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Caravaggio: Madonna di Loreto (1604/05); Rom, Sant'Agostino (für die Großansicht einfach anklicken) |
Caravaggios Bild der Madonna di Loreto, auch Madonna dei Pelegrini genannt (1604/05 entstanden), befindet sich bis heute an dem Platz, für den es geschaffen wurde: dem Altar der Kapelle der Familie Cavaletti in der römischen Kirche Sant‘Agostino. Der Titel di Loreto nimmt Bezug auf eine Legende, nach der, als im 13. Jahrhundert das Heilige Land von muslimischen Armeen erobert wurde, das Haus der Mutter Jesu auf wundersame Weise aus Nazareth nach Loreto umgesetzt wurde. Um das Haus herum wurde daraufhin eine Kirche gebaut, die sich zu einem bedeutenden Pilgerzentrum entwickelte.
Auf den Bildern, die die Legende von Loreto darstellen, steht in der Regel das Haus Mariens im Mittelpunkt. Bei Caravaggio ist davon nur ein Türrahmen und ein kleines Stück Wand zu sehen, von der der Putz abblättert. Seine Madonna di Loreto scheint, verglichen mit anderen Loreto-Madonnen, recht irdisch. Sie ist eine attraktive junge Frau, die ihren unbekleideten Sohn auf dem Arm hält. Ein weißes Tuch umspielt Rücken und Gesäß des Knaben, der auf dem Arm seiner Mutter sitzt, sodass sein Körper nur im Profil zu sehen und sein Schambereich verdeckt ist.
Maria ist in den typischen Farben rot und blau gekleidet, was sie als Gottesmutter erkennbar macht. Sie steht leicht erhöht auf einer steinernen Stufe an der Schwelle ihres Hauses und lehnt dabei mit übergeschlagenem rechtem Bein am Türrahmen. Ihr schon ungewöhnlich großes Kind hält sie mit einer Leichtigkeit, die den Knaben fast schwerelos erscheinen lässt. Caravaggio betont das physische Gewicht des Jungen, so Jutta Held, um „seine Menschlichkeit, die Inkarnation des Gottessohnes, seine Materialität“ (Held 2007, S. 130) hervorzuheben.
Ein schwacher Nimbus umstrahlt die Häupter Mariens und ihres Sohnes, die sich zu zwei wohl gerade erschienenen Pilgern herabbeugen. Zu ihren Füßen knien ein Mann und eine Frau – sie tragen noch ihre Pilger-Pelerinen und halten noch ihre Wanderstäbe zwischen den Armen. Noch hatten sie keine Gelegenheit, sich zu waschen, der Staub des Weges haftet noch an ihren unbeschuhten Füßen, die Caravaggio nah an uns Betrachter heranrückt. Ihre ärmliche Kleidung – der Mann trägt eine geflickte Hose –ist in verschiedenen Brauntönen gehalten; während der Kopf der Frau von einem Tuch oder eine Haube bedeckt wird, ist der Mann barhäuptig; ihre Physiognomien charakterisieren sie als Angehörige eines niedrigen Standes. Beider Blicke richten sich auf das Kind, das ihnen in einer Segensgeste den rechten Arm entgegenstreckt, während sie ihre Hände andächtig bzw. anbetend gefaltet haben: Sie sind am Ziel, sind dort angekommen, wohin sich aufgemacht hatten, und scheinen nun in ungläubig-gläubigem Staunen gefangen, während Mutter und Kind sich huldvoll den Pilgern zuneigen und ihnen in scheinbar routinierter Gelassenheit Zeit geben, die Situation zu begreifen.
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Die Cavalletti-Kapelle im heutigen Zustand |
Caravaggio präsentiert die vor ihrer Haustür stehende Madonna wie in einer Nische, vor der die Anbetenden knien. Die Darstellung gleicht einer denkbaren Szene vor einer entsprechenden Statue in einer Kirche oder Kapelle. Man gewinnt den Eindruck, Maria und ihr Kind seien durch den Glauben der Pilger zum Leben erwacht. Marias dunkler Schatten fällt auf den Türrahmen, auch das unterstreicht ihre reale Präsenz und ihre Körperlichkeit. Fast schwebend erscheint sie, nur auf einem Fuß stehend, während der andere nur mit den Zehenspitzen den Boden berührt.
Caravaggio schildert auf seinem Bild nicht das Wunder eines fliegenden und vor Ungläubigen flüchtenden Hauses – er zeigt das Wunder des Glaubens, das den Anbetenden die Nähe und den Segen Christi beschwert. „Durch den Glauben werden Mutter und Kind lebendig für sie, sie können für sie wirken, liegen nicht tot im Grab oder leben entfernt im Himmelreich. Sie sind präsent, sie zeigen Anteilnahme, Mitgefühl und Verständnis für die Menschen zu ihren Füßen“ (Steinbrück 2007, S. 59). Es verwundert nicht, dass Caravaggio gerade mit diesem Gemälde, wie ein früher Biograf des Künstlers berichtet, beim römischen Volk Anklang und Bewunderung fand. Gleichwohl ist Maria durch die Stufe erhöht und durch ihren Heiligenschein ebenso wie durch ihre Anmut und Jugend, die fein geschnitten Gesichtszüge, das helle Inkarnat und das samtglänzende dunkeltote Obergewand herausgehoben. Die Szene wirkt, als sei durch die Kraft des Glaubens eine Statue zum Leben erweckt worden, die Trost und Zuversicht spenden kann. Die persönliche Begegnung zwischen Maria, dem Gottessohn und Gläubigen steht ganz im Mittelpunkt, das Wunder der Translatio spielt keine Rolle.
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Sog. Thusnelda (2. Jh. n.Chr.); Florenz, Loggia dei Lanzi |
Das Bewegungsmotiv Marias mit dem übergeschlagenen rechten Bein ist der antiken Statue sogenannten Thusnelda aus der Villa Medici entlehnt (2. Jh. n.Chr.), die sich heute in der Loggia die Lanzi in Florenz befindet. Zugleich ist Maria sehr naturnah wiedergegeben, und angeblich soll Caravaggio dabei eine mit ihm liierte Frau namens Lena als Modell benutzt haben.
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Was uns am nächsten kommt, sind schmutzige Füße |
Später wurde die naturalistische Darstellung der Pilger kritisiert, vor allem die verdreckten Fußsohlen in vorderster Bildebene betrachtete man als Verstoß gegen das decorum. So schrieb der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897) in seinem Cicerone, dem einflussreichsten Kunstreiseführer des Bildungsbürgertums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Caravaggios „Freude besteht darin, dem Beschauer zu beweisen, daß es bei all den heiligen Ereignissen der Urzeit eigentlich ganz so ordinär zugegangen sei wie auf den Gassen der südlichen Städte gegen Ende des 16. Jahrhunderts“ (Burckhardt 1933, S. 373). Tatsächlich entsprachen jedoch gerade die nackten Füße der Pilgerpraxis in Loreto. Weder für den Stifter des Altarbildes noch für die Chorherren von Sant’Agostino ist überliefert, dass sie Caravaggios Darstellung in irgendeiner Weise beanstandet hätten.
Literaturhinweise
Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Band 2. (= Jacob Burckhardt-Gesamtausgabe, Band 4). Hrsg. von Heinrich Wölfflin. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1933, S. 373;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 172-176;
Goez, Werner: Caravaggio: vier umstrittene Bilder eines umstrittenen Malers. In: Karl Möseneder (Hrsg.), Streit um Bilder. Von Byzanz bis Duchamp. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1997, S. 119-140;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage), S. 184-191;
Hibbard, Howard: Caravaggio. Thames and Hudson, London 1983, S. 102-117;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011, S. 122/125;
Steinbrück, Martin: Portrait oder kein Portrait. Zur Bedeutung des Portraits im Marienbild Caravaggios. In: Martin Steinbrück u.a. (Hrsg.), Das Porträt. Eine Bildgattung und ihre Möglichkeiten. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 57-70.
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