Dienstag, 5. Oktober 2021

Die schönen Sünder – Tilman Riemenschneiders Würzburger Skulpturen von Adam und Eva

Tilman Riemenschneider: Eva (1492/93);
Würzburg, Mainfränkisches Museum
Tilman Riemenschneider, um 1465 in Heiligenstadt im Eichsfeld geboren, hat nicht nur herausragende Holzaltäre geschaffen, wie seine beiden berühmtesten in Creglingen und Rothenburg ob der Tauber oder auch den Münnerstädter Altar, sondern ebenso zahlreiche Steinbildwerke. Dazu zählen etwa die 1493 entstandenen Portalfiguren von Adam und Eva an der Marienkapelle in Würzburg sowie sein frühestes Werk, das Grabmal des Eberhard von Grumbach mit dem Todesdatum 1487, außerdem das Denkmal des Fürstbischofs Rudolf von Scherenberg von 1499 im Würzburger Dom, das Kaisergrabmal Heinrichs II. im Bamberger Dom (1499-1513) und schließlich das Relief der Beweinung Christi in Maidbronn (1520-1522). Riemenschneiders eigenhändige Arbeiten zeichnen sich dabei in höchstem Maß durch äußerste Präzision in der bildhauerischen Ausführung und der Wiedergabe von Details aus, wie sie von keinem anderen Meister dieser Zeit bekannt ist.

Tilman Riemenschneider: Adam (1492/93); Würzburg, Mainfränkisches Museum
Bereits 1483 kam Riemenschneider als junger Geselle nach Würzburg. 1485 wurde er selbständiger Meister und Bürger der Stadt und gründete seine eigene Werkstatt. In Würzburg blieb Riemenschneider nach einem sehr produktiven Arbeitsleben und vielen Ämtern, die er innehatte, bis zu seinem Tod am 7. Juli 1531. Sein erster archivarisch belegter Auftrag für Würzburg waren die bereits erwähnten überlebensgroßen Steinbildwerke Adams und Evas mit den dazugehörigen Konsolen und Tabernakeln über ihnen, die heute im Mainfränkischen Museum auf der Festung Marienberg ausgestellt sind. Seit 1975 befinden sich am ursprünglichen Aufstellungsort an der Marienkapelle von dem Bildhauer Ernst Singer geschaffene Kopien der Figuren. Riemenschneiders Figurenschmuck für die Marienkapelle ist nahezu der letzte große Auftrag für Kathedralplastik in Deutschland gewesen, die von der frühesten Gotik bis hierher an ihr Ende zu den wichtigsten Aufgaben der Bildhauerei gehörte.

Der 189 cm hohe Adam ist als schlanke, feingliedrige Gestalt mit breiten Schultern, bartlosem Gesicht und beeindruckender Lockenpracht dargestellt. Die schmale Hüfte ist nach links ausgestellt, der Blick aus mandelförmigen Augen leicht nach links oben gewandt. Adams Scham wird von einem Feigenblatt verdeckt. Seine geringelten Locken verdienen besondere Beachtung: Die einzelnen Strähnen sind à jour ausgeführt, sodass der Eindruck entsteht, sie wären aus Holz geschnitzt. Diese Haarbehandlung der tief unterschnittenen und durchbrochen gearbeiteten Locken ist charakteristisch für Riemenschneider.

Die mit 188 cm nur wenig kleinere Eva ist in Standmotiv und Körperhaltung spiegelbildlich zu Adam gestaltet. Gegenüber der beinahe knabenhaften Erscheinung des Mannes sind bei ihr mit nach rechts ausgestelltem Becken, rundem Bauch und kleinen Brüsten deutlich die weiblichen Körperformen betont. Evas Gesicht zeigt sich als fülliges Oval mit weichen Zügen, gerahmt von ihrem lang gewellten Haar, das von den Schultern bis zur Hüfte herabfällt. In der Hand des rechten angewinkelten Arms hält sie einen Apfel, zu ihren Füßen ringelt sich eine Schlange – beides eindeutige Hinweise auf den Sündenfall. Die beiden Gestalten entsprechen ganz dem Schönheitsideal der Spätgotik. Ohne festen Tritt, fast schwebend scheinen sie – einst eingebunden in ein architektonisches Gefüge – über dem knapp bemessenen Sockel zu stehen. Die gut erhaltenen Gesichter zeichnen sich durch zarteste Linien an Mund und Augen aus; selbst die inneren Augenwinkel sind durch kleine Kugeln markiert. Die Skulptur Adams wurde, gemeinsam mit der Figur des Evangelisten Johannes aus der Predella des Münnerstädter Altars, Vorbild für sämtliche Darstellungen jugendlicher Männer im Werk Riemenschneiders. Evas Gesichtstypus wiederum bildete die Vorlage für fast alle jugendlichen weiblichen Gestalten des Würzburger Meisters.

Tilman Riemenschneider: Der Evangelist Johannes (1490/92);
Berlin, Bode-Museum

Die Skulpturen sind in weiß-grauem Sandstein von gleichmäßiger, fleckenloser Struktur aus einem Werkblock und vollplastisch ausgearbeitet. Als Folge von Verwitterung ist bei beiden Figuren die ursprüngliche bildhauerische Oberfläche nur noch wenigen Stellen unversehrt; intakt sind – geschützt durch die Baldachine – allein noch die Köpfe, außerdem noch Partien von Adams rechter Schulter bis zum Bauch sowie von Evas linker Brusthälfte bis zum Bauch und linken Oberschenkel. An Adam wurden fast der gesamte rechte Arm und die Beine unterhalb der Knie ergänzt (einschließlich der Standfläche), bei Eva der rechte Arm ab Mitte des Oberarms, die Füße mitsamt der Standfläche sowie die Schlange. Alle sichtbaren Flächen und auch die Rückseiten zeigen in den noch intakten Bereichen eine glatte Oberfläche, die keinerlei Werkzeugspuren erahnen lässt.

Maria Magdalena (Münnerstädter Altar, 1490/92); München,
Bayerisches Nationalmuseum (für die Großansicht einfach anklicken)
In die oberen Teile der Baldachine fügte Riemenschneider über der Adam-Skulptur eine Verkündigungsgruppe und über der Statue der Eva eine Begegnung von Maria Magdalena mit Jesus am Ostermorgen ein, das sogenannte Noli me tangere. Die erhaltenen, stark verwitterten Fragmente wurden ebenfalls ins Mainfränkische Museum von Würzburg überführt. Inhaltlich verweist die Verkündigung darauf, dass die durch den Sündenfall in die Welt gekommene Erbsünde durch die Menschwerdung Christi, den „anderen Adam“, überwunden ist. Gegenüber wurde die bekehrte Sünderin Maria Magdalena in Beziehung zur Eva gesetzt. Parallel zu den Arbeiten für die Marienkapelle hat Riemenschneider die geschnitzte Magdalena des Münnerstädter Altars der steinernen Eva auch formal vergleichbar gestaltet.

Literaturhinweise

Buczynski, Bodo: Der Skulpturenschmuck Riemenschneiders für die Würzburger Marienkapelle. Eine Bestandsaufnahme. In: Claudia Lichte (Hrsg.), Tilmann Riemenschneider – Werke seiner Blütezeit. Verlag Schnell und Steiner, Regensburg 2004, S. 175-193;

Buczynski, Bodo: Oberflächen und Unterzeichnung – technologische Aspekte der Kunst um 1500. Die Steinbildwerke Tilman Riemenschneiders im technologischen Kontext zu Werken Niclaus Gerhaerts von Leyden. In: Tobias Kunz (Hrsg.), Nicht die Bibliothek. sondern das Auge. Westeuropäische Skulptur und Malerei an der Wende zur Neuzeit. Beiträge zu Ehren von Hartmut Krohm. Michael Imhof Verlag 2008, S. 187–206;

Krohm, Hartmut (Hrsg.): Zum Frühwerk Tilman Riemenschneiders. Eine Dokumentation. Dietrich Reimer Verlag,. Berlin 1982. S. 86-87

Tilman Riemenschneider: Frühe Werke. Ausstellung im Mainfränkischen Museum Würzburg vom 5. September bis 1. November 1981. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 1981.

(zuletzt bearbeitet am 10. Januar 2024) 

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