Freitag, 25. April 2025

Kreative Melancholie – Johannes Vermeers „Schlafendes Mädchen“

Johannes Vermeer: Schafendes Mädchen (1656/57); New York, Metropolitan Museum
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Das Schlafende Mädchen im New Yorker Metropolitan Museum gehört zu den frühesten Innenraumbildern des holländischen Malers Johannes Vermeer (1632–1675). Der Blick des Betrachters fällt in ein Zimmer, in dem rote und erdfarbene Töne eine ruhige und warme Atmosphäre schaffen. Eine junge Frau ist offenbar am Tisch eingeschlafen – mit der rechten Hand stützt sie ihren Kopf, damit er nicht zur Seite fällt. Ihre Augen sind geschlossen, die Wangen zart rosa gefärbt, um den Mund spielt ein leises Lächeln. Das Mädchen sitzt dem Betrachter frontal gegenüber, und zwar an einem mit einem schweren orientalischen Teppich bedeckten Tisch. Ein kunstvolles Stillleben-Arrangement baut sich vor ihr auf: eine Obstschale aus blau-weißem Delfter Porzellan mit Äpfeln oder Pfirsichen und Zwiebeln, ein hell-weißer Fayencekrug, ein Messer und eine Gabel, ein umgefallener Römer (der durch frühere Reinigungen des Bildes seine Gestalt verloren hat und nur noch schemenhaft zu erkennen ist), ein kleines, fast leeres Weinglas neben der Obstschüssel und ein durchsichtiges Tuch, das einen eiförmigen weißen Gegenstand umhüllt. Am rechten Bildrand steht ein diagonal gestellter, vom Tisch weggedrehter Löwenkopfstuhl, auf dem ein Kissen mit Goldbordüre liegt. Über der Frau hängt im Schatten der Wand ein Bild, von dem allerdings nur die rechte untere Ecke zu sehen ist. Darauf sind ein nacktes Bein und eine Maske in verschwommenen Umrissen zu erkennen.

Auf der anderen Raumseite, rechts hinter der Schlafenden, öffnet eine Tür den Blick über Schwellen und einen Gang in ein menschenleeres, hell erleuchtetes Zimmer. An der dortigen Rückwand hängt über einem Tisch ein matter Spiegel. Rechts daneben befindet sich ein Fenster, dessen Läden geschlossen sind. Ein von der Tür verdecktes weiteres Fenster an der linken Seite des Spiegels scheint diesen Raum zu erleuchten. Warmes Licht fällt von dort auf die ockerfarbenen Bodenbretter und wird vom polierten Holz der Türlaibungen reflektiert. Röntgenaufnahmen haben gezeigt, dass eine männliche Gestalt mit Hut zum ursprünglichen Bildkonzept Vermeers gehörte. Sie befand sich im hinteren Zimmer und war im Begriff, den Raum zu verlassen oder einzutreten. Außerdem stand ein dem Mann zugewandter Hund an der Schwelle des vorderen Zimmers. In einem späteren Stadium des Malprozesses hat Vermeer diese beide Bildmotive übermalt und an ihre Stelle Möbelstücke eingefügt.

Johannes Vermeer: Bei der Kupplerin (1656); Dresden, Gemäldegalerie

Das Schlafende Mädchen wird allgemein um 1656/57 datiert, es dürfte kurz nach Bei der Kupplerin und vor der 1657 entstandenen Jungen Briefleserin am offenen Fenster gemalt worden sein. Es schließt in seiner Komposition unmittelbar an die Kupplerin an, auch dort nimmt ein türkischer Teppich eine große Fläche der unteren Bildhälfte ein. Der Teppich ist sehr nah gesehen; er türmt sich mit einer großen Falte empor und verdeckt damit die vordere Tischkante. Die Tischfläche dahinter wird in unvermittelt starker Aufsicht gezeigt, „wodurch die Entwicklung des Raums in die Tiefe wie bei der Kupplerin unklar wirkt“ (Schütz 2015, S. 36). Der groß in den Vordergrund gerückte Stuhl dient als Repoussoirmotiv und wird später bei Vermeer oft wiederkehren. Tisch und Stuhl befinden sich nah zum Betrachter, die junge Frau sitzt eng zwischen Tisch und Rückwand, sodass der Raum gedrängt wirkt.

Wie so oft bei den Bildern von Vermeer hat sich die kunstgeschichtliche Forschung fleißig bemüht, dem New Yorker Gemälde einen tieferen Sinn zu verleihen. So wurde z. B. in dem „Bild im Bild“ an der Wand eine Repräsentation des Schlafes gesehen: Das Bein gehöre zu einem Cupido, und wie die heruntergezogene Maske enthülle der Schlaf geheime Phantasien, die mit der Liebe zusammenhängen könnten (Gowing 1953, S. 51/52). Der Cupido, der seine Maske abgenommen hat, könnte aber auch Sinnbild einer „disillusioned and disappointed love“ (Swillens 1950, S. 104) sein. Dann würde das Mädchen nicht schlafen, sondern um eine enttäuschte Liebe trauern. Für Arthur K. Wheelock ist das Mädchen ebenfalls nicht schlafend dargestellt, sondern im traditionellen Gestus der Melancholie. Diesen Gemütszustand würden die in Unordnung geratenen Gegenstände des Stilllebens vor ihr veranschaulichen. Auf den Grund ihrer Traurigkeit, eine unglückliche Liebe, verweise das „Bild im Bild“ hinter ihr.

Seymour Slive wiederum sieht eine viel engere Verbindung der Frau zu dem Weinglas auf dem Tisch gegeben. Dazu passt seiner Ansicht nach auch der in Unordnung geratene weiße Kragen, der zugebunden eigentlich das Dekolleté sittsam verhüllen sollte. Allerdings sitzt Vermeers Dame im Vergleich zu den derangierten, vom übermäßigen Weingenuss gezeichneten und sich nur noch mühsam im Stuhl haltenden Frauen der holländischen Genremalerei sehr würdevoll und aufrecht am Tisch. Da befindet sich z. B. die Frau in Jan Steens bekanntem Bohnenfest von 1668 bereits in einem ganz anderen Stadium der Auflösung …

Jan Steen: Das Bohnenfest (1668); Kassel, Gemäldegalerie

Madlyn Kahr deutet das Bild dagegen als Warnung vor dem Laster der Trägheit. Aber eine solche Moralbotschaft mag nicht so recht zur friedvollen Atmosphäre des Bildes passen. Auch Norbert Schneider erkennt in der Geste des in die Hand gestützten Kopfes die Motivtradition der acedia, des Müßiggangs. Dieser sei eine Folge der Trunksucht, wie die Weinkaraffe auf dem Tisch andeute. Der Weingenuss habe darüber hinaus ganz offensichtlich etwas mit einer außerehelichen Liebesbeziehung zu tun: Indiz dafür sei der Cupido an der Wand und der nachträglich wieder übermalte Mann im Nebenraum.

Nanette Salomon rechnet das Gemälde– wie Bei der Kupplerin – in Dresden – der Tradition der Bordellbilder zu. Das Motiv eines Mannes, der durch eine geöffnete Tür in das Gemach einer Frau eintritt, konnte, so die Autorin, im 17. Jahrhundert als sexuelle Metapher verstanden werden. Dieser Sicht schließt sich Walter Liedtke an: Er betrachtet die offene Tür hinter der jungen Frau als Verweis auf ihre ungeschützte Tugend. Daniela Hammer-Tugendhat betont, dass die männliche Figur und damit der manifeste sexuelle Gehalt das Bildfeld verlassen hat. Er habe sich in den Traum der jungen Frau verflüchtigt; die Sexualität würde hier – ähnlich den Darstellungen der Liebesbriefleserinnen Vermeers – als Geheimnis inszeniert werden.

Diese Bildinterpretationen gehen alle davon aus, dass die einzelnen Bildelemente auf eine Liebesthematik verweisen. Allerdings sind diese aber nur, so Christiane Rambach, bruchstückhaft dargestellt oder gar nicht mehr sichtbar. Vom angeblichen Cupido könne man allenfalls ein verschattetes Bein sehen – wenn es überhaupt das Bein eines Cupido sei. „Mit der buchstäblichen Beschneidung des Cupido und der völligen Tilgung des Mannes entfernte Vermeer die beiden wichtigsten Hinweise auf Liebe und Sexualität aus dem Bild“ (Rambach 2007, S. 167). Sie kommt anders als die gängigen Deutungen des Gemäldes zu dem Schluss, dass Vermeers Komposition „keine narrative Auflösung“ finde: „Ein gezielt herbeigeführter Grad an Unklarheit bleibt bestehen“ (Rambach 2007, S. 169).

Johannes Vermeer: Der Liebesbrief (1669/70), Amsterdam, Rijksmuseum

Vermeers Schlafendes Mädchen ist neben dem Liebesbrief aus dem Amsterdamer Rijksmuseum das einzig erhaltene Interieur in seinem Werk dessen Rückwand nicht bildparallel abschließt, sondern den Blick in einen weiteren Raum freigibt. Er ist hier spannungsreich der Sphäre des vorderen Raums gegenübergestellt. Während im Vordergrund der Frau üppige, geschwungene, kleinteilige Formen überwiegen, dominieren im Durchgang und im hinteren Raum klare, geometrische Geraden.

Vermeers junge Frau lässt keinerlei Anzeichen von Unruhe erkennen; der aus der Antike stammende Melancholie-Gestus verleiht ihr die Anmutung von Kontemplation, einer Abkehr von allen äußeren Reizen und eines nach innen gerichteten Blicks. Rambach erkennt darin eine positive Sicht des melancholischen Gemütes, die sich, von Italien ausgehend, ab dem 16. Jahrhundert in Europa verbreitet hatte: „Melancholie wurde als eine begnadete Voraussetzung für die Imagination angesehen, die vor allem den Künstlern gegeben sei“ (Rambach 2007, S. 172). Ihr wird damit eine wichtige schöpferische Wirkung zugestanden, die mit Faul- oder Trägheit nichts zu tun hat.

Johannes Vermeer: Christus bei Maria und Martha (1654/55); Edinburgh, Scottish National Gallery

Eine positive Bewertung der melancholischen, kontemplativen Haltung verdeutlicht bereits Vermeers frühes Historienbild Christus bei Maria und Martha: Um einen Tisch versammelt und zur Dreieckskomposition angeordnet, lauschen Maria und Martha den Worten von Christus (Lukas 10,38-42). Maria sitzt dabei in einer nachdenklichen Geste mit aufgestütztem Kopf vor Christus am Boden; Martha ist währenddessen mit der Bewirtung des besonderen Gastes beschäftigt. Der Evangelien-Text lässt keinen Zweifel daran, dass die kontemplative Konzentration – das Hören und Bedenken der Worte Christi – dem Aktivismus vorzuziehen ist.

Nicolas Maes: Die faule Magd (1655); London, National Gallery

Das Schlafende Mädchen ist immer wieder verglichen worden mit der Faulen Magd des holländischen Malers Nicolaes Maes (1634–1693). Dort ist eine Magd vor einem Berg Geschirr eingeschlafen, neben ihr steht eine zweite Magd mit einem Weinkrug in der Hand und weist lachend auf die Schlafende. Doch bei dem Schlafenden Mädchen fehlt diese moralische Belehrung des Betrachters – Vermeer vermeidet unmissverständliche Festlegungen: Es ist bereits unklar, ob wir es mit einer Magd oder mit der Hausherrin zu haben. Das Charakteristische an Vermeers Kompositionen zeigt also schon dieses frühe Bild – es besteht darin, „dass vieles an den Beziehungen der Personen unbestimmt und mehrdeutig bleibt“ (Schütz 2015, S. 38).

Johannes Vermeer: Junge Briefleserin am offenen Fenster (1657); Dresden, Gemäldegalerie

Die Junge Briefleserin am offenen Fenster in der Dresdner Gemäldegalerie ist wahrscheinlich ein wenig später als das Schlafende Mädchen entstanden (siehe meinen Post „Magische Stille“). Wieder bildet ein teppichbedeckter Tisch bzw. eine Balustrade das beherrschende Vordergrundmotiv, das uns von einer Halbfigur trennt. Die schweren Falten, in den der Tischteppich aufgeworfen ist, und die schräg liegende Obstschale fügen ein Gebilde hinzu, wie es schon im Schlafenden Mädchen mit dem Stillleben aus Teppich, Weinkrug, Schüssel, Gläsern und einem Tuch der Fall war. Bei dem genau wiedergegebenen orientalischen Teppich handelt es sich wie in den beiden früheren Bildern um einen rotgrundigen Medaillon-Ushak aus Westanatolien aus der Zeit um 1600.

 

Literaturhinweise

Gowing, Lawrence: Vermeer. Beechhurst Press, New York 1953, S. 51-52;

Kahr, Madlyn Millner: Vermeer’s Girl Asleep. A Moral Emblem. In: Metropolitan Museum Journal 6 (1972), S. 115-132;

Liedtke, Walter (Hrsg.): Vermeer and the Delft School. Yale University Press, New Haven/London 2001, S. 369;

Rambach, Christiane: Vermeer und die Schärfung der Sinne. VDG, Weimar 2007, S. 163-176;

Salomon, Nanette From Sexuality to Civility: Vermeer’s Women. In: Ivan Gaskell/Michiel Jonker (Hrsg.), Vermeer Studies. Yale University Press, New Haven/London 1998, S. 308-325;

Schneider, Norbert: Vermeer 1632–1675. Verhüllung der Gefühle. Taschen Verlag, Köln 1999, S. 27-28;

Schütz, Karl: Vermeer. Das vollständige Werk. TASCHEN, Köln 2015, S. 36/38;

Slive, Seymour: “Een dronke slapendse meyd aen een tafel” by Jan Vermeer. In: Antje Kosegarten/Peter Tigler (Hrsg.), Festschrift Ulrich Middeldorf. De Gruyter, Berlin/Boston 1968, S. 452-459;

Swillens, P.T.A.: Johannes Vermeer. Painter of Delft 1632–1975. Spectrum Publishers, Utrecht 1950;

Wheelock, Arthur K.: Vermeer and the Art of Painting. Yale University Press, New Haven/London 1995, S. 40-41.


Dienstag, 15. April 2025

Jean-Auguste-Dominique Ingres: Der Tod Leonardo da Vincis (1818)

 

Jean-Auguste-Dominique Ingres: Der Tod Leonardo da Vincis (1818); Paris, Petit Palais
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Leonardo

 

Er lebt jetzt in Frankreich,

ruhiger und viel schwächer.

Er ist die Zierde des Königreichs. Der Monarch

beehrt ihn mit seiner Freundschaft.

Langsam fließt das Wasser der Loire.

Er denkt über die Projekte nach, die er

nicht realisieren konnte.

Die rechte Hand, halb gelähmt,

hat sich schon von ihm verabschiedet.

Auch die linke möchte scheiden.

Und das Herz, und der ganze Körper.

Noch wehren sich

die Inseln des Lichts.

 

Adam Zagajewski

(übersetzt von Renate Schmidgall)

Sonntag, 13. April 2025

Ein Wall des Widerstands – der „Turm der Mütter“ von Käthe Kollwitz

Käthe Kollwitz: Turm der Mütter (1937/38); Bronze, Höhe 28,7 cm

Die von Käthe Kollwitz (1867–1945) 1938 vollendete Rundplastik Turm der Mütter gehört mit ihrer ebenfalls in diesen Jahren entstandenen Pietà (siehe meinen Post „Alt, einsam und dunkel nachsinnend“) zu den bekanntesten Skulpturen der deutschen Bildhauerin und Grafikerin. Der Turm der Mütter lässt sich als dreidimensionale Umsetzung des Holzschnitts Die Mütter betrachten, den Käthe Kollwitz 1921/22 als Teil des Zyklus Der Krieg angefertigt hatte. Dort ist bereits die Gruppe der Mütter angelegt und in einer „kegelstumpfartigen Komposition“ (Seeler 2016, S. 329) zusammengefasst. Auch hier bilden die Körper einen Wall um die Kinder, die in ihrer Mitte zu denken sind, aber zugleich neugierig aus den Zwischenräumen hervorlugen und hinausstreben aus dem Schutz, den die Mütter ihnen bieten.

Käthe Kollwitz: Die Mütter (1921/22); Holzschnitt
Hatte die Künstlerin schon bei ihrem Holzschnitt die mütterlichen Leiber, Gliedmaßen und Köpfe zu einer unentwirrbaren Menge organisiert, „die ein Wille gleichsam zu einem Korpus vereint“ (Seeler 2016, S. 330), so wird diese gemeinsame Kraft und Entschiedenheit in der Gruppe von 1937/38 noch einmal in Gestalt der Frau verkörpert, die sich uns als Einzige frontal entgegenstellt – wobei wir als Betrachter mit denen gleichgesetzt werden, die auf die Sprösslinge zugreifen und sie zu ihrem Verderben hervorlocken wollen. Wie eine Schranke breitet diese Mutter, uns mit zusammengezogenen Brauen finster anstarrend, die Arme aus, mit dem rechten angewinkelten Arm ein größeres Kind zurückdrängend und mit dem linken zur neben ihr stehenden Frau hinübergreifend. Dass mit energischer Gegenwehr von Seiten der Mütter rechnen ist, sollte ein Angriff auf ihren Nachwuchs erfolgen, beglaubigt eine geballte Faust, die sich direkt über dem Kopf dieser Figur in die Höhe reckt. Hier agieren viele wie eine, getrieben von dem gemeinsamen Ziel, ihre Kinder vor einem frühen Tod zu bewahren.

Vereint zu einer Front des Widerstands

Die Konzentration auf die „Frontfrau“ scheint stark für eine Einansichtigkeit und eine eindeutige Schauseite der Skulptur zu sprechen. Die Gebärde dieser Mutter löst den fixierten Betrachterblick jedoch gleichsam nach rechts auf und leitet ihn über den linken Arm der Figur in einer schraubenartigen Bewegung weiter zu den Seiten und um die Gruppe herum. Auch die emporgestoßene Faust dient unter anderem dazu, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und wie ein Angelpunkt zum Umschreiten der Skulptur anzuregen. Sie ist dann der Frau im Zentrum einer Schauseite zuzuordnen, von der aus alle Figuren in ihren Stellungen erkennbar sind und die darum oft als Hauptansicht betrachtet wird. Von dort leitet die Blickführung zur weiteren Umrundung. Folgt man diesen Impulsen, so besteht die Gruppe aus „lauter Front“, wie Käthe Kollwitz einmal geäußert hat (Seeler 2016, S. 330). Die Bildhauerin hatte die Plastik also zielgerichtet allansichtig konzipiert und diese Formation auch inhaltlich begründet: „Sie [die Mütter] stehn im Kreis u. bieten nirgends eine Angriffsfläche“ (Becker 1967, S. 13). „Wir haben hier also gleichsam ein umlaufendes Relief auf einem Kegelstumpf oder vielmehr auf dem Rumpf einer fünfseitigen Pyramide vor uns, die durch den aufgereckten Arm tendenziell auf eine gedachte Spitze in der Höhe erweitert wird“ (Seeler 2016, S. 330).

Michel Erhart: Ravensburger Schutzmantelmadonna
(um 1480); Berlin, Skulpturensammlung
im Bode-Museum
Käthe Kollwitz: Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden (1941); Lithografie
Ernst Barlach: Dona Nobis Pacem! (1916); Lithografie

Erkennbar nimmt die Gesamtform die christliche Ikonografie der seit dem 13. Jahrhundert bekannten „Schutzmantelmadonna“ auf, wie sie Käthe Kollwitz nochmals 1941 für ihre Lithografie Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden verwendete. Ähnlichkeiten zwischen der uns frontal gegenüberstehenden Mutter und der 1916 entstandenen Lithografie Dona Nobis Pacem! von Ernst Barlach (1870–1938) sind ebenfalls augenfällig: „Die Vergleichsmomente der ausgeprägten Dreiecksform, der Faltengebung im Rock und der tendenziell ausgreifenden Gebärde der flehend erhobenen Arme legen nahe, dass Kollwitz hier bewusst und gewissermaßen richtigstellend auf Barlach Bezug nahm“ (Seeler 2016, S. 332). Denn der Turm der Mütter wendet sich nicht an eine höhere Macht und bittet sie um Frieden – diese Frauen stehen selbst für den Schutz ihrer Kinder ein, nicht in Form einer gewalttätigen Revolte, einer Kampfhandlung, sondern als passiv-pazifistischer Widerstand, der niemandes Tod verursachen will.

Peter Kollwitz, der Sohn der Bildhauerin, war als achtzehnjähriger Soldat bei der Ersten Flandernschlacht am 23. Oktober 1914 umgekommen. Der Turm der Mütter entstand im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs, der sich bereits abzuzeichnen begann. Käthe Kollwitz, die diese Entwicklung offenbar aufmerksam verfolgte, „fühlte sich nun aufgerufen, noch einmal die Lehre zu formulieren, die sie selbst aus dem Ersten Weltkrieg gezogen hatte“ (Seeler 2016, S. 326): Mütter, schützt eure Kinder davor, auf dem Schlachtfeld zu sterben!

 

Literaturhinweise

Seeler, Annette: Käthe Kollwitz: Die Plastik. Werkverzeichnis. Hirmer Verlag, München 2016, S. 326-337;

Städtisches Museum Bielefeld (Hrsg.): Käthe Kollwitz an Dr. Heinrich Becker. Briefe. Bielefeld 1967.