Donnerstag, 1. November 2012

Dürers Pferde

Albrecht Dürer: Das Große Pferd (1505); Kupferstich
(für die Großansicht einfach anklicken)
Albrecht Dürers Ruhm basierte von Anfang an weniger auf seiner Malerei als auf seinen grafischen Arbeiten. Hatten ihm die Gemälde bei wohlhabenden Bestellern – Fürstenhäuser und Patrizier – gewiss hohe Anerkennung verschafft, so erwarb er sich größte Bekanntheit und Bewunderung durch seine Kupferstiche und seine ersten selbstständig edierten Holzschnittausgaben wie z. B. die Apocalipsis cum figuris von 1498. Für damalige Verhältnisse kann man ohne weiteres von „Weltruhm“ sprechen. Ob Holzschnitt, Kupferstich oder Radierung – Dürer war der erste Künstler, der diese drei Medien meisterhaft beherrschte.

Dürers Ausbildung im Vaterhaus und in der Werkstatt des Malers Michael Wolgemut (1434–1519) war in hohem Maße auf Zeichnung, Grabstichel und Buchholzschnitt ausgerichtet. Diese Tendenz wurde während seiner fünfjährigen Wanderschaft und durch die Italienerfahrungen noch verstärkt. Die Hinwendung zur Grafik mag darüber hinaus darin begründet liegen, „daß der Heimkehrer noch nicht mit Gemäldeaufträgen rechnen konnte, dagegen im Reich des gedruckten Bildes weniger oder gar keine Konkurrenz fürchten mußte“ (Rebel 1996, S. 101). Die technische Reproduzierbarkeit – die Möglichkeit, den bearbeiteten Holzstock oder die Kupferplatte als Druckvorlage wiederzuverwenden und damit hohe Auflagen zu drucken – nutzte Dürer in zuvor nicht gekanntem Maß. Als Erster führte er die Produktion von Druckgrafik im Eigenverlag ein, dem Betrieb einer Malerwerkstatt gleichwertig. Anders als noch sein Lehrer Michael Wolgemut stellte Dürer seine Druckgrafik auf Vorrat und nicht im Auftrag her. Das machte ihn im Bereich dieses Mediums unabhängig von Vorgaben, wie sie ein Auftraggeber als zahlender Kunde bei der Bestellung eines Werkes in der Regel machte. Bereits 1497 stellte Dürer seinen ersten eigenen Kunsthändler ein, Conrad Swytzer, der die Drucke „von einem Ort zu dem anderen und von einer stat zu der andern“ zu höchstmöglichen Preisen feilbieten sollte.
Kupferstiche und Holzschnitte von Albrecht Dürer sind in diesem Blog schon öfter vorgestellt worden (u. a. Vier nackte Frauen, Der verlorene Sohn bei den Schweinen, Das Meerwunder oder das Bildnis des Erasmus von Rotterdam), und so soll es auch weitergehen, denn die Bedeutung der Dürerschen Grafik für die europäische Kunstgeschichte kann gar nicht hoch genug angesetzt werden. Deswegen will ich an dieser Stelle auf drei Kupferstiche Dürers mit Pferdedarstellungen eingehen. Es ist das Verdienst des Nürnberger Künstlers, die Wiedergabe von Pferden so weiterentwickelt zu haben, dass sie noch Generationen nach ihm als Vorbild diente. Dürer löst sich von der spätmittelalterlichen Formensprache, in der das Pferd meist stark stilisiert und lediglich als Standesattribut seines Reiters abgebildet wurde. Es geht ihm dabei nicht nur um Naturnähe – Dürer stellt sie als eigenständige Wesen dar und macht sie zum Ausdrucksträger: Mit Gangart, Gestalt, Haltung und Mimik kann das Pferd eine seelische Gemütslage zum Ausdruck bringen, wodurch das, was die Protagonisten der Bilderzählung darstellen, fühlen oder denken, im Bild unterstützt wird (Sroka 2004, S. 251).
Albrecht Dürer: Das Kleine Pferd (1505); Kupferstich
(für die Großansicht einfach anklicken)
Zunächst zu Dürers Kleinem Pferd: In strenger Seitenansicht steht das jugendlich wirkende Tier auf einem Bodenstreifen vor einer perspektivisch angelegten Bogenarchitektur. Nervös hat es die rechte Vorderhand erhoben; dabei zeigen die Nüstern das typische Flehmen eines Hengstes beim Anblick einer Stute. Auch der aufgerichtete Hals und die vorgeschobene Oberlippe, die die Schneidezähne entblößt, sind eindeutige Anzeichen eines sogenannten Erwartungsgesichtes des Hengstes. Seidig glänzt das gestriegelte Fell. Der Schweif ist, wie damals bei Turnieren üblich, geknotet, die Hufe sind beschlagen. Das Ross steht versammelt, wirkt gehalten, ist aber ungezäumt. Es wird von einem Hellebardier in Rüstung begleitet, der zwar einen zeitgenössischen Dreiviertelharnisch, darüber hinaus aber auch einen phantasievollen Schmetterlingshelm und geflügelte Schuhe trägt. Das prächtige Tier verdeckt den Soldaten weitgehend, weist ihn bedeutungsmäßig in die zweite Reihe (Mende 2001, S. 69).  
Den Hintergrund bildet eine wuchtige, etwas verfallene und antik anmutende Quaderarchitektur; der Blick durch einen Rundbogen fällt dort auf ein mittig platziertes, rauchendes Feuerbecken. Die Jahreszahl 1505 darüber findet ihre Entsprechung in dem bearbeiteten würfelförmigen Stein am unteren Bildrand, auf dessen hell beleuchteter Oberseite Dürer sein Monogramm gesetzt hat. Jens Sroka deutet das Motiv der rauchenden Feuerschale in Dürers Stich als verschlüsselten Hinweis auf die Triebhaftigkeit und Wollust des Hengstes (Sroka 2004, S. 254). Thema des Kleinen Pferd ist für ihn dießigung menschlicher Sinnlichkeit durch die Vernunft. Matthias Mende ist von dieser Interpretationslinie, die auf Erwin Panofsky zurückgeht, allerdings nicht überzeugt: „Die denkmalhafte Ruhe des Tieres widerlegt solche Gedanken. Und wie bändigt der Kriegsmann in der Realität – ohne Halfter oder Zügel! – ein solches Tier? Ersichtlich aus freiem Willen steht es an dieser Stelle, nicht von Banden gehalten. Im Vorausblick auf Darstellungen wilder Pferde bei Hans Baldung Grien oder Sebald Beham kann animalische Sinnlichkeit nicht Thema des Dürer-Stiches B. 96 sein“ (Mende 2001, S. 71).
Hans Sebald Beham: ALEXANDER MANGNVS (um 1525); Kupferstich
Mende ist der Ansicht, dass Dürer mit seinem Kleinen Pferd das berühmteste Ross der Antike zeigen will: Bukephalos. Dieses sagenumwobene Tier wurde von Alexander dem Großen gezähmt und als Leibpferd auf seinen Kriegszügen geritten; Alexander könnte mit dem Ritter hinter dem Ross gemeint sein. Möglicherweise zeigen dann sogar beide Kupferstiche das gleiche Pferd, „einmal im Zenit seiner Lebenskraft und in größtmöglicher Schönheit, dann mit gedunsenem Leib, knotigen Gelenken und teigigen Nüstern“ (Mende 1983). Hans Sebald Beham (1500–1550) hat das Blatt seines Lehrers jedenfalls rund zwanzig Jahre später zitiert und mit dem erklärenden Titel „ALEXANDER MANGNVS“ versehen. Wie unter Kunstwissenschaftlern üblich, gab es auch Einwände gegen Mendes These: „Die derbe Physiognomie und die knechtische Helmbarte, der gegenüber sogar auf das Schwert verzichtet wurde, sprechen allerdings vehement dagegen, daß hier ein König dargestellt werden sollte“ (Schauerte 2003, S. 147).
Thomas Schauerte erinnert daran, dass der Humanist Conrad Celtis Dürer Ende 1500 als „zweiten Apelles“ bezeichnet hatte. Nach Plinius d.Ä. war Apelles der berühmteste Maler der Antike. Dürer könnte nun, so Schauerte, mit seinem Kleinen Pferd auf diesen Ehrentitel reagiert haben, und zwar in einer Art Ekphrasis: „Er schuf ein verlorenes Bild des Apelles neu, das gemäß der allzeit verfügbaren Naturgeschichte des Plinius (Hist. nat. 35,96) den gerüsteten Antigonus neben seinem Pferd einherschreitend zeigte“ (Schauerte 2003, S. 148).
Das Kleine Pferd basiert auf den jahrelangen Bemühungen Dürers, die Darstellung des Pferdes mathematisch zu konstruieren. Wahrscheinlich hat sich Dürer um 1500 nicht nur mit der menschlichen Proportion, sondern auch mit der des Pferdes befasst. Sein mathematisches Proportionsschema, bei dem das Tier in die Felder eines Quadratnetzes eingefügt wird, lehnt sich an italienische Vorbilder an (z. B. an Studien Leonardo da Vincis). Wichtige Modelle für Das Kleine Pferd fand Dürer auch in der Tradition des Pferde- und Reiterstandbildes wie bei den Pferden von San Marco, dem Reiterdenkmal des Gattamelata von Donatello (siehe meinen Post Der Söldnerführer von Padua“) und des Colleoni von Andrea del Verrocchio.
Die Quadriga von San Marco, Venedig
Donatello: Reiterdenkmal des Condottiere Gattamelata (um 1443–1453); Padua, Piazza del Santo
Andrea del Verrocchio: Reiterstandbild des Bartolomeo Colleoni (1480–88); Venedig, Campo Santi Giovanni e Paolo
Das Große Pferd (Abb. ganz oben) ist im gleichen Jahr wie Das Kleine Pferd entstanden (1505) und gilt als dessen Pendant. Die Bildmotive entsprechen sich, doch im Gegensatz zur Profilansicht zeigt Dürer das Tier jetzt aus dem perspektivisch anspruchsvolleren Blickwinkel von schräg rückwärts. Seine Hinterbeine stehen erhöht, Kruppe und Hinterbacken treten so besonders deutlich aus der Fläche. Das beschlagene Ross mit zum Knoten gebundenem Schweif trägt ein Stallhalfter, an dem es offenbar von einem Hellebardier mit Knieschutz und Raupenhelm gehalten wird. Hatte Dürer mit dem Kleinen Pferd „ein rassig temperamentvolles Idealpferd orientalischen Einschlags vorgestellt, so führt er nun mit dem stoisch gelassenen, nordalpinen Arbeitstier einen anderen Pferdetypus vor“ (Scherbaum 2000, S. 121). Die wollige Mähne, die stark behangenen Köten, die krummen Hinterbeine und der schwere Leib verweisen darauf, dass es sich um einen kraftstrotzenden Kaltblüter handelt. Das Ross entspricht dem typischen Kampfpferd der damaligen Zeit und war ohne weiteres in der Lage, einen gerüsteten Mann zu tragen.
Hans Baldung Grien: Der behexte Stallknecht (um 1534); Holzschnitt
Caravaggio: Die Bekehrung des Paulus (2. Fassung, um 1604); Rom,
Santa Maria del Popolo/Cerasi-Kapelle (für die Großansicht einfach anklicken)
Der ungewöhnliche Blickwinkel hat Hans Baldung Grien (1484/85–1545) zu dem Holzschnitt Der behexte Stallknecht (um 1534) angeregt, der Dürers Pferd in einen neuen, unheimlichen Zusammenhang stellt. Auch Caravaggio dürfte in seiner Bekehrung des Paulus (um 1604) in der römischen Cerasi-Kapelle auf den Kupferstich des Nürnberger Meisters zurückgegriffen haben (siehe meinen Post Paulus am Boden“).
Haben Dürers Pferde-Kupferstiche nun eine allegorische Bedeutung, oder müssen sie mythologisch interpretiert werden? Daran scheiden sich die Geister, wie wir gesehen haben. Aber vielleicht sind die beiden Tiere tatsächlich nichts anderes als Studien der zwei Haupttypen des Pferdes: „Das ›Große Pferd‹ stellt das schwere Schlachtroß dar, was der Geharnischte daneben auch andeutet, das ›Kleine Pferd‹ den schnellfüßigen Renner, symbolisiert durch den mit Flügelfüßen neben dem Pferd einherlaufenden Mann“ (Lippmann 1892, S. 16).
Albrecht Dürer: Der heilige Georg zu Pferd (1505/08); Kupferstich
Es gibt von Dürer noch einen weiteren Kupferstich mit einer blattfüllenden Pferdedarstellung: Der heilige Georg zu Pferd, zwischen 1505 und 1508 entstanden und kleinformatiger als die beiden anderen Grafiken (12,6 x 8,3 cm). Das kräftige, wohlproportionierte Streitross streckt die Hinterbeine leicht nach hinten und verlagert sein Gewicht auf die Vorderbeine – eine gut beobachtete typische Pferdehaltung. Der Schweif ist kupiert und in zwei Strähnen aufgebunden; hier und am Stirnschopf ist das Tier mit Eichenlaub geschmückt. Die Sicht von hinten auf das schräg in den Raum gestellte Pferd erinnert an das Große Pferd; allerdings wirken hier die ausgeprägten Muskeln an der Hinter- und Vorderhand sowie an der Brust, der Behang der Köten oder die Haare am Maul weniger übertrieben. Dürer präsentiert das Pferd insgesamt harmonischer. Der Ritter in Reiterharnisch und Helm des späten 15. Jahrhunderts, geschlitztem Lederwams und Lederstulpen ist zeitgenössisch gekleidet. Der erlegte Drache liegt zu Füßen des Pferdes; der Ritter, in andächtig-gesammelter Haltung, blickt in die Ferne, die Strahlen um sein Haupt „künden vom dankbaren Zwiegespräch mit Gott“ (Scherbaum 2000, S. 116).


Literaturhinweise
Eisler, Colin: Dürers Arche Noah. Tiere und Fabelwesen im Werk von Albrecht Dürer. Droemersche Verlagsanstalt, München 1996, S. 233-263; 
Mende, Matthias: Dürer in Dublin. Kupferstiche und Holzschnitte Albrecht Dürers aus der Chester Beatty Library. Verlag Hans Carl, Nürnberg 1983, Nr. 56;
Mende, Matthias: Bukephalos und Alexander der Große? Zur inhaltlichen Deutung von Albrecht Dürers Kupferstich „Das kleine Pferd“ (B. 96). In: Bodo Brinkmann u.a. (Hrsg.), Aus Albrecht Dürers Welt. Brepols, Turnhout 2001, S. 69-75;
Lippmann, Friedrich: Neue Forschungen über Dürer. In: Sitzungsberichte der Kunstgeschichtlichen Gesellschaft Berlin 1892 (4), S. 15-17;
Rebel, Ernst: Albrecht Dürer. Maler und Humanist. C. Bertelsmann Verlag München 1996;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 147-148;
Scherbaum, Anna: Das Kleine Pferd/Das Große Pferd. In: Mende, Matthias u.a. (Hrsg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 117-122; 
Sroka, Jens: Das Pferd als Metapher für menschliche Triebe bei Dürer, Baldung und Füssli. In: Katharina Corsepis u.a. (Hrsg.), Opus Tessellatum. Modi und Grenzgänge der Kunstwissenschaft. Festschrift für Peter Cornelius Claussen. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2004, S. 251-261.

(zuletzt bearbeitet am 3. August 2022)

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