Freitag, 3. November 2023

Freundschaft unter südlicher Sonne – van Gogh porträtiert den Postmeister Joseph-Étienne Roulin

Vincent van Gogh: Joseph-Étienne Roulin (1889); Otterlo, Kröller-Müller Museum
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Zwischen Juli 1888 und April 1889 malte Vincent van Gogh (1853–1890) sechs Bildnisse von Joseph-Étienne Roulin, dem Postmeister am Bahnhof von Arles. Der „Briefträger“, wie ihn van Gogh in seinen Briefen nannte, war für den Künstler als enger Freund und „Personifizierung des gutmütigen und wohlwollenden Menschen der Provence“ (Moffett 1993, S. 168) sehr wichtig. Wahrscheinlich hatten sich van Gogh und Roulin im Café de la Gare kennengelernt, wo van Gogh von Mai bis Mitte September 1888 ein gemietetes Zimmer bewohnte, bevor er in das sogenannte Gelbe Haus nicht weit vom Haus der Familie Roulin zog. Verglichen mit dem Künstler waren die Roulins arm. Während van Gogh mit den 250 Francs nicht auskam, die er monatlich von seinem Bruder Theo aus Paris erhielt (davon musste er nicht einmal sein Malmaterial bezahlen), ernährte Roulin Frau und Kinder von 135 Francs Lohn, die er als Entreposeur des Postes verdiente.

Vincent van Gogh: Joseph-Étienne Roulin (1888); Boston, Museum of Fine Arts
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Van Gogh erwähnte Roulin zum ersten Mal in einem Brief, den er im August 1888 an seine Schwester Wilhelmina schrieb: „Jetzt arbeite ich am Porträt eines Briefträgers in seiner dunkelblauen Uniform mit Gelb. Ein Kopf, ein bisschen wie Sokrates, fast keine Nase, eine hohe Stirn, kahler Schädel, kleine graue Augen, sehr rote, volle Wangen, ein großer, graumelierter Bart, große Ohren“ (Sämtliche Briefe, Bd. 4, S. 48). Ende Juli und Anfang August malte van Gogh den zu dieser Zeit 47-jährigen Roulin in einem Sessel sitzend als Dreiviertelfigur. In der Komposition ähnelt das Bild dem gerade von ihm fertiggestellten Bildnis La Mousmé: Bei beiden Gemälden handelt es sich um ein Kniestück, bei dem das Modell auf einem Rohrstuhl mit geschwungener Arm- und Rückenlehne sitzt.

Vincent van Gogh: La Mousmé (1888); Washington D.C., National Gallery of Art
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Doch gibt es deutliche Unterschiede: Die „Mousmé“ ist stärker in den Vordergrund gerückt; „der Rohrstuhl umgibt das noch junge und zierliche Mädchen wie ein mächtiger Thron, auf dem die Dargestellte elegant und würdevoll sitzt“ (Arnold 1995, S. 162). Das gepunktete Kleid ist als Halbkreisfläche ohne jede Räumlichkeit angelegt. Roulin hingegen ist durch die Stellung seiner Beine vom Bildbetrachter weiter abgerückt. Breit sitzt er auf dem hier viel kleiner und zerbrechlicher wirkenden Rohrstuhl, seine rechte Hand etwas ungelenk auf die Armlehne gestützt, während sein linker Unterarm auf der Ecke des rechts im Bild erscheinenden Tisches ruht, der wie Sitzhaltung und Stuhl im Vordergrund Räumlichkeit suggeriert.

Vincent van Gogh: Joseph-Étienne Roulin (1888); Detroit, Detroit Institute of Arts
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Van Gogh vollendete in diesem Zeitraum auch ein Brustbildnis von Roulin. Es ist eine einfache Komposition: Der Dargestellte wird en face gezeigt, die Oberarme sind seitlich vom Bildrand angeschnitten. Dieses Bruststück weist einen hellblauen, kaum strukturierten Hintergrund auf. Der lange Doppelbart ist wie auf der Sitzfigur der gleichzeitig gemalten großen Fassung durch zahlreiche, verschiedenfarbige helle und dunkle Striche charakterisiert, das Gesicht hingegen seltsam ausdruckslos, längst nicht so lebendig wie auf dem Porträt mit Stuhl und Tisch.

Vincent van Gogh: Joseph-Étienne Roulin (1889); Winterthur, Kunst Museum
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Ende November und Anfang Dezember malte van Gogh den Postmeister erneut in einem Bruststück (Winterthur), und zwar im Zuge einer Porträtreihe, die Roulin, seine Ehefrau, ihre beiden Söhne und die Tochter im Babyalter wiedergibt. Die dunklere Figur Roulins erscheint silhouettenhaft vor einer hellen Hintergrundfolie, ähnlich wie bei dem vermutlich um diese Zeit entstandenen Porträt von Joseph-Michel Ginoux. „Den Farbklang der drei Grundfarben Blau, Gelb und Rot begleitet in Gesicht und Bart der Komplementärkontrast Rot/Grün, der durch die gebrochenen Farbtöne von Haut und Haaren gemildert wird“ (Arnold 1995, S. 163). Den indischgelben Flächenhintergrund setzte van Gogh setzte auch noch bei dem kleinen Porträt von Roulins Sohn Armand ein.

Vincent van Gogh: Joseph-Michel Ginoux (1888); Otterlo, Kröller-Müller Museum
Vincent van Gogh: Armand Roulin (1888); Privatsammlung
Van Gogh malte noch drei weitere Brustbildnisse von Roulin, wahrscheinlich Anfang 1889. Keines davon wird jedoch in seiner Korrespondenz des Winters 1888/89 erwähnt, in der sich sonst zu fast jedem Werk, das er zwischen Dezember und April malte, Hinweise finden. Wir besitzen somit keine genaue Kenntnis über die zeitliche Abfolge, in der die drei Porträts entstanden sind. Da der Hintergrund jeweils eine Variante der Blumentapete ist, wie van Gogh sie in den fünf verschiedenen Porträts von Madame Roulin mit dem Titel La Berceuse gemalt hat, die zwischen Dezember 1888 und Ende März oder Anfang April 1889 entstanden sind, sowie im Bildnis von Dr. Félix Rey, das van Gogh Anfang 1889 malte, werden die drei Roulin-Bildnisse meist der gleichen Schaffensperiode zugeordnet.

Vincent van Gogh: Joseph-Étienne Roulin (1889); New York, Museum of Modern Art
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Vincent van Gogh: Joseph-Étienne Roulin (1889), Philadelphia, Barnes Foundation
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Vergleicht man diese drei Versionen, dann hebt sich diejenige im New Yorker Museum of Modern Art erkennbar von den beiden anderen ab, weil die Oberfläche gründlicher bearbeitet wurde und der Hintergrund komplexer ausgeführt ist. Die Fassungen der Barnes Foundation und die in Otterlo zeigen beide auf der als Hintergrund verwendeten Tapete das dekorative Blumenmotiv, nicht aber das schuppenartige Muster, das sowohl auf dem New Yorker Bildnis als auch auf den fünf Versionen von La Berceuse zu sehen ist. Das Porträt aus der Barnes Foundation ist dabei die einzige signierte Version; am oberen Bildrand hat der Maler in Rot seinen Vornamen hinzugefügt. Einen Unterscheid gibt es auch bei der Farbe des Uniform-Besatzes: In den Fassungen von New York und Otterlo hat die Uniform einen gelben oder goldenen Besatz, auf der Leinwand der Barnes Foundation dagegen ist er dunkelblau oder schwarz. Falls es sich tatsächlich um eine andere Uniform handelt, ist es wahrscheinlich die, die van Gogh in einem Brief um den 22. Januar 1889 erwähnt; Roulin trug sie während seiner Abschiedsfeier, bevor er Arles verließ, um eine neue Stelle in Marseille anzutreten.

Vincent van Gogh: La Berceuse (1889); New York, Museum of Modern Art
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Vincent van Gogh: Dr. Félix Rey (1889); Moskau, Puschkin-Museum
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Die außerordentliche Stärke von Roulins Freundschaft und Loyalität zeigte sich besonders deutlich in den Tagen nach der bekannten Episode kurz vor Weihnachten 1888, als van Gogh nach einem heftigen Streit mit Paul Gauguin sein linkes Ohr verstümmelte und das abgetrennte Ohrläppchen einer Prostituierten in einem Bordell präsentierte. Roulin und seine Frau besuchten van Gogh während seiner Internierung im Krankenhaus, Roulin durfte van Gogh am 4. Januar für einen Besuch ins Gelbe Haus aufnehmen; er hielt Theo van Gogh über die Gesundung seines Bruders auf dem Laufenden und begleitete diesen, als er am 7. Januar aus dem Krankenhaus entlassen wurde – sie gingen an jenem Abend gemeinsam essen.

Van Gogh schuf in Arles 23 Bildnisse von Mitgliedern der Familie Roulin: Neben den sechs vom Postmeister existieren acht von Madame Roulin, von den Söhnen Armand und Camille jeweils drei, vom Säugling Marcelle fünf (davon zwei zusammen mit der Mutter). Wie hoch diese Zahl im Verhältnis ist, erkennt man daran, dass van Gogh in Arles insgesamt nur 43 Porträts malte.

Gabriele Münter: Knabenbildnis (1908); Köln, Museum Ludwig

Den immensen Einfluss, den das Werk van Goghs auf den deutschen Expressionismus hatte, ist hinlänglich bekannt. Das gilt auch für das Porträt – ein kleiner Beleg dafür ist mit jüngst im Kölner Museum Ludwig begegnet: Dort hängt ein von Gabriele Münter (1877–1962) 1908 geschaffenes kleines Knaben-Brustbildnis, das sich in seinem malerischen Duktus und vor allem in dem flächigen gelben Hintergrund eng an die entsprechenden Porträts von Armand und Joseph-Étienne Roulin anlehnt.


Literaturhinweise

Arnold, Matthias: Vincent van Gogh. Werk und Wirkung. Kindler Verlag, München 1995, S. 162-177;

Dorn, Roland: Die Zeit in Arles. Symbolik und Dekoration. In: Van Gogh. Die Porträts. DuMont Buchverlag, Köln 2000, S. 135-171;

Moffett, Charles S.: Vincent van Gogh, Joseph-Étienne Roulin. In: La joie de vivre. Die nie gesehenen Meisterwerke der Barnes Collection. Kindler Verlag, München 1993, S. 168-171;

van Gogh, Vincent: Sämtliche Briefe. 6 Bände. Lamuv-Verlag, Bornheim-Merten 1985.

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