Samstag, 17. Februar 2018

Aufbäumen im Todeskampf – Veit Stoß und sein Kruzifix aus St. Sebald (Nürnberg)

Veit Stoß: Kruzifix (1520); Nürnberg, St. Sebald (für die Großansicht einfach anklicken)
Der polnische Bildhauer Veit Stoß (um 1447–1533) war über Jahrhunderte wegen seiner Kruzifixe berühmt. Zu nennen ist hier zunächst das monumentale steinerne Kruzifix in der Krakauer Marienkirche, ein Auftrag des königlichen polnischen Münzmeisters Heinrich Slacker (um 1491 entstanden). Die Gestalt Christi ist 2,53 m groß, das Kreuz selbst fast 4 m hoch. Alle übrigen Kruzifixe von Veit Stoß bestehen aus Holz und sind knapp überlebensgroß (durchweg 2 m). Außer dem Slackerschen Kruzifix aus Stein finden sich in Nürnberg, wo der Künstler ab 1496 bis zu seinem Tod lebte und arbeitete, drei sehr gut erhaltene Holzbildwerke von ihm:
1. das Kruzifix im Germanischen Nationalmuseum aus dem Heiliggeist-Spital; 2. das Kruzifix auf dem Hochaltar der gotischen Kirche St. Lorenz; 3. das sogennante Wickelsche Kruzifix in der mittelalterlichen Kirche St. Sebald. Außerdem gibt es von Veit Stoß noch ein ähnlich großes Kruzifix in der Florentiner Kirche Ognissanti. Nachdem in diesem Blog bereits das Kruzifix aus St. Lorenz vorgestellt wurde (siehe meinen Post „Auf die Trommel gespannt“), wende ich mich noch dem Wickelschen Kruzifix zu, dem wohl berühmtesten Werk des Nürnberger Meisters. Ein im Inneren erhaltener Zettel datiert die Arbeit auf 1520, nennt „Nicklos Wickel“ als Auftraggeber und sichert Veit Stoß als ausführenden Künstler.
Die Figur ist aus Lindenholz gearbeitet, Rumpf und Beine sind aus einem Stamm geschnitzt; angesetzt wurden die Arme und der Kopf. Der große vorspringende Reifen des Lendentuches ist aus vier Stücken zusammengesetzt und angedübelt. Teile der Dornenkrone und die große Haarlocke auf der linken Seite sind Ergänzungen der Barockzeit; kleinere Lockenteile, die sich in der Schnitztechnik deutlich absetzen, gehören dem 19. Jahrhundert an.
Mit drei Nägeln ist der dornengekrönte Christus an das Kreuz geschlagen; der nackte Körper, in dessen rechter Brust die Lanzenwunde klafft, wird nur von einem Lendentuch bedeckt. Das Haupt neigt sich nach links vorne, aber keineswegs kraftlos – Veit Stoß zeigt Christus im Todeskampf, aber noch lebend, das Antlitz von Schmerz gezeichnet. Gesicht und Bart sind aufwendig durchgearbeitet: Fast ornamental ist der Bart mit massigen Wirbeln an Kinn und Wangen gestaltet und an der Oberlippe gewellt. Die Brauen sind zusammengezogen, die Augen liegen tief in den Höhlen, der Mund ist klagend geöffnet. „Eindringlich werden die Falten auf der Stirn, in den Augenwinkeln und am Hals wiedergegeben, die Oberfläche des Gesichts scheint von Höhen und Tiefen durchfurcht“ (Schneider 1983, S. 277).
Kein Jüngling mehr, sondern ein Mann von 33 Jahren
Gegenüber der Skulptur in St. Lorenz wirkt das Kruzifix in St. Sebald vergleichsweise mächtig und schwer; der Heiland ist älter an Jahren, nicht mehr von knabenhaft schlanker Zartheit mit eingeschnürter Taille, sondern ein kräftiger Mann. Auch sein Antlitz ist das eines gereiften Mannes: mit fleischigen Brauen, mit Stirnfalten, mit weich und welk gewordenen Wangen und Augenlidern. Die geschwellte Brust geht in den sich deutlich vorwölbenden Bauch über. Einzelne Muskelstränge, Rippen, das Becken und die Kniescheiben erscheinen wie unter einer realen Hautschicht. Feines, plastisch geschnitztes Aderwerk überzieht den Körper, besonders deutlich an den Beinen. Der Detailreichtum der Skulptur zeigt sich bis in die Handballen und -linien, ja selbst die Fingernägel, die genau ausgebildet sind. Auch die Rückseite der Figur ist plastisch durchgearbeitet.
Das dynamisch bewegte Lendentuch ist ein Markenzeichen von Veit Stoß
Vor dem Unterleib entfaltet sich das wie ein Reifen frei in den Raum schwingende, zusammengedrehte Ende des Lendentuchs, das straff und knapp über den flachen Hüften und dem stark ausgebildeten Gesäß spannt. „Fällt das eine kurze Ende des Stoffes relativ vor den rechten Oberschenkel der Christusfigur, so gerät das andere, längere Tuchteil in dynamische Bewegung. Erst straff eingedreht, lockert es sich zu einer großzügigen Spirale und fällt, sich noch einmal bauschend, neben der linken Hüfte bis zur Oberschenkelmitte“ (Schneider 1983, S. 277).
Veit Stoß: Kruzifix (um 1516/20, Nürnberg, St. Lorenz (für die Großansicht einfach anklicken)
Der Leib ist wie in St. Lorenz gestreckt, doch die Füße sind gerade nach unten ausgespannt, nicht zum Kreuz zurückgebogen. Der rechte Fuß liegt über dem linken, das rechte Bein wird dadurch hochgedrückt, was auch an der unterschiedlichen Höhe der Kniescheiben erkennbar ist. Die rechte Hüfte schiebt sich entsprechend nach oben, auch zur Seite, das Gesäß wird auf dieser Seite deutlich nach hinten gedrückt. Der schwere Körper sackt vom Kreuz nach vorne. Die sehr schlanken Arme sind viel stärker erhoben als bei allen anderen Kruzifixen von Veit Stoß. In der Seitenansicht erkennt man, wie weit sich der Corpus vom Kreuz löst: Nur die angenagelten Hände und Füße berühren das Holz; weder die Schulterblätter noch das Gesäß liegen dem Kreuzbalken auf. Zu diesem Durchhängen des Leibes kommt, dass die Brust sich auf seiner linken Seite noch einmal vorwölbt. Der Thorax ist nicht völlig symmetrisch, links ist die Schulter abgesenkt, der rechte Arm ist steiler erhoben als der linke. In der unterschiedlichen Stellung der Schulterblätter wird die Drehung des Brustkastens nach rechts am deutlichsten ablesbar. Dem Gekreuzigten ist Bewegung kaum möglich – dennoch bäumt er sich auf.
Albrecht Dürer: Christus am Kreuz (1505; Studie, Feder und Pinsel auf Papier);
Wien, Albertina (für die Großansicht einfach anklicken)
Es liegt nahe, das Wickelsche Kruzifix mit Albrecht Dürer (1471–1528) in Verbindung zu bringen, denn das Nürnberger Schaffen von Veit Stoß fällt ganz in die Lebensarbeitszeit des berühmten Kollegen. Von Dürer sind rund 20 Darstellungen des gekreuzigten Christus bekannt – Gemälde, Zeichnungen, Holzschnitte und Kupferstiche. Immer stellt Dürer Christus als gereiften, erwachsenen Mann von betont schweren, athletischen Körperformen dar. Ein mächtiges Haupt mit dicker, aus Ästen waagrecht geflochtener Dornenkrone und flatternden oder meist auf beiden Seiten herabfallenden Haaren bestimmt die Gesamterscheinung. Christus hängt bei Dürer fast immer gerade vor dem Kreuzholz; immer sind die Arme stärker erhoben, das Hängen in der Regel deutlich wiedergegeben. Die bei Veit Stoß zu beobachtende innerkörperliche Ponderation fehlt allerdings. Sicherlich musste der Bildhauer keine anatomischen Kenntnisse von Dürer übenehmen. Allerdings orientiert er sich an dessen Männertypus mit seinen schweren Körperformen. Vielleicht kann man auch von einer gegenseitigen Beeinflussung der beiden Künstler sprechen. Gegenüber Dürers Kruzifixdarstellungen steigert Veit Stoß die leibliche Präsenz der Figur aber nochmals, und zwar durch den Gegensatz zwischen dem lastenden Hängen des angenagelten Körpers und der sich aufbäumenden Brust. Veit Stoß ist dabei aber noch weit entfernt von dem Pathos, das dann später im Barock die Figur des Gekreuzigten prägen wird.

Literaturhinweise
Eser, Thomas: Veit Stoß. Ein polnischer Schwabe wird Nürnberger. In: Brigitte Korn u.a. (Hrsg.), Von Nah und Fern. Zuwanderer in die Reichsstadt Nürnberg. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014, S. 85-90;
Kahsnitz, Rainer: Veit Stoß, der Meister der Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/1996), S. 123-179;
Schneider, Ulrich: Wickelscher Kruzifix, 1520. In: Rainer Kahsnitz (Hrsg.), Veit Stoß in Nürnberg. Werke des Meisters und seiner Schule in Nürnberg und Umgebung. Deutscher Kunstverlag, München 1983, S. 277-283.

(zuletzt bearbeitet am 18. März 2024) 

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