Samstag, 18. Mai 2013

Kunstvoller Weltuntergang – Albrecht Dürers „Apokalypse“ (Teil 2)


Albrecht Dürer: Die vier Reiter (um 1497/98); Holzschnitt
(für die lohnenswerte Großansicht einfach anklicken)
Der Holzschnitt mit den vier apokalyptischen Reitern (III. Figur) ist wohl das bekannteste Blatt des gesamten Zyklus. Während im Text des Johannes die apokalyptischen Reiter nacheinander auftreten (Offb. 6,1-8), vereint Dürer sie zu einer äußerst dynamischen, gemeinsam voranstürmenden Phalanx, und das zum ersten Mal in der Kunstgeschichte. In ihrer Anordnung folgt Dürer dem Text. Jeder Reiter steht für eine spezielle Plage: der Reiter mit Pfeil und Bogen für den Machtmissbrauch der Obrigkeit oder für den gewalttätigen Eroberungsdrang der Völker, der Reiter mit dem Schwert für den Krieg, der mit der Waage für Teuerung und Hungersnot – zur Zeit Dürers das größte Übel – und schließlich über dem sich weit öffnenden Rachen der Hölle der vierte Reiter, der Tod. Über der Szene schwebt ein apokalyptischer Engel, der mit seiner Rechten das Strafgericht segnet.
Die Kette der wild dahinjagenden Reiter richtet ihren Blick auf ein Ziel in der Ferne; ihre Vierzahl steht für die vier Himmelsrichtungen und gibt damit die weltweite Dimension der Verwüstungen an, die sie anrichten. Dass ihr Ausrücken mit dem Öffnen der Siegel in Zusammenhang steht, von dem der Bibeltext spricht, verdeutlicht das Strahlenbündel in der linken oberen Ecke: Es stammt aus der II. Figur, in dem das Himmelstor mit Blitz und Donner aufgesprungen ist (Offb. 4,5). Gnadenlos galoppieren die vier Reiter über die stürzenden und taumelnden Stände der Gesellschaft hinweg, repräsentiert durch eine Bürgersfrau, einen feisten Kaufmann, einen Mönch mit Tonsur und einen Bauern: Vor der himmlischen Gerechtigkeit sind alle gleich. Im Rachen der Hölle verschwindet vor allen anderen zuerst ein Angehöriger der Obrigkeit, der durch seine Kopfbedeckung, eine Kombination aus Kaiserkrone und Bischofsmitra, für die weltlichen wie auch die geistlichen Machthaber steht: Gottes unentrinnbares Strafgericht bezieht alle ein.
Besonders hervorgehoben durch seine zentrale Stellung im Bild ist der dritte Reiter mit der Waage, sich frei vom Hintergrund abhebend und kaum überschnitten, der sein Attribut wie eine Waffe schwingt. Er unterscheidet sich nicht nur durch seinen jugendlich starken Wuchs deutlich von den anderen Reitern. Allein durch ihre Größe wirkt die Figur dominant: Sie erstreckt sich beinahe über zwei Drittel der Breite und die halbe Höhe des Holzschnitts. Man hat in ihr deswegen auch den Anführer der Kohorte gesehen. Da dieser Reiter offenbar blind ist – in dem weit geöffneten rechten Auge scheint die Pupille zu fehlen –, könnte er auch die himmlische Gerechtigkeit verkörpern, zumal die Waage „in ihrer Schräglage so wirkt, als sei sie von den Blitzen gesendet“ (Perrig 1987, S. 8). Folgt man dieser Deutung, dann wären die drei bewaffneten Begleiter dieser Gestalt sozusagen die Vollstreckungsorgane des göttlichen Strafgerichts.
Die oberen drei Reiter scheinen der himmlischen Sphäre anzugehören, nur der Tod und das ihm nachfolgende Höllenmaul sind Bestandteile des irdischen Bereichs. Die Menschen werden durch den Sturmwind zu Boden gerissen, den ihr Ritt entfacht, und nicht durch die Pferde niedergetrampelt. Es ist der Tod, der das Strafgericht zum Abschluss bringt. Der Bauer ganz rechts, der als Einziger unter den Opfern noch aufrecht steht, hat Blickkontakt mit ihm; dem Tod, nicht der heranstürmenden Reitergruppe, gilt seine abwehrende Gebärde. 
Dürer zeigt die drei oberen Reiter in einer sich kontinuierlich entfaltenden Bewegung: Das Pferd des Waageträgers scheint im Absprung begriffen, das Reittier des Schwertträgers fliegt gerade voran, das Pferd des Bogenschützen befindet sich schon im Niedersprung. Die hintereinander und diagonal gestaffelten Reiter leiten den Blick des Betrachters nach rechts weiter, und zwar über das vom Rahmen begrenzte Bildfeld hinaus: Der Pfeil und die Stirn des obersten Pferdes werden bereits von der Einfassungslinie überschnitten. „Die dynamische Aktion reicht somit potentiell über den Bildrand hinaus (Krüger 1996, S. 31). 
Der rechte Vorderlauf des Bogenschützen-Pferdes lenkt jedoch unseren Blick nach unten rechts auf die überwiegend in Rückenansicht dargestellte, kompliziert verdrehte Figur des Bauern. Angstvoll hat er sich im Lauf umgewendet, den Kopf ins Profil gedreht – gleich wird er über einen bereits Gefallenen stolpern und ebenfalls zu Boden fallen. Damit kehrt sich sozusagen die „Leserichtung“ des Holzschnitts um: Der Blick folgt nun dem des Bauern die abfallende Diagonale der Gestürzten entlang bis zum linken Bildrand, wo bereits der Höllenrachen wartet.

1 Und ich sah, dass das Lamm das erste der sieben Siegel auftat, und ich hörte eine der vier Gestalten sagen wie mit einer Donnerstimme: Komm! 2 Und ich sah, und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hatte einen Bogen, und ihm wurde eine Krone gegeben, und er zog aus sieghaft und um zu siegen. 3 Und als es das zweite Siegel auftat, hörte ich die zweite Gestalt sagen: Komm! 4 Und es kam heraus ein zweites Pferd, das war feuerrot. Und dem, der darauf saß, wurde Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, dass sie sich untereinander umbrächten, und ihm wurde ein großes Schwert gegeben. 5 Und als es das dritte Siegel auftat, hörte ich die dritte Gestalt sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der darauf saß, hatte eine Waage in seiner Hand. 6 Und ich hörte eine Stimme mitten unter den vier Gestalten sagen: Ein Maß Weizen für einen Silbergroschen und drei Maß Gerste für einen Silbergroschen; aber dem Öl und Wein tu keinen Schaden! 7 Und als es das vierte Siegel auftat, hörte ich die Stimme der vierten Gestalt sagen: Komm! 8 Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, dessen Name war: Der Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen wurde Macht gegeben über den vierten Teil der Erde, zu töten mit Schwert und Hunger und Pest und durch die wilden Tiere auf Erden. (Offenbarung 6,1-8; LUT)
Albrecht Dürer: Die Eröffnung des fünften und des sechsten Siegels
(um 1497/98); Holzschnitt (für die Großansicht einfach anklicken)
In der IV. Figur fasst Dürer zwei Ereignisse in einem Bild zusammen: Die im 6. Kapitel der Offenbarung geschilderte Austeilung der Gewänder an die Märtyrer unter dem Altar (Offb. 6,9-11; 5. Siegel) ist in der oberen Bildhälfte dargestellt, in der unteren das auf die Öffnung des sechsten Siegels folgende Herabfallen der Sterne (Offb. 6,12-17). Über den Wolken nehmen sich sechs Engel fürsorglich der „Seelen unter dem Altar“ an und reichen ihnen weiße Gewänder. Zu den Blutzeugen in der himmlischen Sphäre gehört auch ein Paar, das vor dem Altar liegt und sich noch im Todeschlaf zu befinden scheint. Eine dritte, kleinere Figur ist ihm zugeordnet. Bei dem Paar könnte es sich um Adam und Eva handeln; die dritte Figur wäre dann Abel, mit dem die Reihe der Märtyrer anhebt (1. Mose 4,10; Matthäus 23,35; Hebräer 11,4 und 12,24). Vom Rachegeschrei der Märtyrer, von dem der Text spricht und als dessen unmittelbare Folge der Sternenregen aufgefasst werden kann, ist in Dürers Holzschnitt nichts zu erkennen.
Unter dieser Szene reißen die Wolken trichterförmig auseinander. Brennende Sterne sprühen, wie aus einer Düse gepresst, auf eine Felsenlandschaft herab, in der sich Menschen in Sicherheit zu bringen versuchen. Aus ihren Gesichtern spricht panische Angst und blankes Entsetzen. Ein Papst mit der Tiara, ein Bischof mit Mitra, ein Kardinal mit großem Hut auf dem Rücken und ein vor ihm liegender Kaiser oder König versinken wie alle übrigen im Erdboden. Von einem versunkenen Türken sieht man nur noch den Turban. Die Bildgestaltung ist einem Stundenglas vergleichbar, die schmalste Stelle zwischen den beiden Welten lässt an den mühevoll zu findenden Eingang ins Paradies denken.
Martin Schongauer: Salvator Mundi; Kupferstich
Für die Darstellung des Kindes in der linken unteren Ecke griff Dürer auf Martin Schongauers Kupferstich mit dem Christuskind als Salvator Mundi zurück; seine Mutter erinnert an die wehklagende alte Frau in Andrea Mantegnas Kupferstich Grablegung Christi.
Andrea Mantegna: Grablegung Christi (1470/75); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
9 Und als es das fünfte Siegel auftat, sah ich unten am Altar die Seelen derer, die umgebracht worden waren um des Wortes Gottes und um ihres Zeugnisses willen. 10 Und sie schrien mit lauter Stimme: Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächst nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen? 11 Und ihnen wurde gegeben einem jeden ein weißes Gewand, und ihnen wurde gesagt, dass sie ruhen müssten noch eine kleine Zeit, bis vollzählig dazukämen ihre Mitknechte und Brüder, die auch noch getötet werden sollten wie sie. 12 Und ich sah: Als es das sechste Siegel auftat, da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde finster wie ein schwarzer Sack, und der ganze Mond wurde wie Blut, 13 und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, wie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft, wenn er von starkem Wind bewegt wird. 14 Und der Himmel wich wie eine Schriftrolle, die zusammengerollt wird, und alle Berge und Inseln wurden wegbewegt von ihrem Ort. 15 Und die Könige auf Erden und die Großen und die Obersten und die Reichen und die Gewaltigen und alle Sklaven und alle Freien verbargen sich in den Klüften und Felsen der Berge 16 und sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallt über uns und verbergt uns vor dem Angesicht dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem Zorn des Lammes! 17 Denn es ist gekommen der große Tag ihres Zorns und wer kann bestehen? (Offenbarung 6,9-17; LUT)

Die Literaturhinweise sind in Teil 7 aufgeführt.
(zuletzt bearbeitet am 1. April 2018)

P.S. Dietwald Doblies merkt in einer Mail an, dass der Waage-Reiter in der III. Figur sehr wohl über eine Pupille verfüge: Was man bei flüchtiger Betrachtung als „Auge“ deute, sei das in höchstem Grimm nach oben gezogene Unterlid. Das Auge befinde sich zum Schlitz verengt darüber, was sich jedoch auf einer kleinen Abbildung nicht mehr erkennen lasse. Und hier sei – bei entsprechender Vergrößerung sichtbar – auch ganz winzig eine Pupille eingezeichnet, die man leicht als Schattierung des Oberlides fehldeuten könne.

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