Mittwoch, 26. Februar 2025

Alt, einsam und dunkel nachsinnend – die „Pietà“ der Käthe Kollwitz

Käthe Kollwitz: Pietà (1937-1939); Köln, Käthe Kollwitz Museum
(H 38,6 x B 28,8 x T 40,3 cm)

Die Pietà von Käthe Kollwitz (1867–1945) gehört ohne Frage zu den weltweit bekanntesten Skulpturen der deutschen Bildhauerin und Grafikerin – sicherlich auch aufgrund der vierfach vergrößerten, posthum entstandenen Kopie, die seit 1993 den figürlichen Mittelpunkt der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in der Berliner Neuen Wache bildet.

Die vierfach vergrößerte Pietà in der Berliner Neuen Wache

Eine breitbeinig sitzende, in ein weites Gewand gehüllte alte Frau hält in ihrem Schoß einen nackten, leblosen jüngeren Mann. Mit seinen angewinkelten Beinen ist er so tief zurückgesunken, dass beider Körper nicht scharf getrennt sind, sondern ineinander überzugehen scheinen. Der nach hinten gefallene Kopf des junge Mannes wird beschattet vom rechten Arm und der Hand der alten Frau, die sie auch zum Mund geführt hat. Die Geste signalisiert Nachdenklichkeit, lässt sich aber auch so verstehen, als spreche die Frau hinter vorgehaltener Hand. Mit ihrer schalenförmig geöffneten Linken hat sie die schlaffe rechte Hand des Jünglings aufgenommen; unter gesenkten Lidern scheint sie auf die Begegnung der beiden Hände hinabzublicken. Als zärtliche Berührung erinnert diese Geste an das Grabrelief Trauernde Eltern, das Kollwitz 1917 entworfen hatte (nur noch als Fotografie erhalten).

Käthe Kollwitz hat die blockhafte Zweiergruppe mit einer eindeutigen Hauptansichtsseite gestaltet und in einem gemeinsamem Umriss zusammengefasst, um sie als Einheit erscheinen zu lassen. Das bestimmende Kompositionsschema ist die Pyramide, die durch zwei gegenläufige Diagonalen – die embryoartig angezogenen Unterschenkel der männlichen Gestalt und den rechten Unterarm der Mutter andererseits – gegliedert wird. Zudem wird die linke Hand der Frau durch die um das Gelenk kreisende Faltengebung betont.

Käthe Kollwitz: Grabrelief Trauernde Eltern (1917); nicht erhalten

In einem Tagebucheintrag vom 22. Oktober 1937 schreibt Käthe Kollwitz: „Ich arbeite an der kleinen Plastik, die hervorgegangen ist aus dem plastischen Versuch, den alten Menschen zu machen. Es ist nun so etwas wie eine Pietà geworden. Die Mutter sitzt und hat den toten Sohn zwischen ihren Knien im Schoß liegen. Es ist nicht mehr Schmerz, sondern Nachsinnen“ (Kollwitz 2012, S. 690). Die Bildhauerin hat allerdings mehrfach betont, dass ihre Pietà nicht als religiöses Werk zu verstehen ist (siehe meinen Post Der Schmerz einer Mutter“). Sie wird zumeist als Reflex auf den Verlust ihres Sohnes Peter Kollwitz gesehen, der als achtzehnjähriger Soldat bei der Ersten Flandernschlacht am 23. Oktober 1914 umgekommen war. Unbestritten war dessen Tod die schmerzhafteste unter den prägenden Erfahrungen im Leben der Künstlerin. Sie selbst brachte diesen Einschnitt im Tagebucheintrag vom 12. Oktober 1917 mit ihrem Altern in Verbindung: „Von da an datiert für mich das Altsein. Das dem Grabzugehn. Das war der Bruch. Das Beugen bis zu einem Grade, daß es nie mehr ein ganzes Aufrichten gibt“ (Kollwitz 2012, S. 334). Den Tod ihres jüngsten Sohnes hat sie nie verwunden, wohl auch deshalb nicht, weil sie es selbst war, die ihren Ehemann trotz dessen Widerstands dazu überredet hatte, Peter an die Front gehen zu lassen.

Annette Seeler ist der Ansicht, dass in Käthe Kollwitz‘ Pietà aber nicht nur ihres großes persönlichen Verlustes gedacht wird. Bei der Figur des Toten handele es sich ebenso um ein Kind im übertragenen Sinn, nämlich die Verkörperung des künstlerischen Schaffens von Käthe Kollwitz. Sie verweist darauf, dass die Künstlerin im November 1936 erleben musste, wie zwei ihrer Werke aus der Akademie-Ausstellung „Berliner Bildhauer von Schlüter bis zur Gegenwart“ einen Tag vor der Eröffnung entfernt wurden. Dass diese Erfahrung für sie der Tötung ihres Schaffensimpulses gleichkam, lasse sich mit einem Tagebucheintrag aus diesem Monat entnehmen. Dort spricht sie über ihr Vorhaben, einen alten Menschen darzustellen, und empfindet gleichzeitig, „daß ich wirklich mit meiner Arbeit zu Ende bin“, dass es nicht mehr wichtig sei, weiterhin produktiv zu sein oder nicht (Kollwitz, 2012, S. 686).

Michelangelo: Grabmal Lorenzo de Medici (1524-1531); Florenz, San Lorenzo
Michelangelo: Jeremias (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle

Als mögliche Anregungen für die Kollwitz-Pietà sind zum einen Werke von Michelangelo genannt worden: Für die sinnende Gebärde lässt sich auf die Skulptur Lorenzo de‘ Medicis auf dem Grabmal in der Florentiner Medici-Kapelle von San Lorenzo verweisen (1524-1531), ebenso auf die Figur des Propheten Jeremias aus der Sixtinischen Kapelle (1508-1512) in Rom.

Michelangelo: Pietà Bandini (unvollendet); Florenz, Museo dellOpera dell Duomo
Michelangelo: Pietà Rondanini (unvollendet); Mailand, Castello Sforzesco

Denkbar ist auch, dass sich die Bildhauerin bei dem Einzelmotiv der kraftlos zusammengesunkenen Beine an der Christus-Figur von Michelangelos Florentiner Pietà Bandini orientiert hat, die Kollwitz spätestens 1907 bei einem Aufenthalt in der Villa Romana kennengelernt haben wird, oder an Michelangelos Pietà Rondanini in Mailand, von der wohl eine Fotografie über dem Bett ihres Sohnes Peter hing.

Auguste Rodin: Der Denker (1880-1882); Bielefeld, Kunsthalle

Wichtigstes Vorbild für die Melancholiegeste bleibt aber neben dem berühmten Dürer-Kupferstich von 1514 die ebenso berühmte Statue des Denkers von Auguste Rodin (1840–1917), der seinen Kopf auf die an den Mund gelegten Faust stützt.

 

Literaturhinweise

Kollwitz, Käthe: Die Tagebücher 19081943. Hrsg. von Jutta Bohnke-Kollwitz, btb Verlag, München 2012;

Seeler, Annette: Käthe Kollwitz: Die Plastik. Werkverzeichnis. Hirmer Verlag, München 2016, S. 340-353.


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