Samstag, 21. Dezember 2024

Das bunte Ende der Welt – Luca Signorellis Fresken in der Cappella Nova im Dom von Orvieto

Luca Signorellis gewaltiges Endzeitdrama in ihren verschiedenen Phasen und Schauplätzen

In den Jahren 1499 bis 1502 schuf der italienische Maler Luca Signorelli (1441–1523) in der Cappella Nova des Doms von Orvieto einen der beeindruckendsten Freskenzyklen der italienischen Renaissance. Niemals zuvor war eine so große Fläche in so kurzer Zeit von einem einzigen Meister bemalt worden. Signorelli hatte damit einen Rekord aufgestellt, der erst von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle übertroffen wurde. Dies gilt auch für die handwerkliche und künstlerische Qualität seiner Fresken. „Obwohl er hier – wie bei Aufträgen dieses Umfangs üblich – mit Sicherheit von Gehilfen unterstützt wurde, trägt die gesamte Ausmalung so sehr den Stempel seines markanten und zeichnerisch brillanten Stils, daß die Anteile der Werkstatt kaum auszumachen sind“ (Roettgen 1997, S. 388). Eine derart umfangreiche, in die verschiedenen Phasen und Schauplätze des biblischen Endzeitdramas zerlegte Darstellung hatte es in der Malerei zuvor nicht gegeben.

Der Dom von Orivieto – für sich schon ein Hingucker ersten Ranges

Die Cappella Nova wurde zwischen 1408 und 1444 am nordöstlichen Ende des Doms als Anbau über einem rechteckigen, fast quadratischen Grundriss errichtet. Der Besucher betritt den Kapellenraum durch ein Rundbogentor und sieht sich überaus prächtig geschmückten Wänden gegenüber. Über einer umlaufenden Sockelzone, die etwa die Hälfte der Wandfläche einnimmt und ornamentreiche Architektur in Malerei vortäuscht, blickt er auf die in das Gewölbe hineinragenden Lünetten mit den figurenreichen Malereien Signorellis. Die Bildfelder werden von den Mittelrippen der Gewölbe eingefasst, die zunächst vollplastisch und dann als illusionistisch gemalte Säulen fortgeführt werden. Weitere Malereien Signorellis überziehen die in jeweils vier Segmente unterteilten Gewölbe. Vom Eingang fällt der Blick zunächst auf die Südwand der Kapelle, wo sich über dem von zwei Rundbogenfenstern flankierten Hochaltar noch ein Spitzbogenfenster befindet. Während in der Hälfte der Kapelle, in der sich der Eingang befindet, die letzten Tage der Menschheit und die Auferstehung der Toten geschildert werden, stellte Signorelli im Altarbereich das Jüngste Gericht dar, über dem Christus als Weltenherrscher thront.

Luca Signorelli: Die Taten des Antichrist (für die Großansicht einfach anklicken)

Der Freskenzyklus beginnt mit den Taten des Antichrist auf der vorderen Hälfte der Ostwand. Der Antichrist ist dem biblischen Buch der Offenbarung zufolge der in der Endzeit als Zeichen für die Wiederkunft Christi und das Weltgericht auftretende Mensch, der als Werkzeug Satans durch Scheinwunder einen gewaltigen Glaubensabfall verursachen, aber von Christus vernichtet werden wird. Signorelli hat dieser Figur christusähnliche Züge verliehen, „die ihn als Parodie des Heilands erscheinen lassen und ihm eine eigentümlich diabolische Wirkung verleihen“ (Bokern 1999, S. 17). Auf den zweiten Blick erkennt man, dass sich unter seinen Haaren lange, spitze Ohren verbergen. Der Antichrist steht auf einem Sockel im Vordergrund, und Satan, der neben ihm steht, flüstert ihm die Predigt direkt ins Ohr. Die beiden Figuren verschmelzen miteinander, zumal Satan keinen Unterleib hat und sich kaum bestimmen lässt, ob der linke Arm dem Antichrist oder seinem Einflüsterer gehört. Um ihn herum hat sich seine Anhängerschaft versammelt, die wertvolle Gaben zu seinen Füßen abgelegt hat. Zur Linken des Antichrist erwürgt ein mit einer gestreiften Hose bekleideter Scherge einen Gegner des falschen Christus, während daneben ein Jude in kostbaren Gewändern einer Frau Geld aus seiner Börse überreicht. Die den Antichrist umgebenden Zuhörer setzen sich aus Menschen aller Schichten und Alter zusammen; es sollen aber auch zahlreiche historische Porträts unter den Zuschauern zu identifizieren sein.

Der Antichrist mit dem einflüsternden Satan

Ausgehend von der zentralen Szene, wird der Blick des Betrachters in einer Kreisbewegung nach rechts um das eigentümlich leere Zentrum des Freskos herum durch das Bild geleitet. Direkt hinter der Figur des Antichrist erblicken wir eine Gruppe glaubenstreuer Mönche, deren Anführer bereits gen Himmel auf das kommende Ende des falschen Christus durch das Schwert des Erzengels Michael hinweist. Rechts hinter den Mönchen ist die Ermordung zweier Widersacher des Antichrist von dem Tempel Salomos zu beobachten, bei denen es sich vermutlich um die biblischen Propheten Enoch und Elias handelt – jene zwei Zeugen aus der Johannes-Offenbarung, die der Überlieferung zufolge von den Anhängern des Antichrist erschlagen werden. Der Tempel Salomos, das traditionelle Sinnbild der Kirche, wird von mit Lanzen bewehrten Soldaten gestürmt. Von hier aus wird der Blick des Betrachters nach links gelenkt, wo eine der falschen Wundertaten des Antichrist zu sehen ist, der in Nachahmung Christi einen Toten zum Leben erweckt.

Die letzte dargestellte Episode schildert die Niederlage des Antichrist und der Armeen von Gog und Magog gegen den Erzengel Michael, der den falschen Propheten mit einem Schwert niederschlägt, als dieser versucht, die hochmütigste seiner Taten zu begehen, nämlich in den Himmel aufzufahren. Der in extremer Verkürzung dargestellte, von einer Strahlenaureole umhüllte Erzengel stürzt mit einem Hieb seines Schwertes den Frevler direkt in das Heer seiner grausamen Helfer hinab, die nun vom göttlichen Strafgericht ereilt werden. Als stiller Beobachter der Szenerie hat Signorelli unten links ein Selbstporträt eingefügt, ebenso das eines Dominikanermönches, bei dem es sich vermutlich um Fra Angelico (1395–1455) handelt. Fra Angelico war im Juni 1447 mit der Ausmalung des Gewölbes beauftragt worden und hatte den thronenden Christus als Weltenrichter geschaffen, der umgeben wird von Engelschören und Propheten. Nach 1449 waren dann keine Maler mehr in der Kapelle tätig, die Freskierung wurde dann erst wieder 1499 von Signorelli fortgesetzt.

Luca Signorelli: Das Ende der Welt (für die Großansicht einfach anklicken)

Der Zyklus setzt sich mit dem Ende der Welt fort, das zur Linken des Antichrist-Freskos um den Eingang der Kapelle herum angeordnet ist. Den Übergang vom vorhergehenden Fresko bilden die Figuren einer Sibylle, die in einem Buch mit ihren Prophezeiungen blättert, sowie eines predigenden Propheten, der auf das kommende Unheil weist, und einiger gebannter Zuhörer. Nach der Flut und dem Brand der Meere und Flüsse schwitzen Bäume und Pflanzen Blut, stürzen die Gebäude ein (der Tempel Salomos liegt nun in Ruinen), zerbrechen die Felsen. Dann bebt die Erde und tut sich auf, Berge stürzen ein, die Menschen fliehen aus ihren Unterschlüpfen, und die Erde spuckt die Toten aus.

Bevor das Weltgericht beginnt, fallen die Sterne vom Himmel, stirbt alles Lebendige, und Himmel und Erde brennen. Signorelli lässt diesen Schlussakt mit der Verdunkelung von Sonne und Mond beginnen und mit einem vom Himmel fallenden Blutregen. Besonders effektvoll sind die vier Feuerströme, die die geflügelten Dämonen Im linken oberen Bereich des Freskos auf die Menschenmenge herabspeien (Offenbarung 8,7). Die Menschen kommen aus ihren Verstecken hervor – die Ausweglosigkeit ihres Schicksals zeigt sich daran, dass sich überall das gleiche Verzweiflungsdrama abspielt. Am deutlichsten wird dies an der explosiven Dynamik der Figuren im Vordergrund, die, von dem längsten Feuerstrahl getroffen, zu Boden gestürzt sind und von den Fliehenden zertreten werden.

Luca Signorelli: Auferstehung der Toten (für die Großansicht einfach anklicken)

Die aus dem linken Bildrand flüchtenden Figuren leiten über zur Darstellung der Auferstehung der Toten, die sich direkt gegenüber der Taten des Antichrist befindet. Im oberen Teil dieses Freskos präsentieren sich dem Betrachter zwei große apokalyptische Engel, die auf Posaunen blasen, von denen Fahnen mit dem Kreuz der Auferstehung wehen. Es ist der Auftakt zur Auferstehung der Toten, die sich im unteren Teil des Freskos ereignet. Die Skelette erheben sich aus der Erde, wie es in einer Vision des alttestamentlichen Propheten Hesekiel vorhergesagt wird: „Des Herrn Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des Herrn und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt. […] Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich und die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. […] Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer“ (Hesekiel 37,1-10; LUT). Die Körper sind in den verschiedenen Stadien ihrer Fleischwerdung dargestellt: Während manche bereits wieder wie lebendige Menschen aussehen, sind andere noch Skelette. Auf traditionellen Darstellungen der Auferstehung stiegen die Toten aus ihren geöffneten Gräbern und Särgen; Signorellis Auferstehende erheben sich dagegen aus einer glatten, harten Fläche und blicken voller Hoffnung gen Himmel zu den beiden von Putten begleiteten Engeln. Das Fresko vermittelt den Eindruck zeitloser Ruhe vor dem tosenden Chaos des Weltgerichts.

Fra Angelico: Christus der Weltenrichter (für die Großansicht einfach anklicken)

In der Gewölbekappe über dem Altar thront der von anbetenden Engeln umgebene Christus als Weltenrichter in einer aus Wolken gebildeten Mandorla. Seine Seitenwunde ist deutlich sichtbar, und in der Linken hält er die von einem Kreuz bekrönte blaue Himmelskugel, die ihn ebenso wie der Kreuznimbus als Herrscher über das All (Pantokrator) ausweist. Christus gegenüber erscheinen die. Die erhobene Rechte Christi mit dem Wundmal und sein Blick sind auf die Verdammten gerichtet, die zu seiner Linken von Teufeln zum Eingang der Hölle getrieben werden. Getrennt durch das Fenster, ist zur Rechten Christi (d. h. auf der linken Altarwand) die Berufung der Erwählten dargestellt. Diese auf der Altarwand vollzogene Scheidung zwischen Gut und Böse, Himmel und Hölle, findet ihre inhaltliche Ergänzung auf den jeweils anschließenden Bildfeldern der Seitenwände.

In den Kappen der Wölbung sind Gruppen von Propheten, Patriarchen, Aposteln, Märtyrern und Jungfrauen dargestellt, die den Weltenrichter umgeben. Sie werden in der Johannes-Offenbarung beschrieben und vertreten das Reich Gottes, was sich daran zeigt, dass diese Felder mit einem geschlossenen Goldgrund hinterlegt sind. Um ihre Identifizierung zu erleichtern, hat Signorelli sie mit lateinischen Inschriften versehen. Maria ist der Gewölbekappe zur Rechten Christi mit den zwölf Aposteln zugeordnet, die Petrus und Paulus als Beisitzer des Weltgerichts anführen, während Johannes der Täufer in dem noch von Fra Angelico gemalten gegenüberliegen Feld mit den 16 Propheten erscheint. Maria und Johannes verweisen durch ihre herausgehobene Position zu Seiten Christi auf das für das Jüngste Gericht entscheidende Motiv der Fürbitte. In der vierten Gewölbekappe dieses Joches sind zehn Engel mit den Arma Christi zu sehen, also den auf die Passion Christi verweisenden Leidenswerkzeuge. Die kompakte Darstellung der Figurengruppen ist eine bedeutsame ikonographische und formale Neuerung in der Kunst des 15. Jahrhunderts. Fra Angelico hat mit seinen Fresken den „Prototypus des Allerheiligenhimmels geschaffen, der insbesondere nach der Gegenreformation in der Ausmalung von Kuppeln barocker Kirchen zu einem dominierenden Thema wurde“ (Roettgen 1997, S. 390). In den Zwickeln der Gewölbekappen steht je eine Posaune blasender Engel – sie verweisen auf die Auferstehung der Toten aus ihren Gräbern. Signorelli hat sie auf der rechten Wand dann nochmals wiederholt.

Luca Signorelli: Eintritt der Seligen in den Himmel (für die Großansicht einfach anklicken)

Zu beiden Seiten Christi werden an den Wänden die Ereignisse geschildert, die dem Jüngsten Gericht folgen: An der Ostwand, zur rechten Jesu, zeigt Signorelli die Krönung der Auserwählten, auf der östlichen Hälfte der Altarwand den Eintritt der Seligen in den Himmel. Wie die Auferstehenden sind auch die die nahezu unbekleideten Seligen Auserwählten alle im idealen Alter von etwa dreißig Jahren dargestellt. Auffallende viel Menschenpaare stehen beieinander, die an Adam und Eva erinnern, jedoch anonym bleiben. Einige von ihnen werden von den Engeln gekrönt, musikalisch begleitet von einem auf Wolken thronenden Engelorchester mit Saiteninstrumenten. Auch auf dem schmalen Wandfeld der Altarwand werden die Erwählten von musizierenden Engeln empfangen. Überhaupt spielen Engel in diesem Freskenzyklus eine beherrschende Rolle. „Diese betonte Rolle der Engel entspricht der Offenbarung des Johannes, die als Grundlage der bildlichen Darstellungen des Jüngsten Gerichts anzusehen ist“ (Roettgen 1997, S. 392). Engel schützen und betreuen nicht nur die Auserwählten, sie überantworten auch die verdammten ihrem Schicksal. Nie zuvor sind sie jedoch in so martialischer Aufmachung dargestellt werden – ganz in Eisen gerüstet, erfüllen die Heerscharen des Weltenrichters ihre Aufgabe.

Luca Signorelli: Die Verdammten (für die Großansicht einfach anklicken)

Zur Linken Christi sind dagegen an der Seitenwand Die Verdammten zu sehen, die von Dämonen grausam gequält und ins Höllenfeuer geworfen werden, Drei im Himmel stehende Engel überwachen das höllische Chaos und halten sich mit ihren Schwertern zudringliche Teufel vom Leib. Zwei nackte Leiber stürzen von oben rücklings in das Flammenmeer des Höllenschlundes, der sich auf der linken Seite auftut, während ein anderer Teufel eine junge Frau auf seinem Rücken gefesselt hat und mit ihr durch die Luft fliegt. An der Altarwand findet der ebenfalls von zwei großen Engeln bewachte Eintritt der Verdammten in die Hölle statt, bei dem im Vordergrund ein Dämon einen Verdammten mit der Linken an den Haaren reißt und mit der Rechten auf ihn einschlägt.

Signorellis Teufel haben bis auf ihre grellen Farben und ihre wilden Gesichter ein geradezu menschliches Aussehen, wodurch sie zwar den Schrecken des Dämonischen und Phantastischen verlieren, aber umso unheimlicher wirken. Das Neuartige an diesen Höllenwesen ist ihre körperliche Vollkommenheit: „Satan und seine Diener treten als faszinierende Verführer auf, die noch eine Ahnung davon vermitteln, daß sie einst Engel waren“ (Roettgen 1997, S. 393). Ebenso wohlgestaltet sind ihre Opfer: Ihre wohlproportionierten und muskulösen Körper weisen keinerlei Anzeichen der ihnen angetanen Qualen auf. Lediglich ihr Gesichtsausdruck gibt eine Vorstellung von ihren körperlichen Leiden. Der Boden, auf dem die Menschen stehen, ist im Höllenbild in starker Aufsicht wiedergegeben, die eine Staffelung der dicht gedrängten Figurengruppen bis in den Mittelgrund ermöglicht. Die riesigen, frei in der Luft stehenden Engel erscheinen frontalansichtig, die herabstürzenden Teufel und Menschen dagegen in starker Untersicht.

Signorelli übernimmt Motive aus Dantes Divina Commedia

Im Zentrum des Eintritts in die Hölle ist der Fährmann Charon dargestellt, der im Inferno von Dantes Divina Commedia die Schatten der Toten über den Fluss in die Unterwelt geleitet. Bei der Gruppe der Verzweifelten auf dem rechten Ufer des Flusses handelt es sich um die Niederträchtigen, die dazu verdammt sind, ewig umherzuirren und die noch nicht einmal in der Hölle Aufnahme finden. Den Vordergrund nimmt eine höchst dramatische Szene ein, in der ein Teufel einen wehrlos auf dem Boden liegenden Mann massakriert. Hinter ihm erkennt man den Grimassen schneidenden Minos, nach Dante der Wächter des Höllentores und Richter der Sünder, an dem mehrfach um seinen Leib gewundenen Schwanz. Szenen aus der Divina Commedia in die christliche Ikonografie des Jüngsten Gerichts einzubeziehen, ist eine der erstaunlichsten Neuerungen, die Signorelli seinen Fresken hinzufügte. An der östlichen Seiten- und an der Altarwand finden sich weitere elf Szenen aus Dantes Werk, nun in Grisaille-Malerei ausgeführt. Sie illustrieren das Purgatorio, Dantes Fegefeuer, das die Vorstufe zum Himmelreich und damit einen Ort des Übergangs zwischen Leben und Tod bildet.

In der Sockelzone der Kapelle hat Signorelli sechs Dichter porträtiert, darunter auch Dante, der hier als einziger neuzeitlicher Autor zwischen antiken Poeten erscheint. Beinahe alle Dichter sitzen an schreibpultartigen Fenstersimsen und sind von Büchern umgeben; ihre Bildnisse werden von Grotesken, aber auch von Grisaille-Szenen umfangen, die Werke des jeweiligen Autors verbildlichen. Die Identifikation der einzelnen Dichterporträts ist allerdings äußerst umstritten.

Luca Signorelli: Dante

Die Fresken an den Seitenwänden des Eingangsbereichs sind, beginnend mit den Taten des Antichrist, in ihrer historisch-dramatischen Abfolge horizontal im Uhrzeigersinn zu betrachten. Mit dem Ende der Geschichte endet auch die Chronologie der Fresken: Im Altarbereich der Kapelle, dessen Szenarien im Gegensatz zur irdischen Umgebung nun in eine himmlische Sphäre versetzt sind, gibt es keine zeitliche Ordnung, das Zentrum ist Christus. „Es entsteht so ein Kontrast zwischen Welt und Geschichte gegenüber Jenseits und Ewigkeit“ (Bokern 1999, S. 20). Die auf den Fresken gezeigten Szenen sollen als simultan ablaufende Ereignisse des Weltgerichtsdramas betrachtet werden. Daraus erklärt sich der ähnliche kompositionelle Aufbau der beiden einander gegenüberstehenden Bildfelder mit den Freuden der Erwählten und den Qualen der Verdammten: Der Harmonie des Paradieses steht das Chaos der Hölle gegenüber, jeweils überfangen von dem himmlischen Aktionsfeld der Engel, formal verbunden durch die parallele Anordnung der gedrängten Masse nackter Leiber.

Signorelli hat unterschiedliche Goldgründe verwendet, um zwischen den verschiedenen Realitätsebenen zu differenzieren: Das Gewölbe und die Gerichtswand sowie die Szene mit den Erwählten haben einen einheitlichen Goldgrund. In der Szene mit der Auferstehung der Toten stehen die riesigen, Posaune blasenden Engel vor einem „gepunzten“ Goldgrund, während die untere Zone ebenso wie die Szene mit dem Antichrist und des Weltuntergangs von einem weißgrundigen Wolkenhimmel hinterfangen wird. „Der bleierne Himmel, der über den Taten des Antichrist liegt, ist ein Attribut des Irdischen, desgleichen die Gebäude und die Landschaft, die den Mittel- und Hintergrund dieser Szene und des Weltendes auf der Eingangswand einnehmen“ (Roettgen 1997, S. 391). Während also die Szenen mit Goldgrund letztlich eine Vision vor Augen stellen, ist hier ein Ausblick in die diesseitige Welt gemeint.

Ein wichtiger Ausgangspunkt für den Zuschnitt der Fresken in der Cappella Nova dürfte die Wandgliederung der Sixtinischen Kapelle gewesen sein, an deren Ausmalung Signorelli mitgearbeitet hatte. Die enorme Höhe der Kapelle – mit 13,90 Metern bleibt sie nur wenig unter der Sixtina – hat Signorelli dadurch bewältigt, dass er der Sockelzone eine sonst nicht übliche Höhe und Gestaltung gab. Indem er außerdem die Lünetten über die Konsolen der Gewölbedienste hinaus nach unten zog, wurden aus den Bogenfüllungen großflächige Wandfelder. Die Gliederung des Raumes in zwei Joche setzt sich in der Wandgliederung fort, indem die Gewölbekonsolen auf gemalte Kleeblattpfeiler gestellt sind, die bis zur Fußleiste der Bildfelder bzw. bis zur Oberkante des gemalten Gesimses reichen. Es trennt die beiden Bildregister voneinander und schafft einen horizontalen Ausgleich zur Höhe des Raumes. Die seitlichen Rahmungen der Bildfelder sind wie Fensterlaibungen in perspektivischer Untersicht gegeben, wobei die fiktiven Öffnungen so gestaltet sind, dass sie sich hinter den real vorhandenen Gewölberippen zu befinden scheinen. Somit ergibt sich zwischen den Bogenöffnungen und der vordersten Bildebene eine Bühne, auf der einige Figuren besonders weit in den Vordergrund rücken. Der Boden, auf dem die Figuren stehen bzw. liegen, reicht teilweise bis an die vorderste Kante des Gesimses heran, das die Sockelzone abschließt. Signorelli stellt hier seine meisterhafte Beherrschung der Perspektivmalerei unter Beweis.

Michael Wolgemut Predigt des Antichrist (1493); Holzschnitt
Michelangelo übernimmt in seinem Jüngsten Gericht die Figuren Charon und Minos von Signorelli

Die Thematik des Antichrist war im 15. Jahrhundert sehr populär und wurde insbesondere in der Druckgrafik des Nordens häufig dargestellt. Als mögliches Vorbild für Signorelli Fresko wurde mehrfach auf den Holzschnitt von Michael Wolgemut (1434–1519) hingewiesen, der in der sehr verbreiteten Weltchronik von Hartmann Schedel enthalten ist. Michelangelo wiederum fand bei Signorelli Anregungen für sein Jüngstes Gericht in der Sixtina: So hat er etwa das Motiv der helfenden Hände für die aufsteigenden Erlösten übernommen, die auferstehenden Skelette, den Verdammten als Rückenlast des Teufels und schließlich auch den konzeptionellen Gedanken, die biblische Hölle mit Elementen aus Dantes Inferno auszustatten, wie etwa den Charonnachen und den Höllenwächter Minos.

 

Literaturhinweise

Bokern, Anneke: »Nun wird keine Zeit mehr sein«. Luca Signorellis Fresken in Orvieto, der Millenniarismus und das Jahr 1500. In: Anneke Bokern/Petra Gördüren, Die letzten Dinge. Jahrhundertwende und Jahrhundertende in der Bildenden Kunst um 1500 und 2000. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1999, S. 15-49;

Roettgen, Steffi: Wandmalerei der Frührenaissance in Italien. Band II: Die Blütezeit 1470–1510. Hirmer Verlag, München 1997, S. 384-421;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

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