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| Auguste Rodin: Femme accroupie (1880/82); München, Neue Pinakothek (für die Großansicht einfach anklicken) |
In ihrer extremen Körperhaltung gehört die um 1880/82 entstandene Femme accroupie (Kauernde) zu den kühnsten Figuren des französischen Bildhauers Auguste Rodin (1840–1917). Eine am Boden hockende Frau presst ihren Oberkörper zwischen ihre gespreizten Beine und lehnt ihren Kopf an ihr rechtes Knie. Die Füße krallen sich, ungleich hoch, in einen schrägen Untergrund. Mit dem linken Arm bedeckt sie schamvoll ihre Brust, ihren Schoß hingegen kann sie nur andeutungsweise mit dem rechten Vorderarm vor den Blicken der Betrachter schützen. Durch das Abwenden ihres Kopfes schließlich versucht sie, einem direkten Blickkontakt auszuweichen; ihre Augen sind geschlossen. Eine Handlung oder konkrete Situation lässt sich nicht erkennen.
Von vorn betrachtet, sehen wir auf Anhieb die weit geöffneten Schenkel, doch der Schambereich wird nicht, da ohnehin versperrt und verschattet, voyeuristisch präsentiert. Der Rumpf ist nicht nur vorgebeugt, sondern auch so in sich gewinkelt, dass eine Schulter sich vor das Knie zwängen kann. Der seitwärts gedrehte Kopf ist zugleich in den Nacken zurückgeworfen: „Wange schmiegt sich an Knie, Weiches an Grobknochiges“ (Keisch 2000, S. 86). Dabei berühren Gesicht und Knie die Schulter. Der rechte Ellbogen erreicht einen Fuß, um den anderen greift eine Hand. Der linke Ellbogen wiederum stößt nach hinten, die Hand, knapp am Schenkel vorbei nach vorn geknickt, berührt die Brust. „Nur die kelchartig geöffneten Doppelschrägen der Schenkel halten das aus den Fuge geratene, einstürzende Figurenmaterial zusammen“ (Keisch 2000, S. 87).
Die Vorderansicht ähnelt einem schräggestellten Fünfeck. Mag man die Figur von vorn als Relief wahrnehmen, so lässt schon eine geringe Drehung im Uhrzeigersinn das geometrische Gebilde verschwinden und seine Plastizität deutlich hervortreten. Auf dem Doppellauf von Oberarm und Unterschenkel ruht der wie weggebrochene Kopf. „Der Verdichtung und Sammlung der rechten Körperseite antwortet links ein spitzes Aufwärtsstoßen“ (Keisch 2000, S. 87). Das reine linke Profil wird bestimmt von den parallel und aufwärts geführten Schrägen von Oberarm und Unterschenkel.
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| Auguste Rodin: Femme accroupie (1880/82); Essen, Museum Folkwang |
In diesem „Mikadospiel“ (Keisch 2000, S. 87) ist der symmetrische, ausgewogene Bau des aufrechten menschlichen Körpers nahezu unkenntlich gemacht: ein Unterarm, der fast am Boden entlang verläuft und eine Horizontale bildet, die Füße, Ellbogen und Hand vereint; eine andere, die, etwas höher, beide Knie, eine Schulter, eine Hand zusammenfasst. Der große Höhenunterschied zwischen beiden Schultern lässt nichts mehr ahnen von ihrem normalen Verhältnis zueinander. Eine Schulter gleicht bis Nichtunterscheidbarkeit einem Knie, ein Arm einem Schenkel oder einer Rückenhälfte; die Gliedmaßen dabei „eingewinkelt wie die Speichen eines Regenschirmes, wie die ineinander verhakten Abschnitte eines Zollstocks“ (Keisch 2000, S. 88).
Wie viele andere Skulpturen entwickelte Rodin das Motiv der Femme accroupie für die Höllenpforte, einem Projekt, an dem er von 1880 bis 1917 intensiv gearbeitet hatte. Rodin platzierte die Figur nahezu versteckt im oberen Teil des Tores über dem linken Pilaster unter einer Volute – nur in ihrer extremen Untersicht kann sie vom Betrachter wahrgenommen werden. Aus dem ursprünglichen Kontext gelöst und um ein Vielfaches vergrößert, drängt Rodin die betont devote, ungeschützte Haltung der Nackten noch mehr in den Vordergrund. Die ausdrucksstarke Haltung der Femme accroupie inspirierte Rodin, das Motiv für weitere Skulpturengruppen zu verwenden und dabei ihre inhaltliche Aussage jeweils zu wandeln.![]() |
| Edgar Degas: Die Wanne (1886); Paris, Musée d'Orsay |
Was aber bedeutet die Pose der Femme accroupie? Denn zum Innehalten und Ruhen ist sie denkbar ungeeignet. Dabei lässt sich das Kauern ja durchaus in der Realität beobachten: an spielenden Kindern, an auf der Erde arbeitenden Bauern und Bäuerinnen oder an Gebärenden bei den Naturvölkern. In europäischen Gesellschaften ist diese Haltung jedoch kaum noch anzutreffen – wohl auch deswegen, weil sie beim Verrichten der Notdurft eingenommen wird. Anders verhält es sich im privaten Raum, zumindest zu Rodins Zeiten, etwa „bei der Toilette“: So hat der französische Maler Edgar Degas (1834–1917) immer wieder Frauen im Waschzuber abgebildet, die in ähnlicher anstrengend wirkender Winkligkeit kauern, die der Femme accroupie Rodins nahesteht.
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| Albrecht Dürer: Der Verzweifelnde (1515); Eisenradierung |
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| Michelangelo: Jüngstes Gericht (Ausschnitt); Rom, Sixtinische Kapelle |
Ist die Grundstimmung der Femme accroupie das Erotische? Darauf könnte die Berührung der Brust hindeuten, vor allem die weit geöffneten Schenkel. Allerdings ist die Scham der Frau versperrt und regelrecht höhlenhaft verschattet, worin sich ihre Verletzlichkeit ausdrückt. Es sind vielmehr Erschöpfung, Einsamkeit und Verzweiflung, die die in sich verschlossene Figur kennzeichnen. Darin ist sie eng verwandt mit dem entsetzten und selbstquälerisch in sich verknoteten Mann auf einer Der Verzweifelnde genannten rätselhaften Eisenradierung Albrecht Dürers oder mit jenem einäugig starrenden Verdammten aus Michelangelos Jüngstem Gericht.
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| Kauernde Aphrodite (röm. Marmorkopie); Paris, Louvre |
Doch eine ganz wesentliche Anregung für Rodins Plastik stammt aus der noch viel weiter zurückliegenden Vergangenheit: Es handelt sich um die wohlbekannte antike Skulptur der Kauernden Aphrodite (siehe meinen Post „Eine Göttin badet“), von der der Bildhauer eine römische Marmorreplik in seiner privaten Sammlung besaß.
Literaturhinweis
Keisch, Claudia: Aus den Fugen. Rodins „Femme accroupie“. In: Katerina Vatsella/Andreas Pfeiffer (Hrsg.), Rodin und die Skulptur im Paris der Jahrhundertwende. Verlag H.M. Hauschild, Bremen 2000, S. 86-99.







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