Dienstag, 13. November 2012

Kopfüber in das Heil – Caravaggios „Kreuzigung Petri“ in der Cerasi-Kapelle von Santa Maria del Popolo (2)

Caravaggio: Kreuzigung Petri (um 1604); Rom, Santa Maria del Popolo/Cerasi-Kapelle
Wie in meinem Post „Paulus am Boden“ angekündigt, gehe ich auch auf das zweite Wandgemälde ein, das Caravaggio (1571–1610) für die Cerasi-Kapelle in der römischen Kirche Santa Maria del Popolo geschaffen hat – die Kreuzigung Petri.
Der Schriftsteller Navid Kermani beschreibt in seinem Buch Ungläubiges Staunen, was die Faszinationskraft dieses Bildes ausmacht: Die Muskelfasern, die Falten, die die Kleidung der vier Personen und rechts unten das bläuliche Tuch werfen, die Barthaare, Brustwarzen und Bauchfalten Petri, seine dreckigen Fingernägel und die beinah schwarze Fußsohle, die der untere Scherge links unten dem Betrachter genau auf Kopfhöhe hinhält, der ausgeleuchtete Hintern des Schergen, der dadurch auch nicht schöner wird, die Maserung des Holzes, der Glanz auf dem Nagel und der Schaufel, die physische Anstrengung, die eine Kreuzigung für die Henker bedeutet, der Brotberuf, der sie nun einmal gewesen sein wird – alle Welt rühmt heute Caravaggios derben Realismus, an dem sich die Kritiker früher stießen (Kermani 2015, S. 124).
Für diese Komposition griff der italienische Barockmaler auf seinen Namensvetter Michelangelo zurück, der die Szene in der Cappella Paolina dargestellt hatte (1546–1550) – einer der wenigen Orte, an dem ebenfalls die Bekehrung des einen wie das Martyrium des anderen Apostelfürsten gezeigt werden (siehe meinen Post Michelangelos letzte Fresken“). Vielleicht waren Michelangelos Wandbilder auch das Vorbild, das Tiberio Cerasi, dem Stifter der Kapelle, vorschwebte, als er Caravaggio beauftragte. Caravaggio orientierte sich vor allem bei der Hauptfigur an Michelangelo, zugleich aber auch an der antiken Statue eines Fischers, die damals als Porträt des stoisch sterbenden Philosophen Seneca galt.
Michelangelo: Kreuzigung Petri (1546–1550); Rom, Cappella Paolina/Vatikanischer Palast; wie schon in der Cappella Paolina im Vatikan ist die Kreuzigung Petri auch in der Cerasi-Kapelle auf der gegenüberliegenden Wand das Pendant der Bekehrung Pauli
Um 1600 bürgerte sich für diese antike Statue die Bezeichnung Sterbender Seneca ein;
heute sieht man in ihr die Darstellung eines alten Fischers (Paris, Louvre)
In der Kreuzigung Petri ist die Handlung wie schon bei der zweiten Fassung der Bekehrung Pauli auf das Wesentliche reduziert. Anders als bei vielen früheren Darstellungen, die die Kreuzigung Petri als öffentliches Ereignis zeigen, bei Tageslicht und inmitten einer Volksmenge, ist der Märtyrer auf Caravaggios Gemälde von Dunkelheit umgeben und, abgesehen von den Henkersknechten, völlig allein. Petrus hielt sich nicht für würdig, so die Legende, wie Christus zu sterben, deswegen verlangte er von den Henkersknechten, kopfüber gekreuzigt zu werden. Der Apostel ist bereits ans Kreuz genagelt, sein nackter, nur mit einem Lendenschurz bedeckter Körper dehnt sich über die gesamte Bildbreite, von der Hand am rechten bis zu den Füßen am linken Bildrand. So weit es ihm möglich ist, hebt er Beine und Oberkörper an und liegt deswegen nur noch mit der linken Hüfte auf dem Längsbalken auf. „Caravaggios Peter emerges not as a religious icon or an established Christian authority, but as a worker, the simple fisherman from Bethsaida“ (Jansson 2013, S. 124).
Was Caravaggio jedoch vor allem zeigt, ist der Kraftaufwand der drei Schergen, die das Kreuz aufzurichten haben. Der hinterste zerrt an einem Seil, das um das untere Ende des Kreuzes geschlungen ist und sich in seinen Rücken eingräbt. Der zweite greift über die Beine des Apostels hinweg, um das Kreuz zu halten, während der dritte, am Boden hockend, die Last mit seinem Rücken hochzustemmen versucht. Verglichen mit der Anstrengung, die die Körper von der gefurchten Stirn bis in die Zehenspitzen und die bloßen Fußsohlen hinein in Anspannung hält, scheinen die Männer auf Michelangelos Fresko der Kreuzaufrichtung das Gewicht kaum zu spüren. Mit leichter Hand fassen sie an, in einer eher symbolischen Geste; Petrus selbst richtet seinen Oberkörper auf (was Caravaggio übernommen hat) und blickt aus dem Bild heraus auf den Betrachter.
Mit naturalistischem Blick schildert Caravaggio die Anatomie und Hautstruktur eines älteren Männerkörpers
Caravaggios Petrus jedoch starrt schreckgebannt auf seine linke Hand, deren Finger sich um den durch sein Fleisch in das Querholz getriebenen Nagel krampfen. Er jammert nicht, und er winselt erst recht nicht um Gnade. Und doch hat Petrus Angst. Das zeigt er nicht den Schergen, aber im Gesicht zeichnet sich sein Entsetzen ab, vor allem der offene Mund zeugt davon, dass er allein auf die Folter konzentriert ist. Bei Caravaggio, so sieht es Jutta Held, „gibt es keine Perspektive über das physische Martyrium hinaus“ (Held 2007, S. 104), kein Engel mit Märtyrerpalme (wie noch im Martyrium des Matthäus) oder sonstige Himmelszeichen verheißen jenseitigen Lohn für das standhafte Erdulden der Qualen, die um des Glaubens willen erlitten werden. 
Caravaggio: Martyrium des Matthäus (1599/1600); Rom, San Luigi dei Francesi/Contarelli-Kapelle
Sybille Ebert-Schifferer erkennt in Caravaggios Folterszene dennoch die Heilsverheißung: „Die dem römischen Alltag entnommenen Bauarbeiter sind keine durch Brutalität schuldig werdenden Sünder, sondern sich abmühende Erfüllungsgehilfen einer Heilsgeschichte, die auch sie, die noch nichts sehen und begreifen, erlösen wird“ (Ebert-Schifferer 2010, S. 139). Dass Petrus nach katholischer Auffassung der Begründer der christlichen Kirche ist, verdeutlicht der Stein, den Caravaggio unübersehbar im Vordergrund platziert – in Matthäus 16,18 sagt Jesus zu ihm: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen“ (LUT).
Guido Reni: Kreuzigung Petri (1604/5), Rom, Pinacoteca
Vaticana (für die Großansicht einfach anklicken)
Der junge Maler Guido Reni (1575–1642) aus Bologna, 1601 nach Rom übergesiedelt, griff das Thema der
Kreuzigung Petri ebenfalls in einem Altarbild auf – sein Gemälde war eine deutliche Auseinandersetzung mit dem Stil des sich immer größerer Wertschätzung erfreuenden Caravaggio. Das 1604/05 entstandene Werk Renis war für die kleine Kirche S. Paolo alle Tre Fontane bestimmt, die als Martyriumsstätte des Apostel Paulus verehrt wurde. Die Anlehnung an Caravaggios wohl nur wenig früher fertiggestelltes Gemälde ist evident: hier wie dort die Beschränkung auf wenige Personen; die Entscheidung beider Künstler, die Kreuzigung statt des Gekreuzigten zu zeigen; intensive Beleuchtungseffekte; der Kontrast zwischen dem vom Alter gezeichneten Leib Petri und den muskulösen Henkersknechten. Vor allem Körperbau und Physiognomie der Schergen erinnern stark an Caravaggios Bildpersonal.
Aber auch die Unterschiede sind offensichtlich: Während Caravaggios Petrus den Kopf zur Seite wendet und den Blick auf den überdeutlich ins Fleisch eindringenden Nagel richtet, „strebt auf Renis Bild die Figur des greisenhaften Petrus ein letztes Mal und mit letzter Kraft zum Zeichen seines Martyriums empor“ (Wimböck 2011, S. 511). Das entspricht ganz den kirchlichen Märtyrerakten und deren frühchristlicher Interpretation, die zum Basiswissen der Kirchengeschichte um 1600 gehörten. In ihnen wurde vor allem betont, dass Petrus sich seinen Peinigern willentlich übergab und sein Martyrium in der Verehrung Christi bejahte. 
Renis Version orientiert sich also stärker an der hagiografischen Überlieferung als Caravaggio – was sich auch darin zeigt, dass die Hinrichung an einem vor der Stadt gelegenen Ort stattfindet. Anders als Caravaggio wählt Reni außerdem den Moment, bevor der erste Nagel eingeschlagen wird, was die Brutalität des Martyriums etwas abschwächt. Das Neue an Caravaggios Bild hingegen ist vor allem darin zu sehen, dass er die beginnende Marter Petri physisch nachvollziehbar macht. Navid Kermani benennt den Unterschied mit wenigen Worten: „Er stirbt wie ein Mensch: ratlos, einsam, überrascht“ (Kermani 2015, S. 124).
Wie die Bekehrung des Paulus ist die Kreuzigung Petri eine von Caravaggio angefertigte zweite Fassung für die Cerasi-Kapelle – das ursprüngliche Gemälde ist jedoch, anders als die erste Version der Bekehrung, verschollen. Heather Nolin konnte, wenn auch ohne historische Belege, in einer schlüssigen Argumentation dargelegen, dass die erste Fassung der Kreuzigung nicht von den Auftraggebern abgelehnt wurde, sondern Caravaggio wahrscheinlich selbst entschieden hat, dieses Bild neu anzufertigen: [Caravaggio] realized he had to redo the already accepted Crucifixion of St. Peter on panel to match the second Pauls canvas support, reoriented composition, sunless background and dramatic foreshortening. He made this decision so that the viewer would see two harmonious, similary lit scenes with corresponding diagonal compositions in which the main action receded from the viewer and continued into darkness beyond the outer edges of the altar“ (Nolin 2008, S. 60).

Literaturhinweise 
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Friedlaender, Walter: The “Crucifixion of St. Peter”: Caravaggio and Reni. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 8 (1945), S. 152-160;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (2. Auflage);
Kermani, Navid: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. Verlag C.H. Beck, München 2015, S. 123-127;
Jansson, Peter: Some reflections on Caravaggio’s Religious Art Based on The Conversion of St Paul and The Crucifixion of St Peter. In: Maj-Britt Andersson (Hrsg.), New Caravaggio. Papers presented at the international conferences in Uppsala and Rome 2013. Edizioni Polistampa, Florenz 2013; 
Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. Wilhelm Fink Verlag, München 2001, S. 274-275; 
Lechner, Sonja: NUDA VERITAS – Caravaggio als Aktmaler. Rezeption und Revision von Aktdarstellungen in der römischen Reifezeit. scaneg Verlag, München 2006, S. 152-165;
Nolin, Heather: “Non piacquero al Padrone”: A Reexamination of Caravaggio’s Cerasi Crucifixion of St. Peter. In: Rutgers Art Review 24 (2008), S. 41-71;
Wimböck, Gabriele: Wie ein Dieb in der Nacht. Künstlerkonkurrenz und Innovationsdruck um 1600. In: Ulrich Pfisterer/Gabriele Wimböck (Hrsg.), „Novità“. Neuheitskonzepte in den Bildkünsten um 1600. diaphanes, Zürich 2011, S. 489-517;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 11. November 2020)

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