Mittwoch, 12. Dezember 2012

O stolzere Trauer! – Wilhelm Lehmbrucks Skulptur „Der Gestürzte“


Wilhelm Lehmbruck: Der Gestürzte (1915/16); Duisburg, LehmbruckMuseum (für die Großansicht anklicken)
Wilhelm Lehmbruck (1881–1919) ist ohne Abstriche der bedeutendste deutsche Bildhauer des 20. Jahrhunderts. Er hat vor allem Einzelfiguren geschaffen, unter denen als Hauptwerke Kniende (1911), Emporsteigender (1913), Der Gestürzte (1915/16) und Sitzender Jüngling (1916/17) zu nennen sind. 
Wilhelm Lehmbruck: Sitzender Jüngling (1916/17), Bronzeguss; Duisburg, LehmbruckMuseum
Besonders die beiden letztgenannten Skulpturen sind Symbolfiguren: Sie stehen für die Ereignisse zwischen 1914 und 1918; mit ihnen sind die Toten des Ersten Weltkriegs gemeint, und „zugleich sind sie offen für eine Rezeption im Hinblick auf die Trauer späterer Zeiten“ (Schubert 1981, S. 67). Weil diese beiden Skulpturen keine Uniformen tragen, verweisen sie auf alle europäischen Gefallenen. Es ist die Nacktheit, die diese übernationale Dimension ermöglicht – das wird deutlich, wenn man Lehmbrucks Gestalten mit den unzähligen Kriegerdenkmälern vergleicht, die seit 1914 entstanden sind.
Kein Held, sondern Sinnbild für die Verzweiflung über das Massenmorden des Ersten Weltkriegs
Die hingestürzte, kniende Figur des nackten Jünglings hat die Maße 78 x 239 x 83 cm; die Aufnahme hier zeigt das Exemplar aus getöntem Gips, das sich im Duisburger LehmbruckMuseum befindet. Der Künstler präsentierte seine Skulptur erstmals im Februar 1916 auf der zweiten Ausstellung der Freien Secession in Berlin der Öffentlichkeit. Im Katalog zu dieser Ausstellung wird der Gestürzte als „Jüngling“ aufgeführt, aber während der Ausstellung wurde er als „Sterbender Krieger“ bezeichnet. Lehmbrucks Skulptur ist vor seinen persönlichen Kriegserlebnissen entstanden, denn seine Einberufung zum Militärdienst erfolgte erst im Februar 1916.
Die männliche Figur kniet mit gebeugtem Rumpf und versetzten Beinen auf einer leicht gewölbten, rechteckigen Plinthe; das linke Bein ist nach vorn, das rechte nach hinten geschoben. Das Stürzen wird nicht als chaotisches Hinsinken oder Zusammenbrechen gezeigt; das Kniemotiv der schlanken, extrem gelängten Gestalt bildet zusammen mit dem Aufstützen der Arme und des Kopfes eine Art Brücke. Entsprechend den versetzten Beinen sind auch die Arme verschoben: Der linke Arm mit der eingedrehten offenen Handfläche ist zurückgenommen, also nahe dem linken Knie, der rechte nach vorn geschoben, seine Hand hält ein abgebrochenes Schwert, das vom Plinthenrand beschnitten wird.
Pablo Picasso: Guernica (1937); Madrid, Museo Reina Sofia
Es ist das Schwert, das die sterbende männliche Aktfigur als Krieger bzw. als in den Kampf Geschickten kennzeichnet. Als Stumpf ist das Schwert unbrauchbar, und das ist entscheidend: Es ist unbrauchbar für weitere „Heldentaten“ oder Rache-Aktionen – ähnlich dem zerbrochenen Schwert in Picasso Guernica von 1937. Man muss in der Geschichte der Skulptur schon weit zurückgehen, um eine annähernd vergleichbare Skulptur wie den Gestürzten zu finden: den Sterbenden Gallier aus dem 3. Jahrhundert v.Chr. (Musei Capitolini, Rom), der zu einem Denkmal des Königs Attalos I. von Pergamon für seine Siege über die Gallier gehörte. Auf seinen Reisen 1905 und 1912 durch Italien hat Lehmbruck die römische Kopie des hellenistischen Galliers mit Sicherheit gesehen. Der entscheidende Unterschied zur Plastik des Gestürzten liegt darin, „daß er eine nach vorn gebeugte Gestalt ist, der Erde zu entwickelt, brückenhaft“ (Schubert 1990, S. 216).
Sterbender Gallier (3. Jh. v.Chr.); Rom, Musei Capitolini
Heike Frosien-Leinz und Gottlieb Leinz sehen in Lehmbrucks Gestürztem eher einen auf allen vieren Kriechenden als einen in die Knie Gesunkenen. Durch die lang auf dem Boden ausgestreckten Unterschenkel und -arme sucht er sich Halt zu verschaffen, sein Gewicht wird dabei von den aufrechten Oberschenkeln und -armen aufgefangen. Die immense Anstrengung zeigt sich vor allem in seiner rechten Körperhälfte: Die Zehen des nachziehenden Beines krallen sich scheinbar in die Bodenplatte, während der rechte Arm nach vorne wegzurutschen droht. Auch mit seinem extrem abgeknickten Kopf stemmt sich der Jüngling gegen den Boden, um den offenbar bevorstehenden Zusammenbruch aufzufangen.
Michelangelo: Aufrichtung des Kreuzes; linke Lünette des Jüngsten Gerichts“ in der Sixtina, Rom
Eine dem Gestürzten verwandte Körpersprache weist allerdings auch, so Frosien-Leinz/Leinz, die Gestalt eines Engels aus Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle auf. Es handelt sich um einen an der Kreuzaufrichtung beteiligten Engel aus der linken Lünette des Wandfreskos: Der gleiche gebogene Rumpf, die nahezu identische Beinbewegung, der extrem abgeknickte Kopf, die unterschiedlich weit vorgeschobenen Arme kennzeichnen die kräftige, kaum bekleidete und flügellose Jünglingsfigur, die Lehmbruck bei seinem Besuch der Sixtina 1905 gesehen haben muss.
Eine mögliche Anregung könnte auch William Blakes Gemälde Nebukadnezar (zwischen 1795 und 1805 entstanden) gewesen sein – auch wenn unklar ist, wie oder wann Lehmbruck das Bild gesehen haben sollte. Das Alte Testament berichtet, dass Gott den babylonischen König Nebukadnezar für seine Hybris mit Wahnsinn bestraft; fortan muss er unter den Tieren des Feldes hausen: Er „wurde verstoßen aus der Gemeinschaft der Menschen, und sein Herz wurde gleich dem der Tiere und er musste bei dem Wild hausen und fraß Gras wie die Rinder und sein Leib lag unter dem Tau des Himmels und wurde nass, bis er lernte, dass Gott der Höchste Gewalt hat über die Königreiche der Menschen und sie gibt, wem er will“ (Daniel 5,21; LUT). Mit Blakes Nebukadnezar verbindet der Lehmbrucks Figur vor allem „den Sturz in die Horizontale und das animalische Kriechmotiv mit einer offenen und einer geschlossenen Körperseite (Frosien-Leinz/Leinz 2009, S. 283).
William Blake: Nebukadnezar (zwischen 1795 und 1805); London, Tate Gallery
Auch Auguste Rodin (1840–1917) hat in seiner Bronze-Skulptur Ugolino und seine Söhne, die im Zusammenhang mit dem Höllentor entstand, den Vater als Kriechenden dargestellt. Wie bei Blake steht diese Pose bei Rodin für tiefe Verzweiflung und Vertierung: Der auf dem Boden, über die Körper seiner geschwächten Kinder kriechende Ugolino ist im Begriff, vor Hunger die eigenen Söhne zu essen. Karina Türr hat darüber hinaus im Zusammenhang mit dem Gestürzten auf die Leichenabgüsse von Pompeji verwiesen, die,
in Gips ausgegossen, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haltbar gemacht und in Fotografien verbreitet wurden.
Auguste Rodin: Ugolino und seine Kinder (1880); Paris, Musée Rodin
Mit Gips ausgegossener Leichnam aus Pompeji, Aufnahme von 1875
Lehmbrucks Gestürzter, ohne Zweifel ein Hauptwerk der Plastik des 20. Jahrhunderts, ist meiner Ansicht nach eine auch heute noch überzeugende, sehr bewegende sinnbildliche Darstellung für das Sterben im Krieg, das zur Klage aufruft. Lehmbruck verzichtet auf alles Beiwerk, auf erklärende oder deklamierende Inschriften, selbst auf die direkte Verbindung zum Betrachter durch Antlitz und Blick des Sterbenden. Seine Figur verkörpert keinerlei heldisches Pathos, sondern ist allein mit dem Pathos und dem tiefen Ernst der Trauer verknüpft. Lediglich Ernst Barlachs hölzernes Ehrenmal in Magdeburg (1929) und Käthe Kollwitz’ Kniende Eltern (1926-1932) stehen im Gegensatz zu den vielen nationalistisch gefärbten Kriegerdenkmälern dem tiefen Trauer-Gestus von Lehmbrucks Gestürztem nahe.
Ernst Barlach: Ehrenmal im Magdeburger Dom (1929)
Käthe Kollwitz: Trauernde Eltern (1926-1932); Belgien, Deutscher Soldatenfriedhof in Vladslo
Teresa Ende allerdings hat in einer 2015 veröffentlichten Arbeit nochmals eine neue Interpretation des Gestürzten vorgelegt, die vor allem die Antikriegs-Deutung von Lehmbrucks Skulptur hinterfragt und vom Kopf auf die Füße stellt. Sie sieht in der Figur eine Art zu Boden gegangenen, auf der Erde kriechenden neuen Laokoon: „Das traditionsreiche Vorbild erscheint hier vertikal gewendet, wie vornüber gekippt. Die Haltung der Arme ist spiegelverkehrt – der rechte geht nach hinten zum vorgeschobenen Oberschenkel, der linke ist über den Kopf gestreckt(Ende 2015, S. 239). 
Laokoon-Gruppe (nach der Restaurierung von 1957/60); Rom, Vatikanische Museen
Lehmbruck habe eine moderne Verkörperung von größtmöglichem Schmerz und Trauer gestalten wollen, so Ende, bei der allein der Körper als Emotionsträger dient – denn das Gesicht des Gestürzten ist für den Betrachter kaum zu sehen. Die Figur folge nicht dem antik-heroischen Ideal des vorbildlich trainierten Körpers mit differenzierter Oberflächengestaltung
, wie ihn der Laokoon, der Sterbende Gallier und zahlreiche andere antike Skulpturen noch im Moment der äußersten Niederlage zeigen; der Gestürzte sei andererseits aber auch nicht vom Krieg gezeichnet wie z. B. die verwundeten oder getöteten Soldaten, die Otto Dix in seiner Grafik-Folge Der Krieg von 1924 dargestellt hat: „Mit seinen schmalen, zu Streben stilisierten Gliedern und der verwaschenen, vereinheitlichenden Oberfläche, frei von individuellen Merkmalen und Makeln ist es ein enthobener, sozusagen ein entmaterialisierter Körper. Er ist ponderierte Form ohne Sinnlichkeit(Ende 2015, S. 250).
Anders als Dietrich Schubert sieht Teresa Ende in der Pose des Gestürzten kein Aufbegehren gegen den sinnlosen Massentod, sondern vielmehr „Demut und Dienstbarkeit für die höhere Sache, wie sie von Soldaten und jedem Bürger gefordert wurde“ (Ende 2015, S. 253). Lehmbrucks Symbolfigur sei der Versuch, dem Sterben einen höheren und nationalen Sinn zu geben, es pathetisch-monumental zu verklären: Grundlage ist der Glaube an die zyklische Notwendigkeit und den überindividuellen Nutzen von Schmerz und Tod, ihre vermeintlich reinigende Kraft und Verwandlungsmacht – keine Erlösung ohne Opfer“ (Ende 2015, S. 253). Im Gestürzten werde das Ideal des Heroischen keineswegs aufgegeben; die Skulptur bleibe ein heldenhaftes Vorbild, die aber ohne muskulösen Körper, herrische Pose und durchdringenden Blick auskomme: „Willensstärke, Nach-innen-Gewandtheit und Seelengröße sind seine ,Waffen‘, die sich in einem entsinnlichten Körper manifestieren“ (Ende 2015, S. 257). Lehmbruck bediene sich hierzu des Laokoon, dem klassischen Beispiel für einen heroischen Sieg in der Niederlage, um ihn in einer „geerdeten“ Neuschöpfung zu aktualisieren. Dabei bilde das entleerte Gesicht und der formalisierte Leib die Voraussetzung für die Evokation eines geistigen Triumphs.
 

Literaturhinweise
Ende, Teresa: Wilhelm Lehmbruck – Geschlechterkonstruktionen in der Plastik. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2015, S. 213-257;
Frosien-Leinz, Heike/Leinz, Gottlieb: Maillol und Lehmbruck: Gesten der Meditation. In: Städel-Jahrbuch 20 (2009), S. 267-286;
Hartog, Arie: Die Metaphysik des Opfers. Bemerkungen zu Lehmbrucks Gestürztem. In: Martina Rudloff/Dietrich Schubert, Wilhelm Lehmbruck. Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen 2000, S. 163-177;
Schubert, Dietrich: Anmerkungen zur Kunst Wilhelm Lehmbrucks. In: Pantheon 39 (1981), S. 55-69;
Schubert, Dietrich: Die Kunst Wilhelm Lehmbrucks. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1990 (zweite Auflage);
Türr, Karina: Zur Antikenrezeption in der französischen Skulptur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1979, S. 130;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 29. Mai 2020)

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