Dienstag, 17. Dezember 2024

Ganz Erbarmen und Vergebung – Rembrandts Radierung von der „Heimkehr des verlorenen Sohnes“ (1636)

Rembrandt: Heimkehr des verlorenen Sohnes (1636); Radierung
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Wie viele Künstler vor und nach ihm hat auch Rembrandt (1606–1669) das berühmte biblische Gleichnis (Lukas 15,11-32) bildlich umgesetzt. In einer bewegenden Radierung von 1636 illustriert er die Textstelle, an der es heißt: „Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn“ (Lukas 15,20; LUT). Doch anders als in der neutestamentlichen Erzählung ist der Sohn jedoch bereits an der Türschwelle des Elternhauses angelangt, als der Vater ihn empfängt. Die große Spannbreite seines Schrittes zeigt, wie eilig er es hatte, seinem Sohn entgegenzulaufen. „Die Art, wie er sich über seinen Sohn beugt und ihn umarmt, drückt aus, dass er ihn am liebsten daran gehindert hätte, auf die Knie zu fallen, und ihn möglichst schnell wieder aufrichten will“ (Kreutzer 2003, S. 126).

Dirck Volckertsz. Coornhert nach Maarten van Heemskerck:
Rückkehr des verlorenen Sohnes (um 1548); Kupferstich

Rembrandt hat sich bei seiner Radierung eng an einen älteren Kupferstich von Dirck Volckertsz. Coornhert nach Maarten van Heemskerck aus der Zeit um 1548 angelehnt – in der Hauptgruppe, im Szenarium und selbst in den Nebenepisoden, die das noch folgende, zur Feier der Heimkehr ausgerichtete Mahl und die Klage des älteren Bruders andeuten. In der Vorlage sieht man den bärtigen Vater an der Pforte seines Hauses die Treppen hinabeilen, um den als reuigen Sünder heimgekehrten Sohn, der vor ihm niederkniet, zu sich emporzuheben. Hinter ihnen stehen im Hauseingang drei Gestalten, darunter ein Bärtiger, der auf einen nur ausschnitthaft sichtbaren bartlosen Mann weist. Wahrscheinlich ist damit der ältere Sohn gemeint, der sich bei seinem Vater beklagen wird, dass um den Zurückgekehrten so viel Aufhebens gemacht werde, während er treu gedient und geschuftet habe, leer ausgehe. Am linken Bildrand erkennt man unter einem Torbogen in der Ferne das Mastkalb, das für das Fest geschlachtet werden soll.

Rembrandt übernimmt zwar viele Elemente der Komposition, verändert aber den Raumausschnitt, vor allem aber gestaltet er das Wiedersehen deutlich emotionaler: Der verwahrloste, völlig zerknirschte Sohn hat die Arme, inbrünstig um Verzeihung bittend, erhoben, der Vater, ganz Erbarmen und Vergebung, hat ihn bereits in die Arme geschlossen. Die beiden bilden eine geschlossene Gruppe; sie sind formal in ein gleichmäßiges Dreieck eingeschrieben und werden von einer dicken Mauer hinterfangen. Doch sind die beiden Gestalten nicht statisch dargestellt, sondern inmitten eines Bewegungsablaufs: Der Sohn, dessen von Hunger ausgezehrten Körper Rembrandt realistisch wiedergibt, ist auf den Treppenstufen auf die Knie gefallen, während der Vater sogleich zu ihm hineilt, ihn mit der Rechten umarmt und ihn mit seiner Linken wieder aufrichten will. Der Fokus von Rembrandts Grafik liegt ganz auf den Gesichtern der beiden Hauptpersonen.

Eine Magd hat das Fenster geöffnet, um das Geschehen vor dem Hauseingang zu verfolgen Zwei Knechte eilen im Inneren eine Treppe herab: Auf Geheiß des Vaters tragen sie – anders als bei van Heemskerck – Ring, Schuhe und Gewand für den barfüßigen Sohn herbei, der bis auf ein umgebundenes Tuch gänzlich nackt ist. Das Motiv des weit ausschreitenden Vaters, dessen erhobener Fuß in den Pantoffeln sichtbar wird, hat Rembrandt wiederum der Vorlage von van Heemskerck entlehnt.

Der Augenpunkt der Betrachtenden befindet sich, bedingt durch die Treppenkonstruktion, unterhalb der Szene, der wir direkt gegenüberstehen. Der Wanderstab, den der Sohn neben sich abgelegt hat, verweist darauf, dass er aus der weiten Welt zurückgekehrt ist, und zwar nicht nur auf einer Symbolebene, sondern auch bildlich, da er nach hinten über den Knienden hinausragt und den Blick auf die tiefer liegende Landschaft lenkt, die durch den Torbogen im linken Bilddrittel sichtbar wird. „Daß die Landschaft in Rembrandts Radierung so tief liegt, dürfte ein Hinweis darauf sein, daß der Sohn in dieser weiten Welt auf dem Tiefpunkt seines Lebens angelangt war: Als Schweinehirt – auch als solchen zeichnet der Stab ihn aus – mußte er fremden Herren dienen“ (Stückelberger 1996, S. 130).

Auch das Kleingedruckte hat Gewicht bei Rembrandt

Der Ausblick in die hügelige Landschaft links ist nur skizzenhaft angedeutet, wodurch Rembrandt den Effekt grellen Sonnenscheins erzielt. In dieser Landschaft finden wir gleichzeitig einen Hinweis auf den Fortgang der Geschichte, und zwar in dem Hirten, der die Rinder hütet. Auch er ist nicht bloß Staffage – die Figur muss mit dem Geschehen zu tun haben, denn Rembrandt setzt sie mit dem heimkehrenden Sohn bildlich in Beziehung: Der kurze Schatten, den dessen Wanderstab auf die Treppe wirft, weist zusammen mit der Plattenfuge, die ihn nach rückwärts verlängert, genau auf den Hirten. Nun muss man allerdings die Geschichte kennen, um diesen als den Bruder zu identifizieren, der – vom Feld zurückgekehrt – das Verhalten des Vaters missbilligen wird. „Das Bild sagt uns aber doch soviel, daß die Rückkehr des verlorenen Sohnes einen Schatten wirft, der mit jenem Hirten zusammenhängt“ (Stückelberger 1996, S. 130). Der ältere Bruder ist eine entscheidende Figur innerhalb des Gleichnisses, denn seine Reaktion zeigt, dass die Barmherzigkeit des Vaters – mit dem ohne Zweifel Gott gemeint ist –, der den Sünder ohne Vorhaltungen und freudig wieder aufnimmt, für den Menschen unbegreiflich sein muss. „Denn Gottes Gnade, so verdeutlicht das Gleichnis, ist unverhältnismäßig. Sie verhält sich weder proportional zu den Taten der Menschen noch lässt sie sich erzwingen“ (Müller 2017, S. 194).

Eine Signatur als Statement

Genau über dem Knauf des Wanderstabs und fast mittig unter dem Figurenpaar von Vater und Sohn hat Rembrandt sein „Rembrandt f. 1636“ angebracht. „Die Signatur an einer derartig zentralen Stelle im Bild unterstreicht vielleicht die Bedeutung des Themas für Rembrandt, die mit einer Sympathie für die aus der Gesellschaft Ausgestoßenen einherging und als die die Bettler, die Rembrandt in Figurenstudien häufig abbildete, ebenfalls zu interpretieren sind“ (Kreutzer 2003, S. 126).

Rembrandt: Kreuzigung (1635); Radierung
Rembrandt: Enthauptung Johannes des TÄufers (1640); Radierung

Die Gestalt des büßenden Sohnes kommt als Typus eines männlichen Aktes, an dessen Körper Strapazen und Entbehrungen sichtbar sind, begegnet in Rembrandts gesamter Schaffenszeit. So stellen z. B. der Christus in der Kreuzigung von 1635 oder die Enthauptung Johannes des Täufers von 1640 den gleichen Figurentyp dar.

Rembrandt: Heimkehr des verlorenen Sohnes (um 1666/69); St. Petersburg, Eremitage

Wenige Jahre vor seinem Tod hat Rembrandt das Gleichnis vom verlorenen Sohn nochmals in einem großformatigen Gemälde umgesetzt – es ist das berühmte Bild aus der Eremitage in St. Petersburg. Rembrandt hat ein Hochformat gewählt, und Vertikale bestimmen auch die Bildstruktur. Die steile Gruppe von Vater und Sohn wird von einer dunklen Toröffnung hinterfangen und durch den Torbogen bekrönt. Aus dem Eingang des Hauses lugen Frauenköpfe hervor, die aber ganz in Dämmerlicht gehüllt sind. Die Arme des Vaters bilden eine Rautenform, die den Kopf des reuigen Sünders wie einen Schutzwall umschließt. Die Szene der Umarmung hat aber noch mehr Augenzeugen: Neben einem im Halbdunkel Sitzenden ragt die Gestalt eines bärtigen Mannes in die Höhe, dessen Antlitz hell beleuchtet ist. Es kann wohl nur der ältere Bruder gemeint sein.

 

Literaturhinweise

Kreutzer, Maria: Rembrandt und die Bibel. Radierungen, Zeichnungen, Kommentare. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2003, S. 126;

Müller, Jürgen: Die Rückkehr des verlorenen Sohnes (1636). In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 194;

Sevcik, Anja K. (Hrsg.): Inside Rembrandt 1606 – 1669. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2019, S. 269;

Stückelberger, Johannes: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900. Wilhelm Fink Verlag, München 1996.

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.


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