statthalters Friedrich Heinrich von Oranien und der Amalie zu Solms-Braunfels in Den Haag. Auch den König von Dänemark und den Kurfürsten von Brandenburg konnte er als Auftraggebern gewinnen. Bei seinem Tod 1656 hinterließ Honthorst mehr als 500 Gemälde, darunter etwa 200 Porträts.

Matthias Stomer: Befreiung Petri (1630/32); Zürich, Kunsthaus (für die Großansicht einfach anklicken)
Von dem niederländische Maler Matthias Stomer (um 1600–nach 1653), wahrscheinlich ein Schüler von Honthorst, kennen wir eine um 1630/32 entstandene Befreiung Petri, die sich deutlich an die Version seines mutmaßlichen Meisters anlehnt. Stomer reduziert das Geschehen ebenfalls auf zwei Figuren und behält auch deren Gestik bei, spiegelt die Komposition allerdings, d. h., der Engel tritt bei ihm von links auf. Übernommen wird auch die Lichtführung, also der durch die geöffnete Tür einfallende Lichtstrahl. Im Gegensatz zu Honthorsts flüssiger, glatter Malweise trägt Stomer seine Farben aber mit kurzen, pastos gesetzten Pinselstrichen auf, „die insbesondere in den Stoffen zu zackig markierten Faltengraten uns insgesamt zu unruhigen Oberflächen führen (Neumeister 2003, S. 212). Auch die gelblichen Farbwerte, die Honthorsts Nachtstück ihre tonale Harmonie und besondere Stimmung verleihen, werden von Stomer durch ein leuchtendes, stark lokalfarbiges Kolorit ersetzt.

 

Literaturhinweise

Dibbits, Taco: Die Utrechter Caravaggisten. In: Ausstellungskatalog Rembrandt – Caravaggio. Rijksmuseum Amsterdam und Van Gogh Museum 24. Februar bis 18. Juni 2006, Belser Verlag, Stuttgart 2006, S. 34-41;

Helmus, Liesbeth M.: Die Utrechter Caravaggisten: Eine Frage der Nachfolge und des Verbesserns. In: Bernd Ebert/Liesbeth H. Helmus (Hrsg.), Utrecht, Caravaggio und Europa. Hirmer Verlag, München 2018, S. 51-62;

Neumeister, Mirjam: Das Nachtstück mit Kunstlicht in der niederländischen Malerei und Graphik des 16. und 17. Jahrhunderts. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2003, S. 212-218;

Squarzina, Silvia Danesi: Caravaggio in Preußen. Die Sammlung Giustiniani und die Berliner Gemäldegalerie. Electa; Mailand 2001, S. 312-313;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

(zuletzt bearbeitet am 12. Juli 2023) 


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