Montag, 30. Mai 2022

Der korrodierte Christus – das Werdener Kruzifix (um 1060)

Werdener Kruzifix (um 1060); Essen-Werden, Schatzkammer von St. Ludgerus
(für die Großansicht einfach anklicken)
Man muss keineswegs immer nach München, Berlin oder Dresden reisen, um bedeutende Kunstwerke zu sehen – manches befindet sich direkt vor der Haustür, wie etwa das Werdener Kruzifix, das heute in der Schatzkammer von St. Ludgerus in Essen-Werden zu bewundern ist. Die gegossene Skulptur mit einer Höhe von 107,5 cm und einer Spannweite von 96 cm zählt zu den markantesten noch erhaltenen Bildwerken des 11. Jahrhunderts. Bei keinem anderen plastischen Großbildwerk dieser Epoche herrscht so viel Einhelligkeit bezüglich der Datierungsfrage: Das Werdener Kruzifix ist um 1060 in einer Werdener Werkstatt angefertigt worden und gehört somit der spätottonischen bzw. frühsalischen Zeit an.

Schmale Proportionen in strenger Symmetrie
Das Werdener Kruzifix zeigt einen weit eher aufrecht stehenden als vom Kreuz herabhängenden Christus. Die schlanken, überlängten Arme sind schwingengleich (Grimme 1985, S. 71) ausgespannt, richten sich aber nur wenig nach oben; das Haupt ist nach vorne auf die Brust gesunken, die plastisch vorgewölbten Augen sind geschlossen. Die Haare des Gekreuzigten liegen in feinen, leicht gewellten Strähnen auf dem Schädel und verlaufen gleichmäßig gescheitelt über die Schultern. Auf beiden Seiten fällt, die Ohren freilassend, jeweils eine gedrehte Haarsträhne herab. Die scharf gezogene Scheitellinie des Haupthaars leitet über die prägnante Vertikalfalte in der Mitte der Stirn unmittelbar hin zu dem schmalen, langgezogenen Nasenbein und von hier zum Brustbein. Die Gestaltung der in feinen Riefen gravierten Haare wiederholt sich am Oberlippen- wie auch am Kinnbart, der mit zungenförmigen Locken versehen ist. Zusammen rahmen sie die zu einem engen Schlitz reduzierten Lippen. Der flache Oberkörper ist durch eine streng symmetrische, grafische Linienführung der Rippenbögen gekennzeichnet. Der Bauch wölbt sich nur leicht vor. Eine Seitenwunde ist nicht vorhanden.

Nur die leichte Neigung des Kopfes durchbricht die strenge Vertikale des Körpers

Cingulum und Lendentuch sind ineinander verschlungen und bilden an der rechten Seite einen filigran gestalteten Knoten aus. Das Lendentuch fällt vorne in langen, nur flach ausgebildeten Schichtfalten bis knapp über die Knie des Gekreuzigten. Gesäumt ist es von einer zweigeteilten Borte, die durch diagonal gekreuzte Schraffierungen eine Stickborte andeutet. Sie findet sich in einfacher Form am oberen Abschluss wieder.

An die Stelle der sich durch den Stoff abzeichnenden Oberschenkel treten lange Faltenbahnen mit Omega-Abschluss. Überlängt wie die übrigen Proportionen sind auch die Unterschenkel. Die Schienbeine Christi sind gratartig gestaltet, die Knie werden durch eingetiefte Bögen markiert. Die symmetrisch geformten Füße fallen unten leicht auseinander. Bestimmend für die Figur ist die langgestreckte Vertikale des streng frontal präsentierten Körpers, durch die ausgestreckten Arme zum Kreuz ergänzt und lediglich durch den leicht geneigten Kopf gemildert. „Die Dominanz der Senkrechten ist im Gesamten  wie in den Einzelheiten nachdrücklich unterstützt: Die Geschlossenheit der Umrisse steigert das Aufwachsen des ohnehin schmal proportionierten Körpers“ (Wundram 2003, S. 11). Insgesamt entsteht der Eindruck von Schwerelosigkeit, in der Christus vor dem Kreuz zu schweben scheint (Grimme 1985, S. 71). Wie das ursprüngliche Kreuz aussah, an dem der Corpus hing, ist nicht bekannt.

Gefertigt wurde das Kruzifix im Wachsausschmelzverfahren; dabei sind Arme, Beine und Rumpf separat gegossen worden. Die Arme wurden durch Zapfen mit den Schultern verbunden; die Beine sind heute mit modernen Schrauben am Lendentuch befestigt. Alle auf der Vorderseite sichtbaren Gravuren waren bereits im Wachsmodell angelegt.

Die heutige Farbe der Oberfläche ließ den Betrachter bislang annehmen, das Werdener Kruzifix sei ein Bronzeobjekt. Die jüngste Untersuchung des Materials in 2016 ergab allerdings, dass es sich keineswegs um Bronze, sondern um eine hoch kupferhaltige Legierung handelt. Zudem wurde das rötliche Metall nach dem Guss vollständig vergoldet; die originale Vergoldung ist unter der dunklen Schicht aus Kupferkorrossionsprodukten und Verschmutzung noch erhalten. Die dunkle Auflage besteht erst seit etwa 200 Jahren. Ursache für die Korrosion kann, neben Ruß, die Luftverschmutzung seit Beginn des Industriezeitalters sein.

Die metallurgische Untersuchung erfolgte im Rahmen einer Restaurierung des Werdener Kruzifix: 2008 war das Kunstwerk aufgrund eines Brandes im Ostflügel des Werdener Abteigebäudes, in dem die Schatzkammer untergebracht ist, evakuiert. Bei einem Sturz während der Abnahme brach der Mittelfinger der rechten Hand ab, und die rechte Schulter wurde eingedrückt. Weil die Zeichnung der Muskulatur, die an der Brust des Korpus deutlich ausgebildet ist, an den Armen nicht aufgenommen wird, wurde unter Kunsthistorikern immer wieder diskutiert, ob die Arme vielleicht nicht original sind. Die Untersuchung von 2016 konnte hier Klarheit schaffen: Körper, Arme und Beine wurden aus identischem Material gegossen, so dass die Arme als ursprünglich sind.

Eines der insgesamt vier erhaltenen Werdener Steinreliefs (um 1060)
Buchdeckel des Essener Theophanu-Evangeliars (1. Hälfte des 11. Jhs.);
Essen, Domschatzkammer
Kruzifix als Initiale T aus einem Kölner Evangeliar (Anfang des 11. Jhs.);
Freiburg, Universitätsbibliothek
Stilistisch ist das Werdener Kruzifix eng verwandt mit den sogenannten Werdener Steinreliefs, die ebenfalls in der Schatzkammer von St. Ludgerus ausgestellt sind. An den Gewändern der Steinreliefs finden sich die gleichen Schichtfalten wie am Lendentuch und auch die gleichen bortenartigen Verzierungen. Auch die Buchdeckel-Reliefs des Essener Theophanu-Evangeliars sind als Vergleichsobjekte zu nennen. Besonders eng sind die Parallelen zum Kruzifixus aus der Kölner Handschrift Cod. 360a der Universitätsbibliothek Freiburg. Diese Darstellung zeigt die gleichen besonders schlanken Proportionen der Gliedmaßen. Identisch ist auch die unbewegte gerade Haltung des Körpers. Auch in den Einzelformen bestehen Ähnlichkeiten. Anna Pawlik verweist darüber hinaus auf stilistische Ähnlichkeiten zum Benninghauser wie auch zum Dietkircher Kruzifix (Rheinisches Landesmuseum, Bonn). Weil sich beim Werdener Kruzifix nur der Kopf aus der schmalen Reliefschicht des Körpers nach vorne neigt, sieht sich Ernst Günther Grimme wiederum an den Gekreuzigten der Hildesheimer Bronzetür erinnert.

Kruzifix (11. Jh.); Benninghausen bei Lippstadt, St. Martin
Dietkircher Kruzifix (11. Jh.), Bonn, Rheinisches Landesmuseum
Gerokreuz (Ende des 10. Jhs.); Köln, Dom

Bernwardtür: Kreuzigung (um 1015); Hildesheim, Dom (für die Großansicht einfach anklicken)

Umstritten ist, ob das Werdener Kruzifix noch einen Reflex auf das ältere Kölner Gerokreuz zeigt (siehe meinen Post „Vom Christus victor zum Christus patiens“), etwa mit dem auf die Brust gesunkenen Haupt, dem leicht vorgewölbten Bauch sowie dem Lendentuch. Allerdings zeigt es – anders als das sehr plastisch ausgearbeitete Kölner Werk – in der Seitenansicht eine sehr flache und bretthafte Modellierung.

 

Glossar

Cingulum: Gürtel

Omega-Falte: eine Drapierungsform in der bildenden Kunst, deren Auslauf in Form eines Omegas (Ω) gestaltet ist.

Wachsausschmelzverfahren: ein Formverfahren für den Metallguss, bei dem das Modell aus Wachs hergestellt wird; im Produktionsverlauf werden sowohl das Modell als auch die Form zerstört.

 

Literaturhinweise

Beer, Manuela: Ottonische und frühsalische Monumentalskulptur. Entwicklung, Gestalt und Funktion von Holzbildwerken des 10. und frühen 11. Jahrhunderts. In: Klaus Gereon Beuckers u.a. (Hrsg.), Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2006, S. 129-152;

Grimme, Ernst Günther: Bronzebildwerke des Mittelalters. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, S. 71-72;

Kahsnitz, Rainer: Das Bild des toten Heilands am Kreuz in ottonischer Zeit. Künstlerische und theologische Probleme plastischer Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 66 (2012), S. 50-101;

Pawlik, Anna: Das Bildwerk als Reliquiar? Funktionen früher Großplastik im 9. bis 11. Jahrhundert. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2013. S. 212-218;

Wesenberg, Rudolf: Frühe mittelalterliche Bildwerke. Die Schulen rheinischer Skulptur und ihre Ausstrahlung. Verlag L. Schwann, Düsseldorf 1972, S. 59;

Wundram, Manfred: Der Bronzekruzifixus der Werdener Abteikirche. Klartext Verlag, Essen 2003. 

 

(zuletzt bearbeitet am 26. Juni 2023)

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