Mittwoch, 19. Dezember 2018

Sorgenvoll versunken – Rembrandt malt den Apostel Paulus

Rembrandt: Der Apostel Paulus an seinem Arbeitstisch (um 1629/30); Nürnberg,
Germanisches Nationalmuseum (für die Großansicht einfach anklicken), Foto: Dirk Meßberger
In einem Raum, der durch einen hölzernen Wandpfosten, einen Dachbalken und einen Mauerbogen angedeutet ist, sitzt ein alter Mann mit grauem Bart auf einem Stuhl an seinem Arbeitstisch. Das rechts oben hängende Schwert, das große, offene Buch vor ihm und die Schreibfeder in seiner Hand zeigen an, dass es sich um den Apostel Paulus handelt. Das Schwert als Attribut verweist auf das Martyrium des Paulus – der Legende nach wurde er enthauptet. Alternativ könnte es aber auch auf seine Vergangenheit als Christenverfolger anspielen.
Völlig in seine Gedanken versunken, ist der Blick des Apostels nach links unten auf den Boden gerichtet. Sein rechter Arm hängt entspannt über der Rückenlehne des Stuhles. Mit den Knöcheln der linken, zur Faust geballten Hand stützt er sich auf den Tisch auf. Paulus ist mit einem hellbraunen Mantel bekleidet, aus dem die dunkelbraunen Ärmel seines Wamses hervorschauen. Um die Taille trägt er eine orientalische Schärpe. Es scheint, als sei Paulus nach einem längeren Moment des Nachsinnens „gerade im Begriff, die senkrecht auf den Tischrand aufgesetzte Faust als Hebel zu benutzen, um sich aus der zurückgesunkenen Haltung aufzurichten“ (van Thiel 1991, S. 136). Eine Lichtquelle, wohl eine brennende Kerze, wird von dem schräg aufgestellten, offenen Folianten auf dem Tisch verdeckt. Der auf diese Weise entstehende Schatten hüllt den gesamten Vordergrund des Bildes in Dunkelheit – die Füße des Paulus sind nicht zu erkennen. Die dunklen Schattenpartien betonen wiederum das hell erleuchtete Gesicht sowie die aufgestützte linke Hand.
Von links oben fällt Tageslicht in das Zimmer und lässt besonders den Kopf des Apostels aufleuchten – Rembrandt deutet damit die göttliche Inspiration an, die Paulus zum Abfassen seiner neutestamentlichen Briefe befähigt. Sie sind von der Sorge des ersten christlichen Missionars um die von ihm gegründeten Gemeinden geprägt. Daniel Hess erkennt im Gesicht des nachdenklicken Apostel auch resignative Züge: „Damit scheint Rembrandt die seit der Renaissance in der Kunst häufig thematisierte Temperamentenlehre bemüht und Paulus als Melancholiker auf dem schmalen Grat zwischen genialer Leistung und depressiver Passivität aufgefasst zu haben“ (Hess 2004, S. 74).
Das Gemälde ist fast vollständig in Braun- und Gelbtönen ausgeführt, die ihm eine fast höhlenartige Anmutung verleihen. Nur die Schärpe enthält einige Farbakzente, die das Muster wiedergeben. Rembrandt hat die Farbe überall dick aufgetragen, sowohl in den sehr hellen Bereichen wie auch im dunklen Vordergrund und den übrigen Schattenzonen. Die Pinselstriche sind meist deutlich zu erkennen, vor allem in den hellen Partien. „Die beleuchteten Wände zeigen ein ungeordnetes Muster aus groben Strichen und Tupfen, eine Malweise, die eine besonders wirklichkeitsnahe Wiedergabe der unregelmäßigen Putzschicht und des darauf fallenden Lichtscheins ermöglicht“ (van den Boogert 2001, S. 223/224). Bei dem auffälligen orientalischen Krummsäbel (ein Jatagan), das zusammen mit der Scheide am Wandpfosten hängt, handelt es sich übrigens um ein Requisit aus Rembrandts Atelier – es taucht auch in Bildern seiner Schüler auf.
Das Nürnberger Gemälde ist weder signiert noch datiert, doch wird nicht bezweifelt, dass es sich um eine eigenhändiges Werk Rembrandts handelt, entstanden um 1629/30, also noch in der Leidener Zeit des Künstlers, bevor er 1630 nach Amsterdam übersiedelte.

Literaturhinweise
Hess, Daniel: Der Apostel Paulus im Nachdenken. In: Germanisches Nationalmuseum (Hrsg.); Faszination Meisterwerk. Dürer – Rembrandt – Riemenschneider. Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2004, S. 72-74;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 279
van den Boogert, Bob: Rembrandt Harmensz. van Rijn – Der Apostel Paulus am Schreibtisch, um 1629/30. In: Ernst van de Wetering/Bernhard Schnackenburg (Hrsg.), Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge. Edition Minerva, Wolfratshausen 2001, S. 222-225;
van Thiel, Pieter: Der Apostel Paulus an seinem Arbeitstisch. In: Christopher Brown u.a. (Hrsg.), Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 136-138.

(zuletzt bearbeitet am 10. Juni 2020)

Mittwoch, 12. Dezember 2018

Vergebliche Reue – Rembrandts „Judas bringt die 30 Silberlinge zurück“

Rembrandt: Judas bringt die 30 Silberlinge zurück (1629); England, Privatsammlung
(für die Großansicht einfach anklicken)
Im Matthäus-Evangelium (27,3-5) wird erzählt, dass Judas seinen Verrat an Jesus bereut und die 30 Silberlinge, die er als Belohnung für seine Tat erhalten hat, den Hohepriestern und Ältesten im Tempel von Jerusalem zurückgeben will. Nach seiner Wehklage („Ich habe gesündigt, unschuldiges Blut habe ich verraten“, LUT) distanzieren sich die religiösen Führer des Volkes jedoch von ihm – woraufhin Judas die Silberlinge in den Tempel wirft, fortgeht und sich erhängt.
Rembrandts Gemälde von 1629 zeigt uns als Schaupatz dieses Geschehens einen abgesonderten, nur durch eine Hinterteppe zugänglichen Tempelraum, „der den geheimen Beratungen und Geschäften der jüdischen Priesterschaft vorbehalten zu sein scheint“ (Keller 1979, S. 88). Als Tempel gekennzeichnet ist der Raum durch die monumentale Säule im Hintergrund. Rechts vorne kniet in zerrissenen Kleidern der reuige Judas. Seine Haltung ist die eines von Gewissensbissen und innerer Pein gequälten Menschen, das Gesicht schmerzverzerrt, mit Tränen auf den Wangen und Blut am Kopf als Hinweis darauf, dass Judas sich die Haare ausgerissen hat. Vor ihm auf dem hölzernen Fußboden liegen (exakt) 30 silberne Münzen.
Dahinter sitzt auf einem Podest, das von einem Baldachin überspannt wird, der Hohepriester Kaiphas, federführend bei der Gefangennahme Jesu und seiner Auslieferung an die Römer. Er trägt einen violett-braunen Überrock mit Goldstickerei, einen Mantel aus Goldbrokat sowie goldbestickte Schuhe und einen seidenen Turban. Seine kostbaren Gewänder stehen in scharfem Kontrast zu der ärmlichen braunen Kleidung des Judas. Mit der linken Hand wehrt Kaiphas Judas ab, wobei er das Gesicht von ihm abwendet.
Hinter ihm befindet sich ein Hohepriester mit einer hohen Mütze auf dem Kopf, der mit wütendem Blick und geballten Fäusten auf Judas herabsieht. Links neben ihm stehen drei der Ältesten des Volkes: Mit unverhohlener Abscheu beobachten sie das Geschehen, wobei der mittlere abwehrend seine Linke ausgestreckt hat. Ihre nach vorne gebeugte Haltung lenkt den Blick auf das „Blutgeld“, das Judas zurückbringt. „Die schweren Prunkgewänder über den beleibten Körper deuten an, daß es das Interesse an Prestige und Wohlleben ist, was diese Männer verbindet“ (Keller 1979, S. 88). Im Vordergrund links, mit dem Rücken zum Betrachter, sitzt ein Schriftgelehrter in einem Savonarola-Stuhl an einem Tisch, der mit einem kostbaren Teppich bedeckt ist. Auf dem Tisch liegen unter anderem ein großes offenes Buch mit hebräischen Buchstaben und eine Papierrolle.
Oben in der Mitte des Bildes ist gerade noch die Stoffblende des Baldachins zu sehen, dessen Rückwand aus einem grünen, mit Gold abgesetzten Tuch besteht. Davor ist ein großer vergoldeter Zierschild aufgehängt. In der Bogenöffnung rechts sieht man eine kupferne Hängelampe und zwei kleine Figuren, die auf der Treppe nach oben steigen. Rudolf Preimesberger interpretiert sie als „betroffene Boten des Todes Jesu“ und die Finsternis der rechten Bildhälfte dementsprechend als „die Dunkelheit des Karfreitags“ (Preimesberger 2009, S. 109).
Von links oben fällt ein Lichtstrahl auf den Tisch mit dem offenem Buch sowie auf die auf dem Boden liegenden Münzen. Auch die Umgebung wird von diesem gebündelt einfallenden Licht beleuchtet. Die hellsten Partien sind hier der Oberkörper des Judas, die funkelnde Kleidung des Kaiphas sowie die des Ältesten ganz links. Das Licht erzeugt darüber hinaus starke Reflexe auf dem Zierschild rechts oben. „Das wirbelnde Spiel von Licht und Schatten, von Reflexen und Lichtabstufungen verleiht der Darstellung ungeahnte Lebendigkeit, Räumlichkeit und Dramatik“ (van den Boogert 2001, S. 226).
Die Schattenpartien auf der rechten Seite des Bildes sind überwiegend dünn gemalt, nur bei manchen Gegenständen wie etwa dem Tuch oder dem Schild hinter Kaiphas ist die Farbe pastos aufgetragen. In der linken Bildhälfte ist die Farbschicht dagegen weit unregelmäßiger und unebener, weil Rembrandt während des Malens Änderungen an der Komposition vorgenommen hat. Die am hellsten beleuchteten Bereiche des Bildes sind mit größter Präzision gemalt. Die Stoffpartien, vor allem die Kleidung des Kaiphas, wurden mit feinen Pünktchen und kleinen Pinselstrichen ausgeführt. „Die raffinierte Setzung der Glanzlichter und die subtilen Farbabstufungen in den Falten sorgen für eine besonders überzeugende Illusion von Stofflichkeit“ (van den Boogert 2001, S. 228). Der kostbare Teppich links ist mit pastosen Tupfen und Pinselstrichen gemalt, was die Oberflächenstruktur des Materials verblüffend wirklichkeitsnah nachahmt.
Rembrandt: Tobias und Anna (1626); Amsterdam, Rijksmuseum
Rembrandts Gemälde wurde von seinen Zeitgenossen vor allem wegen der heftigen Emotionen geschätzt, die sich an Gestik und Mimik der gequälten Judas-Figur ablesen lassen. Was den Gesichtsausdruck und die Gebärdensprache betrifft, ist der verzweifelte Judas eng mit der schmerzerfüllten Gestalt des Tobias verwandt, die Rembrandt 1626 malte.
Ulrich Keller erkennt in Rembrandts Darstellung darüber hinaus eine polemische Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche: Der Künstler widme sich der Charakterisierung „der lichtscheuen, prunkliebenden Priesterclique mit einer Leidenschaft, die nur aus einer aktuellen Konfliktsituation, und das heißt, der seinerzeit inm Holland herrschenden Papstfeindlichkeit gespeist sein kann“ (Keller 1979, S. 89/90).

Literaturhinweise
Keller, Ulrich: Knechtschaft und Freiheit. Ein neutestamentliches Thema bei Rembrandt. In: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 24 (1979), S. 77-112;
Preimesberger, Rudolf: »Inventio« in Rembrandts Frühwerk. »Die Erweckung des Lazarus« in Los Angeles und »Die Reue des Judas« in englischem Privatbesitz. In: Holm Bevers u.a. (Hrsg.), Rembrandt – Wissenschaft auf der Suche. Beiträge des Internationalen Symposiums Berlin – 4. und 5. November 2006. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2009, S. 97-112;
van den Boogert, Bob: Rembrandt Harmensz. van Rijn – Der reuige Judas bringt die 30 Silberlige zurück, 1629. In: Ernst van de Wetering/Bernhard Schnackenburg (Hrsg.), Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge. Edition Minerva, Wolfratshausen 2001, S. 226-229;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 19. März 2021) 

Freitag, 7. Dezember 2018

In die Zange genommen – Rembrandts „Gleichnis vom reichen Kornbauer“

Rembrandt: Gleichnis vom reichen Kornbauer (1627); Berlin Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken)
In einem überwiegend halbdunklen Raum, in dem vorne links ein Stuhl, an der linken Wand ein Ofen und im Hintergrund ein offener Schrank mit gefüllten Geldbeuteln zu erkennen sind, sitzt zu später Stunde ein alter Mann mit einem Kneifer auf der Nase an einem Tisch. Die einzige Lichtquelle im Zimmer ist eine brennende Kerze; nur die Gegenstände in ihrer unmittelbaren Umgebung werden von ihr erhellt. Der Alte, der den Leuchter in seiner Linken hält, betrachtet im Schein der Flamme aufmerksam eine Münze. Er hält sie zwischen den Fingern seiner rechten Hand, hinter der die Kerzenflamme verborgen ist. Der Mann ist von halbkreisförmig aufgetürmten, unordentlichen Stapeln alter Bücher umgeben, zwischen denen sich etliche lose Blätter, mit Siegeln versehene Dokumente und andere Papiere befinden. Rechts neben ihm ist ein auffalllend großer Geldbeutel mit Handgriff platziert. Auf einem der Bücher sowie einigen weiteren Papieren erkennt man pseudo-hebräische Buchstaben. Vor dem Mann liegen auf einer Tischplatte eine Goldwaage, ein Kästchen mit Gewichten und weitere Goldmünzen. Links vorn befindet sich ein großes offenes Rechnungsbuch, in dem Streichungen vorgenommen wurden. Das Kostüm des Alten ist altertümlich – die Form des Baretts und des Mühlsteinkragens waren zu Zeiten Rembrandts bereits aus der Mode.
Was auf den ersten Blick wie die Darstellung eines alten Wucherers aussieht, der sich einzig und allein für sein Geld und seine Buchhaltung interessiert, dürfte sich aber sehr wahrscheinlich eher auf eines der Gleichnisse Jesu aus dem Lukas-Evangelium beziehen. Es handelt sich um das Gleichnis vom reichen Kornbauer, das hier mit seinen sechs Versen zitiert sei: „Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Es war ein reicher Mensch, dessen Land hatte gut getragen. Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle. Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin sammeln all mein Korn und meine Güter und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern. Und wem wird dann gehören, was du bereitet hast? So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott“ (Lukas 12,16-21; LUT). Die nächtliche Szenerie, die Rembrandt für sein Gemälde wählt, entspricht dabei ganz der biblischen Vorlage; ebenso sind die pseudo-hebräischen Schriftzeichen als Hinweis darauf zu sehen, dass Rembrandt hier ein biblisches Ereignis wiedergibt. Vor allem aber umschließt der Aufbau aus Büchern und Papieren den reichen Toren derart bedrohlich, geradezu wie eine Zange oder ein gefräßiges Maul, dass dessen bevorstehender Untergang unmissverständlich ins Bild gesetzt ist. Auf dem Ofen am linken Bildrand steht eine Uhr – sie könnte die ablaufende Zeit des alten Mannes symbolisieren.
Gerrit van Honthorst: Alte Frau mit Münze (um 1620/21); Amsterdam, The Kremer Collection
Im Gleichnis vom reichen Kornbauer wendet Rembrandt erstmals die besonderen Helldunkel-Effekte an, die später ein viel gerühmter, fester Bestandteil seines Stils werden sollten. Das virtuose Spiel von Licht und Schatten, das er hier vorführt, ist eng mit den nächtlichen Kerzenlicht-Szenen der Utrechter Caravaggisten verwandt (siehe meinen Post „Gehaltene Augen“). Ein Gemälde von Gerrit van Honthorst (1592–1656) aus dem Jahr 1624, auf dem eine alte Frau mit Brille in genau der gleichen Weise eine Münze in das Kerzenlicht hält wie Rembrandts alter Mann, kann wohl als direkte Inspirationsquelle für den jungen Leidener Künstler angesehen werden.
Rembrandt: Darbringung im Tempel (1627/28); Hamburg, Kunsthalle
Die Farbgebung auf Rembrandts kleinformatiger Darstellung (31,9 x 42,5 cm) ist überwiegend auf Braun- und Grautöne beschränkt. Die Begrenzung der Farbskala auf wenige benachbarte Farbtöne zeigt sich auch in Rembrandts wenig später entstandenem Bild Darbringung im Tempel von 1627/28 (siehe meinen Post „,Meine Augen haben deinen Heiland gesehen‘“). Die Farbe selbst ist in unserem Berliner Gemälde auf der gesamten Bildfläche sehr gleichmäßig aufgetragen – nur um die Lichtquelle herum wurde ein Impasto verwendet. Vereinzelt nutzte Rembrandt auch den Pinselstiel, um die noch feuchte Farbe wieder abzukratzen und so etwa die Schnittkanten der Blätter des großen aufgeschlagenen Buches links im Vordergrund darzustellen. Besonders gelungen sind dem Malers die im Hintergrund, im Halbdunkel liegenden Partien: „Das ist es, was Caravaggio und seinen Nachfolgern weniger glückte: Fehlt das Licht, herrscht bei ihnen Dunkelheit. Rembrandt ist der erste Maler in der Geschichte der Kunst, der einen verdunkelten Raum glaubwürdig und mit Erhalt der Tiefenwirkung darzustellen wusste“ (van den Boogert 2001, S. 213). 
Jan Lievens: Der Federschneider (1627); Köln, Wallraf-Richartz-Museum
Wohl im gleichen Jahr entstanden und motivisch eng angelehnt an Rembrandts Gleichnis vom reichen Kornbauer ist das Kölner Gemälde Der Federschneider von Jan Lievens (1607–1674). Es zeigt einen älteren Mann, einen Kaufmann oder Bankier, der im Kontor hinter einem ungeordneten Haufen voluminöser Geschäftsbücher sitzt und in die Betrachtung seiner Schreibfeder in der linken Hand versunken ist, die er mit dem Messer in seiner Rechten zuspitzen will. Eine ausladende Geldbörse, bestehend aus mehreren an einem Stockgriff befestigten Schnürbeuteln, hält sein Barvermögen zusammen, darüber hängt an einer Schnur ein Stapel loser Papiere, Wechsel, Quittungen und andere Belege. Die geschärfte Feder als Instrument der Buchhaltung wird hier zum Sinnbild eines ungehemmten Gewinnstrebens, das den Mann in Bann hält. Die Sanduhr in der Dämmerung des Hintergrunds warnt davor: Sie erinnert an die verrinnende Zeit, die Endlichkeit des irdischen Lebens und stellt den Sinn der Raffgier des mürrisch-einsamen Kaufmanns in Frage.
Lievens und Rembrandt haben sich gut gekannt und in ihrer gemeinsamen Leidener Zeit wohl gegenseitig inspiriert, aber auch als Konkurrenten wahrgenommen. (Rembrandt siedelte 1631 nach Amsterdam über.) Ihre beiden Gemälde zeigen nicht nur thematisch eine große Nähe, sondern auch durch die Lichtgestaltung, die ähnlich gealterten  Bücher, die nahezu identischen Stapel zerknitterter Papiere und vor allem die übereinstimmende Geldbörse – offensichtlich ein gemeinsam benutztes Requisit. Andererseits wählte Lievens für seine Darstellung mit einer lebensgroßen Figur eine großzügig bemessene Leinwand von 127 x 107,5 cm; Rembrandt dagegen begnügte sich mit einer Malfläche, die nur ein Zahntel derjenigen von Lievens Gemälde beträgt.

Impasto ist eine Maltechnik, bei der die Farben sehr dick aufgetragen werden; man kann die Pinselstriche oder die Abdrücke des Malmessers deutlich erkennen.

Literaturhinweise
Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Rembrandt – Genie auf der Suche. DuMont Verlag, Köln 2006, S. 242;
Schnackenburg, Bernhard: Neu im Wallraf: Der Federschneider von Jan Lievens. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 74 (2013), S. 293-298;
Neumeister, Mirjam: Das Nachtstück mit Kunstlicht in der niederländischen Malerei und Graphik des 16. und 17. Jahrhunderts. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2003, S. 232-234; 
Tümpel, Christian: Rembrandt. Mythos und Methode. Karl Robert Langewiesche, Königstein i.Ts. 1986, S. 31;
van den Boogert, Bob: Rembrandt Harmensz. van Rijn – Ein alter Wucherer betrachtet eine Münze, 1627. In: Ernst van de Wetering/Bernhard Schnackenburg (Hrsg.), Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge. Edition Minerva, Wolfratshausen 2001, S. 210-213;
van Thiel, Pieter: Der Reiche aus dem Gleichnis vom reichen Toren. In: Christopher Brown u.a. (Hrsg.), Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 128;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 24. Juli 2023) 

Sonntag, 2. Dezember 2018

Ochs und Esel kennen ihren Herrn – Krippenbilder in der frühen christlichen Kunst


Ochs und Esel an der Krippe (um 1140); Bildfeld aus der Holzdecke in St. Martin, Zillis (Schweiz)
Wenn Künstler die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem dargestellt haben, waren sie fast immer dabei: Ochs und Esel. Bis heute sind die beiden Vierhufer für jeden, der sich eine Krippe mit Schnitzfiguren unter den Weihnachtsbaum stellt, fester Bestandteil der Szenerie. Doch wie sind sie eigentlich da hingekommen? Wo kommen Ochs und Esel her, von denen die Weihnachtsgeschichten der Evangelisten Matthäus und Lukas doch gar nichts berichten?
Die beiden Tiere werden in den Schriften des sogenannten „Pseudo-Matthäus“ erwähnt, die nicht zum festgeschriebenen Kanon der biblischen Bücher gehören. Dort wird berichtet, Christus sei in einer Höhle zur Welt gekommen und erst drei Tage später von Maria in einen Stall gebracht worden: „(...) und Ochs und Esel beteten ihn an. Da erfüllte sich, was durch den Propheten Jesaja verkündet ist, der sagte: ,Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn. So beteten sogar die Tiere, Ochs und Esel, ihn ständig an, während sie ihn zwischen sich hatten. Da erfüllte sich, was durch den Propheten Habakuk verkündet ist: ,Inmitten zweier Tiere wirst du ihn erkennen.“ (Hennecke/Schneemelcher 1959, S. 306). Obwohl die Kirchenväter die Texte des „Pseudo-Matthäus“ als ketzerisch gebrandmarkt und verboten hatten, übernahmen die Künstler diese Hinweise auf das Alte Testament und integrierten sie ungeniert in die neutestamentliche Geburtsszene.
Das wird verständlich, wenn man sich bewusst macht, dass frühe Darstellungen des Weihnachtsgeschehens anderes bieten wollen als eine „authentische Stallatmosphäre“: Sie enthalten nämlich zahlreiche versteckte Symbole und religiöse Anspielungen. Ochs und Esel werden im Buch des Propheten Jesaja (Kapitel 1, Vers 3) erwähnt, weil sie sich abheben vom unbelehrbaren und störrischen Volk Israel, das seinen Herrn verlassen hat. Während Ochs und Esel wissen, wohin sie gehören und wem sie ihr Leben verdanken, hat der Mensch seinen Ursprung verleugnet und sich von der Quelle des Lebens abgewendet. Darum nimmt auf manchen Weihnachtsbildern nur die stumme, aufmerksam schauende Kreatur den Platz an der Krippe ein. Und so mancher Kirchenvater wie Gregor von Nyssa, Ambrosius von Mailand oder Augustinus sieht überdies im Ochsen als „reinem“ Tier ein Sinnbild des Judentums, im „unreinen“ Esel ein Symbol für die Heiden – und zwischen ihnen Christus, der für beide stirbt und die Erlösung schafft und sie zu einem Volk Gottes vereint.
In der Frühzeit des Christentums entstanden in den Katakomben in und um Rom die ersten christlichen Fresken, und bald wurden immer mehr Sarkophage mit christlichen Symbolen und Szenen geschmückt. Jenes Motiv allerdings, das neben der Kreuzigung am häufigsten in der Kunstgeschichte dargestellt werden sollte, existierte damals noch nicht, weil es in der Verfolgungssituation der ersten beiden Jahrhunderte für die Christen keine Rolle spielte: Maria, Joseph und das Kind in der Krippe. Bis gegen Ende des 3. Jahrhunderts gibt es auch kein göttliches Geburtsfest im christlichen Kalender. Das ändert sich erst im 4. und 5. Jahrhundert, als aus dem verfolgten Glauben eine Staatsreligion wird. Es entstehen Darstellungen mit einem bis zum Hals fest gewickelten Kind, das auf einem gemauerten Untersatz liegt, im Hintergrund blicken Ochs und Esel aus einem Stall – es kann offenbar eher auf Joseph und Maria als auf die beiden Tiere verzichtet werden. Die gehören erst hundert Jahre später zum weihnachtlichen Personal.
Es kann eher auf Maria und Joseph verzichtet werden als auf Ochs und Esel ...
Marmorrelief, um 400 n.Chr.; Athen, Byzantinisches Museum
Auch die Krippe, von der beim Evangelisten Lukas die Rede ist, hat auf diesen frühen Sarkophagreliefs eine tiefere Bedeutung. Trog wäre eigentlich die genauere Bezeichnung, denn das Kind, das in ihm liegt, ist für die Kirchenväter das „Futter des Gottesvolkes“. Da Christi Leib und Blut im Abendmahl zur Speise der Gläubigen werden, ist es nur logisch, dass dieser „Futtertrog“ oft als gemauerter Altartisch dargestellt wird. Das Kind ist so fest umwickelt, wie es Brauch bei einem Toten war – als Erwachsener wird es durch seinen Tod allen Menschen, die sich ihm anvertrauen, neues Leben bringen.
Eine der bemalten Holztafeln aus der bekannten romanischen Bilderdecke in Zillis (um 1140) zeigt ebenfalls einen solchen ummauerten Trog und ein durch seine Leinenbandagen zur völligen Bewegungslosigkeit verurteiltes Kind. Wehrloser kann man nicht sein. So klein, ohnmächtig und preisgegeben tritt Gott in diese Welt! Ein Kreuznimbus umgibt das mit gelockten Haaren geschmückte Gesicht des Kindes – und lässt damit keinen Zweifel an dem Geschick, dem es einmal entgegengeht. Der Futtertrog erinnert in seiner Form auch an die rechteckige Öffnung eines Grabes – und spannt damit den Bogen hinüber zum Karfreitag und zur Grablegung Christi. Doch nicht nur das Leiden und Sterben Jesu ist damit angedeutet – die offenen Augen des Kindes sprechen auch von seiner Auferstehung, wie auch der rot umrandete Stern von Bethlehem über seinem Kopf auf die aufgehende Sonne am Ostermorgen verweist.
Als das zweite christliche Jahrtausend beginnt, entfalten Künstler, die doch nur Verkündiger sein wollten, die ganze Breite der Weihnachtsdarstellungen: Nun singen auch die Engel, flöten die Hirten, beten die drei Weisen das Kind an. Zwei Jahrhunderte später setzt die Tafelmalerei in der Toskana ein, und bald darauf gibt es keine Kirche, keinen Altar im katholischen Europa mehr, in der ein Bild, sei es auf Leinwand oder auf Holz, mit dem neugeborenen göttlichen Kind und seiner Familie im Stall fehlt. 

Literaturhinweis
Hennecke, Edgar/Schneemelcher, Wilhelm: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Band 1: Evangelien. Mohr Siebeck, Tübingen 1959 (3. Auflage).

(zuletzt bearbeitet am 16. April 2019)

Sonntag, 25. November 2018

Christus auf dem Thron der Weisheit – die Paderborner Imad-Madonna


Imad-Madonna (zwischen 1051 und 1058), Paderborn, Erzbischöfliches Dom- und Diözesanmuseum
Mittelalterliche Marienskulpturen gehören zu den frühesten nachweisbaren Bildwerken der mobilen Kirchenausstattung. Einen Sondertyp solcher plastischen Mariendarstellungen will ich hier vorstellen: die thronende Maria mit dem Jesuskind auf ihrem Schoß. Die Anerkennung der Mutter Jesu als „Gottesgebärerin“ war ein Akt der frühen Kirche – sie wurde mit den Beschlüssen des Konzils von Ephesus im Jahr 431 dogmatisch verankert. Die offizielle Verleihung des Titels „Theotókos“ begründete seit dem 5. Jahrhundert die besondere Verehrung Mariens in ihrer Eigenschaft als Gottesmutter, um ihre Teilhabe am göttlichen Heilswirken zu betonen. Die Darstellung als thronende Königin und damit als eindeutig Herrschende war aber auch bedeutsam vor dem Hintergrund immer wieder aufflammender häretischer Bewegungen, die die Gottesmutterschaft Mariens in Zweifel zogen.
Die thronende Gottesmutter wurde als Sitz der göttlichen Weisheit (Sedes Sapientiae) verstanden, auf dem das Christuskind als menschgewordener Logos (Johannes 1,14) Platz genommen hat. Die Bezeichnung Sedes Sapientiae geht auf den im Alten Testament beschriebenen kostbaren Thron König Salomos zurück (1. Könige 10, 18-23), der auf Maria bezogen wurde. Der christologische Aspekt dominiert in der Frühzeit – bis in das 12. Jahrhundert hinein – diesen Darstellungstypus. Zunächst ist er auf Elfenbeinreliefs, auf Buch- oder Wandmalereien anzutreffen (meist im szenischen Zusammenhang einer Magierhuldigung); spätestens ab der ottonischen Zeit erscheint die Sedes Sapientiae auch als autonomes, vollplastisches Marienbild, meist aus Holz gefertigt, mit Metallblech verkleidet oder farbig gefasst.
Als Beispiel sei hier etwas näher auf die 112 cm hohe, aus Lindenholz geschnitzte Paderborner Imad-Madonna eingegangen. Sie gilt als ein Hauptwerk ottonischer Kunst. Streng frontal auf den Betrachter ausgerichtet, sitzt die Gottesmutter aufrecht auf einem mit einem flachen Kissen bedeckten und mit niedriger Rückenlehne versehenen Thronsessel. Die Seiten des Throns sind nicht erhalten. Mit ihrer rechten Hand vollführt die Madonna eine segnende Geste, während sie mit ihrer Linken das seitlich auf ihrem linken Oberschenkel sitzende Jesuskind stützt. Der im Profil erscheinende Christus führt in aufrecht thronender Haltung ebendiesen Segnungsgestus mit seiner Rechten aus, während er mit der linken Hand ein Buch in seinem Schoß festhält. Der Knabe trägt eine knöchellange Tunika; sein in der Mitte gescheiteltes Haar fällt hinter den Ohren in sanftem Schwung bis auf den Rücken herab. 
Die Palla der Paderborner Madonna lässt ihre Ohren unverhüllt und geht direkt in ihren Mantel über – in der originalen Fassung dürften die beiden Textilien farblich unterschieden worden sein. Das Gewand der Gottesmutter legt sich in langen Falten über ihren Körper und fällt zu beiden Seiten der Füße auf den Boden. Die Unterschenkel werden dabei von den Stoffbahnen umspielt und bleiben als solche erkennbar. Wie der Körper ist auch der (im Verhältnis zum Körper zu kleine) Kopf der Imad-Madonna in einer reduzierten Formensprache gestaltet. Die Kontur ihres Vorder- und Hinterkopfes verlaufen in ihren Grundlinien parallel; das Gesicht der Marienfigur wird von einem Schleier eingerahmt, Nasenspitze, Füße und Finger fehlen. Der Kopf des Christuskindes gleicht dem von Maria; das Gesicht ist fast identisch, wenn auch weniger präzise ausgeführt. „Die Haare übernehmen die gleiche konturierende Funktion wie die über den Kopf gezogene Palla. (...) Die Ohren werden auf die gleiche Weise, die Konturierung akzentuierend, vor die Haare gesetzt wie die Ohren Mariae vor die Palla“ (Büchsel 1993, S. 39).
Stifter der thronenden Madonna dürfte der Paderborner Bischof Imad (1051-1076) gewesen sein, der sie nach seinem Amtsantritt 1051 in Auftrag gab. Der überlieferte Dombrand von 1058 gilt dabei als terminus ante quem, denn damals trug die Madonna offensichtlich einen so großen Schaden davon, dass Imad die ursprünglich farbig gefasste Figur renovieren ließ: Sie erhielt einen Überzug aus vergoldetem Kupferblech und wurde mit zahlreichen Gemmen verziert. „Reste von Nägeln, die durch die ältere Fassung eingeschlagen sind, sowie der erhaltene Rest des Metallüberzugs an dem ornamentierten Deckelbeschlag des Buches, das der Christusknabe hält, weisen auf die Zweitfassung kurz nach seiner Entstehung hin“ (Beer 2010, S. 116). Die Metallverkleidung wurde 1762 wieder abgenommen – sie diente zur Bezahlung einer Kriegskontribution am Ende des Siebenjährigen Krieges. Nach ihrer grundlegenden Restaurierung (1968 bis 1970) ist die Skulptur heute unbemalt und wird im Erzbischöflichen Dom- und Diözesanmuseum Paderborn ausgestellt.
Goldene Madonna (zwischen 973 und 1011); Essen, Münster
Goldene Madonna (um 1022); Hildesheim, Dommuseum
Sedes Sapientiae (um 1080); Frankfurt, Liebieghaus
Weitere wichtige ottonische Bespiele für die thronende Madonna sind die Skulpturen in Essen, Hildesheim und Frankfurt. Sie waren als mobile Kultbilder gedacht und kamen daher besonders in Prozessionen zum Einsatz.

Glossar
Mit Fassung ist die Bemalung einer Skulptur gemeint.
Die Ottonen waren eine deutsche Herrscherdynastie. Sie regierten im ostfränkisch-deutschen Reich von 919 bis 1024. Die Bezeichnung Ottonen geht auf die drei ihrer Kaiser zurück: Otto I. Otto II. und Otto III. 
Eine Palla (lat. palla) ist ein langes, bis über die Füße herabgehendes, viereckig zugeschnittenes Gewand, das in der Antike von römischen Frauen beim Ausgehen über den anderen Kleidern getragen wurde.
Der terminus ante quem benennt den Zeitpunkt, vor dem das gesuchte Ereignis passiert sein muss.

Literaturhinweise
Beer, Manuela: Orte und Wege. Überlegungen zur Aufstellung und Verwendung frühmittelalterlicher Marienfiguren. In: Andrea Hülsen-Esch/Dagmar Taube (Hrsg.): „Luft unter den Flügeln …“. Beiträge zu mittelalterlichen Kunst. Festschrift für Hiltrud Westermann-Angerhausen. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2010, S. 99-121;
Beer, Manuela: Ottonische und frühsalische Monumentalskulptur. Entwickung, Gestalt und Funktion von Holzbildwerken des 10. und frühen 11. Jahrhunderts. In: Klaus Gereon Beucker u.a. (Hrsg.), Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte. Michael Imhof Verlag, Petersburg 2006, S. 129-152;
Büchsel, Martin: Ottonische Madonnen. Liebieghaus, Frankfurt am Main 1993;
Pawlik, Anna: Das Bildwerk als Reliquiar? Funktionen früher Großplastik im 9. bis 11. Jahrhundert. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2013. S. 290-296;
Stiegemann, Christoph (Hrsg.): Diözesanmuseum Paderborn. Werke in Auswahl. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014, S. 28-36.

(zuletzt bearbeitet am 23. Dezember 2022)

Mittwoch, 7. November 2018

Gerettet, nicht geopfert – Der Gute Hirte in der frühchristlichen Kunst


Der Gute Hirte (4. Jh.), Rom, Vatikanische Museen
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Zu den zentralen Themen altchristlicher Kunst gehört das Motiv des Guten Hirten, das auf ein Gleichnis im Johannes-Evangelium zurückgeht: Christus wird hier als der Retter gesehen, der sich um das Heil seiner Schafe, d. h. der Gläubigen, sorgt – anders als der „Mietling“, der auf die ihm anvertrauten Schafe nicht achtet und sie der Gefahr aussetzt, von den Wölfen angefallen zu werden (Johannes 10,1-16). Der ein Schaf tragende oder von Schafen flankierte Gute Hirte wird vor allem in der frühchristlichen römischen Katakombenmalerei immer wieder dargestellt; er findet sich aber auch an spätantiken Sarkophagen und in Form von Statuen. Es handelt sich um eines der wichtigsten figürlichen Sinnbilder, die auf Christus hinweisen und als Bekenntnis zu ihm zu verstehen sind (Hebräer 13,20).
In Verbindung mit weidenden Schafen ist die Darstellung des Guten Hirten eine eindeutige Paradiesverheißung. In Begräbnisstätten und auf Grabdenkmälern soll dieses Motiv den Betrachter daran erinnern, dass Christus als der Gute Hirte die Verstorbenen, die an ihn glauben, sicher in sein Reich geleitet. Sie gehören zu den „geretteten Schafen“ (Lukas 15,3-7), für die er sein Leben gegeben hat (Johannes 10,11) und denen er Erlösung und ewiges Leben bringt. Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür ist ein Mosaik im Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna (5. Jh.). Auch in frühchristlichen Taufräumen sind Bilder des Guten Hirten anzutreffen: Er soll die Neugetauften mit seiner Herde vereinen, sie vor Wölfen bewahren und an seiner Quelle tränken.
Moshe Barasch verweist auf die Verfolgungssituation, in der sich die Christen in vorkonstantinischer Zeit befunden haben: Viele von ihnen konnten sich sicherlich mit dem schwachen, bedrohten Lamm identifizieren: Der Gute Hirte als Sinnbild Christi meint dann vor allem den in Angst und Gefahr schützenden, bergenden Gott. Entsprechend trat das Motiv des Guten Hirten im 4. Jahrhundert mehr und mehr in den Hintergrund, als die christliche Kirche nach der Mailander Vereinbarung von 313 im Römischen Reich zunehmend an Einfluss gewann und schließlich 380 zur Staatsreligion erhoben wurde.
Der Gute Hirte (5. Jh.); Ravenna, Mausoleum der Galla Placidia (für die Großansicht einfach anklicken)
In den frühen Darstellungen des Guten Hirten werden bereits vorhandene antik-pagane Bildformen mit biblisch-christlichen Inhalten besetzt. So sind Hirtenszenen aus der römischen Malerei als künstlerische Inspirationsquellen anzusehen, insbesondere das Motiv des Gottes Hermes als Hirte, der einen Widder auf den Schultern trägt. Ganz ähnlich und im gleichen Begräbniskontext symbolisiert dieser „Hermes Kriophoros“ auf heidnischen Sarkophagen mit mythologischen Szenen das selige Leben im Jenseits (2. und 3. Jh.). Solche Anleihen aus der damaligen griechisch-römischen Bildwelt sollten die Akzeptanz des neuen Glaubens erleichtern. Wenn das Christentum altvertraute Bilder und Symbole aufgriff, wurden auf diese Weise traditionelle, ihres Gehaltes oft entleerte Formen mit neuem Glaubensinhalt gefüllt.
Als Beispiel für solche Übernahmen soll hier nochmals etwas eingehender die Statuette des Guten Hirten aus den Vatikanischen Museen in Rom besprochen werden. In dem weichen Antlitz, der üppigen Lockenpracht und dem lässigen Kontrapost kann man Nachklänge an die Porträtstatuen des schönen Jünglings Antinoos erkennen, dem der römische Kaiser Hadrian als seinem Liebling und Begleiter nach dessen Tod mehrere Tempel und Altäre errichten ließ. Dieses antike Schönheitsideal findet sich auch deshalb beim Guten Hirten, weil das Attribut bonus (= gut) in der griechischen Septuaginta mit kalós (= schön) wiedergegeben wird.
Antinoos-Relief (um 130-138 n.Chr.);
Rom, Palazzo Massimo alle Terme
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Andrea del Verrocchio: David (um 1475); Florenz, Museo Nazionale del Bargello
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Der Gute Hirte aus den Vatikanischen Museen wendet den Kopf nach links und blickt sehnsuchtsvoll in die Ferne. Er hat das Lamm geschultert und hält es schützend an seinen Füßen fest. Von diesem Typus des Guten Hirten – kurze gegürtete Tunika, Sandalen mit bis unter die Knie geschnürten Fußlappen sowie über der Hüfte hängende Tasche – haben sich aus dieser Zeit zahlreiche Varianten erhalten. Abgewandelt wird er später im Quattrocento in der Figur des jungen David, der den Riesen Goliath besiegt, wieder aufgegriffen, etwa bei Andrea del Verrocchio (1435–1488; siehe meinen Post „Stolz und spöttisch). Das Motiv des geschulterten Jungtieres knüpft ebenfalls an einen antiken Statuentyp an, der bereits in der archaischen Epoche ausgebildet war, und zwar in der Gestalt des Kalbträgers (um 570 v.Chr., Athen, Akropolis-Museum). Diese Figur meint allerdings nicht einen Hirten, vielmehr verkörpert sie den Stifter, der das Kalb als Opfertier der Athena darbringt. Die Botschaft des christlichen Guten Hirten ist dem aber diametral entgegengesetzt: nicht um Opferung geht es, sondern um Errettung und Erlösung.
Kalbträger (um 570 v.Chr.); Athen, Akropolis-Museum
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Der sanfte Charakter des Guten Hirten verdankt sich nicht zuletzt auch der Verquickung dieses Sujets mit der antiken Hirtendichtung, wie sie von Theokrit (gest. 260 v.Chr.) und Vergil (70–19 v.Chr.) geschaffen worden war. In der frühchristlichen Literatur wurde diese pagane Bukolik adaptiert (so etwa um 400 von Servus Sanctus Endelechius) und mit christlichen Bezügen ausgestattet.
Josef August Untersberger: Der Gute Hirte (um 1920); Chromolithografie
In der Kunst des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit appelliert die Symbolgestalt des Guten Hirten an die Bußfertigkeit des „verlorenen Schafes“. Im Barock zieren Darstellungen des „Pastor bonus“ zahllose Kanzeln, weil die Verkündigung als zentrale Aufgabe des Hirtenamtes verstanden wird. Im 19. Jahrhundert, als sich der sanftmütig-weltentrückte Christustypus der Nazarener ausbreitet, findet das Motiv nochmals großen Anklang: Immer wieder wird ein sensibler, duldsamer Jesus als gütiger Hirte inmitten seiner Schafe variiert. Es handelt sich um einen kitschig-süßlichen Christus, der schließlich als dekorative Chromolithografie die Wohn- und Schlafzimmer der Bürger erobert. Die Kunstindustrie mit ihrer Massenproduktion begünstigte eine Trivialisierung überkommener christlicher Ikonografie.

Literaturhinweise
Barasch, Moshe: Das Bild des Unsichtbaren. Zu den frühen Christusbildern. In: Moshe Barasch, Das Gottesbild. Studien zur Darstellung des Unsichtbaren. Wilhelm Fink Verlag, München 1998, S. 38-52;
Braunfels, Wolfgang u.a. (Hrsg.): Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 2. Rom u.a. 1970, Sp. 289-299;
Hinz, Paulus: Deus Homo. Das Christusbild von seinen Ursprüngen bis zur Gegenwart. Bd. 1.: Das erste Jahrtausend. Berlin 1973, S. 55-67;
Sachs, Hannelore u.a.: Wörterbuch der christlichen Ikonographie. Schnell & Steiner, Regensburg 92005, S. 163-164;
Schneider, Norbert: Geschichte der mittelalterlichen Plastik. Von der frühchristlichen Antike bis zur Spätgotik. Deubner Verlag, Köln 2004, S. 84/85.

(zuletzt bearbeitet am 29. April 2024) 

Samstag, 20. Oktober 2018

Wie auf einen Bogen gespannt – der romanische Kruzifix-Torso aus der Kölner Kirche St. Georg

Kruzifix aus St. Georg, Köln (um 1070); Köln, Museum Schnütgen
Zu den schönsten Ausstellungsstücken des an mittelalterlichen Kunstschätzen wahrlich nicht armen Kölner Schnütgen-Museums gehört der um 1070 entstandene Kruzifix aus der Kölner Kirche St. Georg. Der monumentale Torso aus Weidenholz ist 190 cm groß; er wurde 1921 in der Krypta von St. Georg aufgefunden und seit 1929 im Museum Schnütgen aufbewahrt. Für seine Entstehung gilt die Weihe der Stiftskirche St. Georg durch Erzbischof Anno II. (1056–1075) im Jahr 1067 als Anhalt. Außer dem Kreuz fehlen der Figur die Arme bis auf den Rest des linken Oberarms, die Füße und die Verschlussbretter der rückseitigen Höhlungen. Eine ehemals verschließbare Öffnung am Hinterkopf diente vermutlich zur Aufbewahrung von Reliquien. Der Korpus ist vollrund ausgearbeitet, hinten jedoch schnitzerisch nicht gestaltet.
Der Körper des nach links ausschwingende Gekreuzigten wirkt wie auf einen großen Bogen gespannt. „Kopf und Knöchel bilden die äußersten Punkte einer Rechtsneigung, die von der linken Hüfte ihren Ausgang nimmt“ (Bergmann 1989, S. 128). Der Rücken Christi ist durchgedrückt, sodass sich der Leib vorwölbt. Beeindruckend ist vor allem das weit nach vorn und unten gesunkene Haupt mit seinem strengen, kantig geschnitzten Gesicht, das vom gescheitelten und in seitlichen Strähnen herabfallenden Haar umrahmt wird. Die Augen sind gebrochen, aber nicht geschlossen; die kräftig gebogene, nach unten trichterförmig sich verbreiternde Nase ist von scharfen Linien begleitet: Sie ziehen sich von den Nasenflügeln und den inneren Augenwinkeln zu den Mundwinkeln herab und betonen „die Längung des schmalen Antlitzes und seinen Ausdruck verhaltenen Grames“ (Bergmann 1989, S. 128). Auf den Wangen sind zudem je zwei tränensackartige Falten herausgearbeitet.
Die verlorenen Arme muss man sich, wie der Stumpf des linken und die Ansatzstelle des rechten zeigen, nach schräg oben gerichtet vorstellen, wie etwa am 100 Jahre älteren Gerokruzifix (siehe meinen Post „Vom Christus victor zum Christus patiens“). Die weiche Form des Oberkörpers bildet einen auffälligen Kontrast zu dem von der Hüfte bis oberhalb der Knie reichenden Schurz. Gehalten durch ein reifförmiges Zingulum mit ursprünglich zwei hochstehenden Knotenschlaufen, bildet sein Stoff „hölzern“ wirkende Parallelfalten. „Die hohen Stege und tiefen Ausbuchtungen der Faltenstränge verleihen dem Lendentuch den Charakter eines Baumstammes mit Borke“ (Wesenberg 1972, S. 67). Der Gegensatz von weich modelliertem Oberkörper und starrer Tektonik des Lendentuchs „kennzeichnet viele salische Kruzifixe und offenbart sich vor allem in der Seitenansicht in einem starken Anschwellen des Leibes“ (Wittekind 2009, S. 348) – so z. B. auch bei dem um 1000 entstandenen Udenheimer Kruzifix in der Gotthardkapelle des Mainzer Doms (siehe meinen Post Mit offenen Augen am Kreuz“). 
Die Körperproportionen und das weit vorgeneigte Haupt weisen darauf hin, dass der Georgskruzifixus auf Untersicht angelegt ist. Seine Dimensionen machen es sehr wahrscheinlich, dass er ursprünglich als Triumphkreuz verwendet wurde und daher in erhöhter Position aufgestellt war.
Dass die Gestalt des Gekreuzigten heute sehr expressiv auf den Betrachter wirkt, beruht vor allem auf seinem Zustand als Torso und der eher grob geschnitzten Oberfläche. Mit der Farbfassung, von der sich Reste an Kopf und Brust finden, war der ursprüngliche Ausdruck des Kruzifix sicherlich ein anderer. Heute bestimmt ein gleichmäßig grau-brauner Farbüberzug das Aussehen der Figur.
Der Evangelist Johannes aus dem Evangeliar von St. Gereon (um 1050-1967);
Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek
Werdener Bronzekruzifix (um 1060); Essen-Werden, Schatzkammer St. Ludgerus
Kunstwissenschaftler haben bei der Figurenauffassung des Schnütgen-Torso immer wieder auf die Nähe zur Buchmalerei der Annozeit hingewiesen, so z. B. auf den Kopf des Evangelisten Johannes aus dem Kölner Evangeliar von St. Gereon. Einen ähnlichen Kopftypus weist auch das etwas frühere Werdener Bronzekruzifix auf, das um 1060 entstanden sein dürfte.

Literaturhinweise
Beer, Manuela/Woelk, Moritz (Hrsg.): Museum Schnütgen. Handbuch zur Sammlung. Hirmer Verlag, München 2019, S. 54-56;
Bergmann, Ulrike: Schnütgen-Museum. Die Holzskulpturen des Mittelalters (1000-1400). Köln 1989, S. 126-132;
Bering, Kunibert: Kunst-Epochen. Band 3: Romanik. Philipp Reclam jun. Srtuttgart 2004, S. 214-217;
Geese, Uwe: Mittelalterliche Skulptur in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2007, S. 40-41;
Legner, Anton (Hrsg.): Monumenta Annonis. Köln und Siegburg. Weltbild und Kunst im hohen Mittelalter. Schnütgen-Museum Köln, Köln 1975, S. 133-146;

Wesenberg, Rudolf: Frühe mittelalterliche Bildwerke. Die Schulen rheinischer Skulptur und ihre Ausstrahlung. Verlag L. Schwann, Düsseldorf 1972;

Wittekind, Susanne (Hrsg.): Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Band 2: Romanik. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009, S. 348.

(zuletzt bearbeitet am 20. Oktober 2022)