Mittwoch, 29. Juni 2022

Ein Turm von Trauernden – Albrecht Dürers „Glimsche Beweinung Christi“ (1500)

Albrecht Dürer: Glimsche Beweinung Christi (um 1500); München, Alte Pinakothek
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Im Juni diesen Jahres bin ich wieder einmal nach München aufgebrochen – diesmal zur Hochzeit meiner ältesten Tochter. Mit keiner anderen Aufgabe betraut, als bester Stimmung zu sein und am Abend eine kleine Brautvater-Rede zu halten, konnte ich den Vormittag nutzen, um noch einen kurzen Abstecher in die Alte Pinakothek zu machen. Ich wollte mir dort nur drei, vier Bilder näher anschauen und dann wieder gehen, darunter den Bartholomäus-Altar, den Columba-Altar Rogier van der Weydens – und endlich einmal die Glimsche Beweinung Christi von Albrecht Dürer, an der ich sonst eher achtlos vorbeigelaufen war.

Geschaffen wurde sie um 1500 für Albrecht Glim; der Nürnberger Goldschmied hatte sie wahrscheinlich als Epitaph für seine verstorbene Ehefrau Margreth in Auftrag gegeben. Ursprünglich war die Tafel in der heute nicht mehr existienten Nürnberger Dominikanerkirche aufgestellt. Eng zusammengerückt, wenden sich in der vordersten Bildebene acht Gestalten dem vor ihnen ausgestreckt liegenden Leichnam Christi zu. Er ist nahe dem unteren Bildrand auf ein weißes Tuch gebettet, auf dem auch die Dornenkrone abgelegt ist. Hinter den Trauernden steht rechts, vom oberen Bildrand abgeschnitten, das Kreuz. Die Kontur der Figurengruppe lässt sich als rautenförmig beschreiben; das sichelförmige, nach unten ausschwingende Leichentuch Christi mildert diese starre geometrische Form etwas ab. Rot, Gelb und Blau sind die vorherrschenden Farben.

Die Höhe des Hügels, auf dem die Dürer die Gruppe platziert hat, ist an der tiefer gelegenen Landschaft erkennbar: Rechts, vom Bildrand angeschnitten, liegt ein See, links in der Ferne an einem Berg eine eng mit hohen Häusern bebaute Stadt vor einem Hochgebirge. Auf der Bergspitze oberhalb der Stadt ist ein hoher Rundturm zu sehen. Während der Himmel rechts im Hintergrund leuchtend hell erscheint, wird er links hinter dem Hochgebirge von einer tiefdunklen Wolke verfinstert. Diese Verdunkelung deutet die von den Evangelisten berichtete Finsternis zur Todesstunde Jesu an (z. B. Matthäus 27,45).

Dürers Gemälde zeigt eine Szene, die sich zwischen der Kreuzabnahme und der Bestattung Jesu ereignet. Sie wird „Beweinung Christi“ genannt und kein Bestandteil der Evangelien. Zwar ist das Grab links hinter einem vereinzelt stehenden Baum zu erkennen, aber es liegt noch in einiger Entfernung. Die beiden anderen Schächerkreuze fehlen, auch eine ans Kreuz angelehnte Leiter zur Abnahme des Leichnams wird von Dürer nicht gezeigt. Christus ist von den anderen Gestalten deutlich abgehoben durch einen größeren Figurenmaßstab, der als „Bedeutungsmaßstab“ zu verstehen ist; dabei handelt es sich um ein mittelalterliches Darstellungsmittel. Die Kraftlosigkeit seiner Glieder und das Inkarnat weisen ihn als Toten aus. Die Scham Christi bedeckt ein grünlich schimmerndes Tuch. Das Blut aus der deutlich erkennbaren Seitenwunde ist ihm über den Bauch und die Innenseite des linken Beins bis zum Fuß herabgeflossen. Regelrecht vorgezeigt werden auch die Nägelmale an der rechten Hand und am rechten Fuß Jesu; am Kopf ist noch eine dünne, von der Dornenkrone stammende Blutspur sichtbar.

Hinter Jesus hebt Joseph von Arimathäa, vornübergebeugt und, um beweglicher zu sein, mit geschürztem Mantel, den Leichnam unter den Achseln leicht an. Ihm gehört das Felsengrab, in das Christus später gelegt wird. Joseph von Arimathäa berüht den Körper Christi nicht direkt, sondern nur das Leichentuch. Die Art, wie das Leichentuch zur ehrfürchtigen Berührung des Körpers Christi verwendet wird, verweist auf die spätmittelalterliche Eucharistieverehrung: „Das Hochheben Christi wird in dieser Hinsicht zur Elevation, das Leichentuch zum Corporale oder Sakramentsvelum“ (Goldberg/Heimberg/Schawe 1998, S. 278). 

Die gefasste Trauer des Nikodemus
Auf der rechten Seite steht Nikodemus mit einem marmornen Salbgefäß im rechten Arm, das „Myrrhe gemischt mit Aloe“ enthält (Johannes 19,39; LUT); mit seiner Linken hält er nur einen Zipfel des Leichentuchs fest. Betrübt blickt er auf die Szene, bleibt dabei ebenso passiv wie der alle anderen Figuren überragende Johannes, „im Gegensatz zur vita activa des den Oberkörper Christi stützenden Joseph von Arimathä ein Sinnbild der vita contemplativa auch er“ (Liess 2008, S. 170). In beiden Gestalten ist das Nachsinnen über die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu verbildlicht.

Maria ist inmitten der dicht gedrängten Figurengruppe hinter der linken Schulter ihres Sohnes in blauem Mantel und weißem Kopftuch zu erkennen; sie scheint mit überkreuzten Beinen leicht erhöht auf dem Boden zu sitzen. In ihrem Schmerz ringt sie die Hände, das Gesicht starr und von Trauer gezeichnet. Sichtlich bewegt wendet sich eine auffällig gekleidete, eine Haube tragende Frau dem Toten zu: Es dürfte sich wohl um Maria Magdalena handeln. Sie hat die rechte Hand Jesu zu sich gezogen; den weiten rechten Ärmel über die Schulter geworfen, ist ihr der grüne Mantel von der Schulter gerutscht. Unmittelbar hinter ihr steht, gehüllt in einen leuchtend roten Mantel, eine wohl zu ihr gehörende junge Frau mit einer Salbbüchse, die über die Szene hinweg nach links blickt.

Rogier van der Weyden: Grablegung Christi (1450); Florenz, Uffizien
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Aufrecht stehend, blickt Johannes mit schmerzlich bewegtem Mund wie die rotgekeidete Frau neben ihm auf das Felsengrab am linken Bildrand, wo auch der leere Sarkophag und die Deckplatte zu sehen sind. In unmittelbarer Nähe befindet sich die geschlossene Pforte einer geflochtenen Umzäunung, auf die ein Weg zuführt: Es ist der Weg, den die Frauen nach Markus 16,1-2 am Ostermorgen zum dann leeren Grab gehen werden. Als Beispiel und Vorbild für eine solche Andeutung der noch ausstehenden Auferstehung Jesu kann Rogier van der Weydens Grablegung Christi (1450 entstanden) in den Uffizien gelten. Dass diese Auferstehung kommen wird und die Verheißung ewigen Lebens auch dem Auftraggeber Albrecht Glim, seiner verstorbenen Ehefrau und den weiteren Angehörigen gilt, ist die eigentliche Botschaft des Epitaphs. Die wiederum sind in den unteren Bildecken verkleinert als Stifterfamilie dargestellt: links Albrecht Glim mit zwei Söhnen, rechts seine im Jahr 1500 verstorbene Gemahlin Margreth mit einer Tochter.

Auch Dürers Kopf des Johannes mit dem spiralig gelockten Haupthaar zeigt deutliche Anklänge an den von Rogier van der Weyden entwickelten Typus. Der Lieblingsjünger Jesu lässt seinen Tränen freien Lauf, die ihm über die Augenlider quellen. Über seinem weinroten Gewand trägt er einen schwarzen Mantel, den er über seine linke Schulter zurückgeschlagen hat, sodass das gelbe Futter zu sehen ist. Haupt und Oberkörper lösen sich aus der Gruppe und ragen mit der den Burgberg kegelförmig umschließenden Stadt bis zu den Gipfeln des fernen Hochgebirges empor. Er presst die gefalteten Hände nicht in einer Schmerzgebärde an seine Brust, sondern hält sie waagrecht vor den Körper, erkennbar eine Geste des Gebets. „Dadurch legt er eine schützende Überdachung, gleichsam einen Architrav über das Marienhaupt“ (Liess 2008, S. 159). Der Epitaph- und Memorialcharakter des Gemäldes dürfte Dürer angeregt haben, durch die Gestalt des auf der Mittelachse des Bildes platzierten Johannes den Betrachter zum Gebet und zur religiösen Kontemplation aufzufordern „und den Moment der Totenklage mit der innerlichen Hoffnung auf ewige Heils- und Erlösungswirklichkeit zu verknüpfen“ (Liess 2008, S. 173).

Albrecht Dürer: Holzschuhersche Beweinung Christi (um 1499);
Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum (für die Großansicht einfach anklicken)
Außer der Glimschen hat Dürer noch eine weitere großformatige Version des Themas gemalt: die Holzschuhersche Beweinung Christi, die sich im Germanischen Nationalmuseum (Nürnberg) befindet und um 1499 entstanden ist. Auffallend an beiden Gemälden ist die in einer einzigen Gestalt gipfelnde Komposition, bei der der nach links bzw. nach rechts liegende Leichnam sozusagen die Basis bildet. Diesen Bildaufbau verwendete Dürer bereits in um 1498/99 datierten themengleichen Holzschnitt der Großen Passion. Darüber hinaus ähneln sich die drei Darstellungen in zahlreichen Einzelmotiven: das Hochnehmen des Oberkörpers Jesu; das Hervorheben seiner rechten, wundmaltragenden Hand; die Anordnung der Mutter Maria inmitten der Figurengruppe; die klagende, ihre Arme hochreißende Frau und die Position der Gruppe vor der sich in die Tiefe erstreckenden Landschaft.

Albrecht Dürer: Beweinung Christi (um 1498/99); Holzschnitt
Andrea Mantegna: Grablegung Christi (um 1470/75); Kupferstich

Es ist davon auszugehen, dass in die Glimsche Beweinung Christi die Begegnung mit Bildwerken eingeflossen ist, die Dürer auf seiner ersten Italienreise 1494/95 kennenlernen konnte. Denn neu in der Kunst nördlich der Alpen sind vor allem die ganz unterschiedlichen Gemütsbewegungen der Trauernden. Ein Vorbild könnte u.a. Andrea Mantegnas Kupferstich der Grablegung Christi sein (um 1470/75 entstanden): Er variiert nicht nur die heftigen Emotionen angesichts des Leichmans Jesu. sondern zeigt auch Johannes – hier laut klagend – als abseits stehende Gestalt, die bildeinwärts gewendet ist.

Hans Baldung Grien: Beweinung Christi (1513); Innsbruck, Ferdinandeum

Hans Baldung Grien (1484–1545), Dürers bedeutendster Mitarbeiter, griff 1513 in einer kleinformatigen Tafel die Komposition der Glimschen Beweinung Christi auf. Überraschend neu sind dabei die auf dem Boden liegende, die Füße des Toten liebkosende Figur der Maria Magdalena, zum anderen der aus der Gruppe isolierte, sich in wilder Verzweiflung die Haare raufende Johannes und schließlich die vom Bildrand beschnittenen Kreuze, an denen die Unterschenkel der beiden noch hängenden Schächer sichtbar sind – eine Bildidee, durch die das vorausgegangene Ereignis der Kreuzabnahme vergegenwärtigt wird.

 

Literaturhinweise

Goldberg, Gisela/Heimberg, Bruno/Schawe, Martin: Albrecht Dürer. Die Gemälde der Alten Pinakothek. Edition Braus, München 1998, S. 260-287;

Liess, Reinhard: Die Johannesfigur der Glimschen Beweinung Christi Albrecht Dürers. In: Tobias Kunz (Hrsg.), Nicht die Bibliothek. sondern das Auge. Westeuropäische Skulptur und Malerei an der Wende zur Neuzeit. Beiträge zu Ehren von Hartmut Krohm. Michael Imhof Verlag 2008, S. 157-177;

LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

(zuletzt bearbeitet am 1. März 2024)


Dienstag, 14. Juni 2022

Wuchtige Charakterköpfe – Lucas Cranach d.Ä. malt die hll. Franziskus und Valentin

Lucas Cranach d.Ä.: Stigmatisation des Hl. Franziskus
(1502/03); Wien, Belvedere (für die Großansicht anklicken)
Der Theologe und Franziskaner Bonaventura (1221–1274) berichtet in seiner Franziskus-Biografie, der Heilige Geist habe den Ordensgründer (1181–1226) einst auf den Berg Alverna in der Toskana geführt, wo ihm ein Engel mit sechs Flügeln erschienen sei. Der Seraph habe ein Abbild des gekreuzigten Christus mit sich getragen, und während Franziskus über die Bedeutung der himmlischen Erscheinung meditierte, zeigten sich an seinen Händen und Füßen sowie an der Seite die Wundmale Christi.

Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553) hat dieses zentrale Ereignis im Leben des Franziskus um 1502/03 auf einer schmalen, hochformatigen Tafel wiedergegeben. Es ist in seiner Wiener Zeit entstanden (1502–1505) und zählt zu seinem expressiven Frühwerk. Giotto und Pietro Lorenzetti hatten das Geschehen auf ihren berühmten Wandbildern (Assisi, San Francesco; Ende des 13. Jhs.) in einer gebirgigen Einöde angesiedelt – Cranach verlegt es dagegen in ein begrüntes Tal. Auch Albrecht Dürer wählt für einen themengleichen Holzschnitt, der um 1503 entstanden sein dürfte, ein von Bäumen und Strauchwerk bewachsenes Gelände als Szenerie.

Albrecht Dürer: Stigmatisation des hl. Franziskus (um 1503/04); Holzschnitt
Der treue Gefährte des Franziskus, Bruder Leo, ist schlafend am rechten Bildrand in riesenhafter Gestalt wiedergegeben. Hinter dem Ordensbruder eröffnet sich ein stimmungsvoller Ausblick auf eine kleine Burg, deren Umrisse sich auf der Oberfläche des umliegenden Gewässers spiegeln. Dahinter zeichnet sich eine Gebirgssilhouette ab, die in ihren zarten Blautönen mit der Himmelszone zu verschwimmen scheint. In der linken Bildhälfte wird der Mittelgrund von einem dichten Mischwald abgeschlossen.

Im Vordergrund kniet Franziskus, sein linkes Bein weit nach vorn schiebend. Erschrocken reißt er die Hände in die Höhe und richtet den Blick starr auf die Himmelserscheinung. Die Hände rahmen auf diese Weise den zurückgeworfenen, wuchtigen Kopf; in den Handflächen sind die Stigmata bereits sichtbar. Hinterfangen werden Kopf und Hände von der flächigen, metallen-goldene Scheibe des Nimbus. Breite Bleiweißstreifen betonen das verkürzte Gesicht sowie die Hände und Füße des Heiligen. Eine stoffreiche Kutte, die sich an der rechten Brustseite öffnet und das Aufspringen der Seitenwunde erkennen lässt, spiegelt das saftige Grün der Vegetation. Ihre üppigen, wulstigen Falten umkreisen die Arme und Schultern des Heiligen. Eine Eiche, die sich links wie ein Bogen vom unteren bis zum oberen Bildrand dehnt, klemmt Franziskus regelrecht in den Vordergrund des Bildes ein; ihre dynamische Form spielt die Dramatik des dargestellten Augenblicks. Ein so im Vordergrund positionierter Baum erscheint erstmals in Cranachs Ölberg-Holzschnitt von 1502.

Cranachs Stigmatisation des hl. Franziskus ähnelt dem erwähnten Dürer-Holzschnitt nicht nur durch das Naturambiente, verwandt sind auch – seitenverkehrt und detailgetreu – die groß gesehenen Figuren und das Kreuz. Vor allem die Körperhaltung des Heiligen mit dem aufgestellten rechten Bein scheint von Dürer zu stammen. Cranach versetzt seinen Franziskus allerdings mit den höher erhobenen Armen in eine größere Körperspannung und verleiht dem Charakterkopf noch individuellere Züge.

Lucas Cranach d.Ä.: Christus am Ölberg (1502); Holzschnitt
Eng verwandt mit der Franziskus-Darstellung ist eine zweite Tafel Cranachs, die wohl zeitgleich geschaffen wurde. Sie zeigt den hl. Valentin von Rätien (gest. um 475) in Bischofstracht, der einen Stifter präsentiert. Im Rücken des auf der Mittelachse platzierten Heiligen ragt der Oberkörper eines am Boden liegenden Epileptiker hervor, der als Attribut des hl. Valentin fungiert. Da ihm die Heilung eines Epileptikers zugeschrieben wird, gilt er als Schutzpatron gegen die Fallsucht und verwandte Erkrankungen.

Lucas Cranach d.Ä.: Der hl. Valentin präsentiert einen Stifter
(1502/03); Wien, Akademie der bildenden Künste
Die Figurengruppe ist von einer urwüchsigen, der Franziskus-Tafel vergleichbaren Landschaft hinterfangen, die jedoch im Unterschied zu dieser eine geringere Tiefenräumlichkeit entfaltet. Valentins Pontifikaltracht ist außerordentlich prunkvoll: Neben dem roten, goldgesäumten Pluviale mit goldener Schließe sind vor allem Mitra und Krummstab sehr kunstvoll und kostbar gearbeitet. Die Vorderseite der mit Perlen bestickten Bischofsmütze ziert die plastische Darstellung der Maria mit Kind im Typus einer Mondsichelmadonna; Wolken und Schlange sind in brodelner Bewegung, der Jesusknabe scheint sich von der Fläche ablösen zu wollen. Über dem mit einer Nischenfigur versehenen Knauf des Hirtenstabs wuchert ebenso vehement das getriebene Gold der Krümme. Dessen vegetabiler Kamm ist von expressivem, nahezu organischem Charakter, der die wild wachsende Natur des landschaftlichen Hintergrunds widerspiegelt“ (Messling/Richter 2022, S. 94).

Bei der Nischenfigur des Hirtenstabes dürfte es sich um die hl. Ursula handeln
Mit ähnlicher Ausdruckskraft und Tendenz zur Verhässlichung sind das grobknochige, teigige Gesicht des Heiligen und die schmerzverzerrte Mimik des Epileptikers gestaltet. Die Ruhe des betenden Stifters mit seinem jungenhaft glatten Antlitz bildet dazu einen starken Kontrast. Der hl. Valentin hat dem bartlosen Mann mit dem braunen Lockenkopf die Hand auf die Schulter gelegt und blickt wohlwollend auf ihn herab. Seine repräsentative Kleidung – eine dunkelbraune Schaube mit schwarzem Pelzkragen – lässt einen wirtschaftlich erfolgreichen Bürger in gehobener gesellschaftlicher Stellung vermuten. Der Stifter wendet sich andächtig einem Bildgegenstand zu, der sich rechts von ihm und offenbar recht weit oben befindet – womöglich dem Kruzifix einer Kreuzigungsszene.

Dass beide Tafeln zusammengehören, legen nicht nur die sehr ähnlichen Maße und ihre eng verwandte Komposition nahe. Übereinstimmend ist auch die Machart der Heiligenscheine, die sich ansonsten in Cranachs Werk nicht findet: Die Nimben sind mit poliertem Blattgold belegt und durch konzentrische Kreise unterteilt, die äquidistant mit dem Zirkel gezogen wurden. Die Einstichstelle ist in der Röntgenaufnahme des Franziskus gut zu erkennen. Unklar ist bislang, welchen Platz die beiden Tafeln ursprünglich in einem Altar-Ensemble eingenommen haben. Die Figurenanordnung legt nahe, dass beide Bilder einst auf der linken Seite angebracht waren: „Der Hl. Valentin bildete dabei wohl die Innenseite des linken Flügels, sodass der betende Stifter bei geöffnetem Altar auf die ursprüngliche Mittelzone ausgerichtet war“ (Messling/Richter 2022, S. 95). 

Lucas Cranach d.Ä.: Hl. Stephanus (1503); Holzschnitt
Die blockhafte Schwere und unmittelbare Präsenz der Figuren, beim hl. Valentin durch die ohne Übergang in den Boden stoßenden Parallelfalten noch besonders betont, zeigt auch Cranachs Holzschnitt des Hl. Stephanus von 1503.

 

Literaturhinweise

Brinkmann, Bodo (Hrsg.): Cranach der Ältere. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2007, S. 122;

Messling, Guido/Richter, Kerstin (Hrsg.): Cranach. Die Anfänge in Wien. Hirmer Verlag. München 2022, S. 94-95;

Rosenauer, Artur (Hrsg.): Geschichte der bildenden Kunst in Österreich. Band 3: Spätmittelalter und Renaissance. Prestel Verlag, München u.a. 2003, S. 482-484;

Stadlober, Margit: Der Wald in der Malerei und der Graphik des Donaustils. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 175-177.

 

(zuletzt bearbeitet am 19. Februar 2025) 

Montag, 30. Mai 2022

Der korrodierte Christus – das Werdener Kruzifix (um 1060)

Werdener Kruzifix (um 1060); Essen-Werden, Schatzkammer von St. Ludgerus
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Man muss keineswegs immer nach München, Berlin oder Dresden reisen, um bedeutende Kunstwerke zu sehen – manches befindet sich direkt vor der Haustür, wie etwa das Werdener Kruzifix, das heute in der Schatzkammer von St. Ludgerus in Essen-Werden zu bewundern ist. Die gegossene Skulptur mit einer Höhe von 107,5 cm und einer Spannweite von 96 cm zählt zu den markantesten noch erhaltenen Bildwerken des 11. Jahrhunderts. Bei keinem anderen plastischen Großbildwerk dieser Epoche herrscht so viel Einhelligkeit bezüglich der Datierungsfrage: Das Werdener Kruzifix ist um 1060 in einer Werdener Werkstatt angefertigt worden und gehört somit der spätottonischen bzw. frühsalischen Zeit an.

Schmale Proportionen in strenger Symmetrie
Das Werdener Kruzifix zeigt einen weit eher aufrecht stehenden als vom Kreuz herabhängenden Christus. Die schlanken, überlängten Arme sind schwingengleich (Grimme 1985, S. 71) ausgespannt, richten sich aber nur wenig nach oben; das Haupt ist nach vorne auf die Brust gesunken, die plastisch vorgewölbten Augen sind geschlossen. Die Haare des Gekreuzigten liegen in feinen, leicht gewellten Strähnen auf dem Schädel und verlaufen gleichmäßig gescheitelt über die Schultern. Auf beiden Seiten fällt, die Ohren freilassend, jeweils eine gedrehte Haarsträhne herab. Die scharf gezogene Scheitellinie des Haupthaars leitet über die prägnante Vertikalfalte in der Mitte der Stirn unmittelbar hin zu dem schmalen, langgezogenen Nasenbein und von hier zum Brustbein. Die Gestaltung der in feinen Riefen gravierten Haare wiederholt sich am Oberlippen- wie auch am Kinnbart, der mit zungenförmigen Locken versehen ist. Zusammen rahmen sie die zu einem engen Schlitz reduzierten Lippen. Der flache Oberkörper ist durch eine streng symmetrische, grafische Linienführung der Rippenbögen gekennzeichnet. Der Bauch wölbt sich nur leicht vor. Eine Seitenwunde ist nicht vorhanden.

Nur die leichte Neigung des Kopfes durchbricht die strenge Vertikale des Körpers

Cingulum und Lendentuch sind ineinander verschlungen und bilden an der rechten Seite einen filigran gestalteten Knoten aus. Das Lendentuch fällt vorne in langen, nur flach ausgebildeten Schichtfalten bis knapp über die Knie des Gekreuzigten. Gesäumt ist es von einer zweigeteilten Borte, die durch diagonal gekreuzte Schraffierungen eine Stickborte andeutet. Sie findet sich in einfacher Form am oberen Abschluss wieder.

An die Stelle der sich durch den Stoff abzeichnenden Oberschenkel treten lange Faltenbahnen mit Omega-Abschluss. Überlängt wie die übrigen Proportionen sind auch die Unterschenkel. Die Schienbeine Christi sind gratartig gestaltet, die Knie werden durch eingetiefte Bögen markiert. Die symmetrisch geformten Füße fallen unten leicht auseinander. Bestimmend für die Figur ist die langgestreckte Vertikale des streng frontal präsentierten Körpers, durch die ausgestreckten Arme zum Kreuz ergänzt und lediglich durch den leicht geneigten Kopf gemildert. „Die Dominanz der Senkrechten ist im Gesamten  wie in den Einzelheiten nachdrücklich unterstützt: Die Geschlossenheit der Umrisse steigert das Aufwachsen des ohnehin schmal proportionierten Körpers“ (Wundram 2003, S. 11). Insgesamt entsteht der Eindruck von Schwerelosigkeit, in der Christus vor dem Kreuz zu schweben scheint (Grimme 1985, S. 71). Wie das ursprüngliche Kreuz aussah, an dem der Corpus hing, ist nicht bekannt.

Gefertigt wurde das Kruzifix im Wachsausschmelzverfahren; dabei sind Arme, Beine und Rumpf separat gegossen worden. Die Arme wurden durch Zapfen mit den Schultern verbunden; die Beine sind heute mit modernen Schrauben am Lendentuch befestigt. Alle auf der Vorderseite sichtbaren Gravuren waren bereits im Wachsmodell angelegt.

Die heutige Farbe der Oberfläche ließ den Betrachter bislang annehmen, das Werdener Kruzifix sei ein Bronzeobjekt. Die jüngste Untersuchung des Materials in 2016 ergab allerdings, dass es sich keineswegs um Bronze, sondern um eine hoch kupferhaltige Legierung handelt. Zudem wurde das rötliche Metall nach dem Guss vollständig vergoldet; die originale Vergoldung ist unter der dunklen Schicht aus Kupferkorrossionsprodukten und Verschmutzung noch erhalten. Die dunkle Auflage besteht erst seit etwa 200 Jahren. Ursache für die Korrosion kann, neben Ruß, die Luftverschmutzung seit Beginn des Industriezeitalters sein.

Die metallurgische Untersuchung erfolgte im Rahmen einer Restaurierung des Werdener Kruzifix: 2008 war das Kunstwerk aufgrund eines Brandes im Ostflügel des Werdener Abteigebäudes, in dem die Schatzkammer untergebracht ist, evakuiert. Bei einem Sturz während der Abnahme brach der Mittelfinger der rechten Hand ab, und die rechte Schulter wurde eingedrückt. Weil die Zeichnung der Muskulatur, die an der Brust des Korpus deutlich ausgebildet ist, an den Armen nicht aufgenommen wird, wurde unter Kunsthistorikern immer wieder diskutiert, ob die Arme vielleicht nicht original sind. Die Untersuchung von 2016 konnte hier Klarheit schaffen: Körper, Arme und Beine wurden aus identischem Material gegossen, so dass die Arme als ursprünglich sind.

Eines der insgesamt vier erhaltenen Werdener Steinreliefs (um 1060)
Buchdeckel des Essener Theophanu-Evangeliars (1. Hälfte des 11. Jhs.);
Essen, Domschatzkammer
Kruzifix als Initiale T aus einem Kölner Evangeliar (Anfang des 11. Jhs.);
Freiburg, Universitätsbibliothek
Stilistisch ist das Werdener Kruzifix eng verwandt mit den sogenannten Werdener Steinreliefs, die ebenfalls in der Schatzkammer von St. Ludgerus ausgestellt sind. An den Gewändern der Steinreliefs finden sich die gleichen Schichtfalten wie am Lendentuch und auch die gleichen bortenartigen Verzierungen. Auch die Buchdeckel-Reliefs des Essener Theophanu-Evangeliars sind als Vergleichsobjekte zu nennen. Besonders eng sind die Parallelen zum Kruzifixus aus der Kölner Handschrift Cod. 360a der Universitätsbibliothek Freiburg. Diese Darstellung zeigt die gleichen besonders schlanken Proportionen der Gliedmaßen. Identisch ist auch die unbewegte gerade Haltung des Körpers. Auch in den Einzelformen bestehen Ähnlichkeiten. Anna Pawlik verweist darüber hinaus auf stilistische Ähnlichkeiten zum Benninghauser wie auch zum Dietkircher Kruzifix (Rheinisches Landesmuseum, Bonn). Weil sich beim Werdener Kruzifix nur der Kopf aus der schmalen Reliefschicht des Körpers nach vorne neigt, sieht sich Ernst Günther Grimme wiederum an den Gekreuzigten der Hildesheimer Bronzetür erinnert.

Kruzifix (11. Jh.); Benninghausen bei Lippstadt, St. Martin
Dietkircher Kruzifix (11. Jh.), Bonn, Rheinisches Landesmuseum
Gerokreuz (Ende des 10. Jhs.); Köln, Dom

Bernwardtür: Kreuzigung (um 1015); Hildesheim, Dom (für die Großansicht einfach anklicken)

Umstritten ist, ob das Werdener Kruzifix noch einen Reflex auf das ältere Kölner Gerokreuz zeigt (siehe meinen Post „Vom Christus victor zum Christus patiens“), etwa mit dem auf die Brust gesunkenen Haupt, dem leicht vorgewölbten Bauch sowie dem Lendentuch. Allerdings zeigt es – anders als das sehr plastisch ausgearbeitete Kölner Werk – in der Seitenansicht eine sehr flache und bretthafte Modellierung.

Mindener Bronzekruzifix (um 1070/1120); Minden, Dom/Domschatzkammer
Ein stilistisch zwar nicht verwandtes, aber wohl in geringer zeitlicher Distanz entstandenes und in den Maßen fast identisches Werk ist das Bronzekruzifix im Mindener Dom. Im Gegensatz zu der „ätherisch schlanken Gestalt des Werdener Kruzifix wirkt der Mindener Corpus gedrungener, plastischer, körperhafter. Das Haar bedeckt kappenartig das Haupt, bezieht die Ohren in den Gesamtumriss ein und fällt in drei symmetrischen Wülsten auf die kräftigen Schultern. Die Gesichtszüge sind verschliffener, ihnen fehlt die Schärfe, die sich im Werdener Antlitz zeigt. Zwar sind auch in Minden Brustmuskel und Rippenbögen ornamental aufgefasst, „doch wirkt dies alles schon fast wie einem plastischen Figurenkern aufgetragen“ (Grimme 1985, S. 73). Der Mindener Corpus wurde wahrscheinlich um 1070 aus sechs Teilen gegossen (neuere Forschungen gehen eher von 1120 aus) und war ursprünglich vergoldet. Die Augäpfel bestehen aus Silber, das Lendentuch wurde in Niello-Technik angefertigt.

 

Glossar

Cingulum: Gürtel

Omega-Falte: eine Drapierungsform in der bildenden Kunst, deren Auslauf in Form eines Omegas (Ω) gestaltet ist.

Wachsausschmelzverfahren: ein Formverfahren für den Metallguss, bei dem das Modell aus Wachs hergestellt wird; im Produktionsverlauf werden sowohl das Modell als auch die Form zerstört.

 

Literaturhinweise

Beer, Manuela: Ottonische und frühsalische Monumentalskulptur. Entwicklung, Gestalt und Funktion von Holzbildwerken des 10. und frühen 11. Jahrhunderts. In: Klaus Gereon Beuckers u.a. (Hrsg.), Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2006, S. 129-152;

Grimme, Ernst Günther: Bronzebildwerke des Mittelalters. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, S. 71-74;

Kahsnitz, Rainer: Das Bild des toten Heilands am Kreuz in ottonischer Zeit. Künstlerische und theologische Probleme plastischer Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 66 (2012), S. 50-101;

Pawlik, Anna: Das Bildwerk als Reliquiar? Funktionen früher Großplastik im 9. bis 11. Jahrhundert. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2013. S. 212-218;

Wesenberg, Rudolf: Frühe mittelalterliche Bildwerke. Die Schulen rheinischer Skulptur und ihre Ausstrahlung. Verlag L. Schwann, Düsseldorf 1972, S. 59;

Wundram, Manfred: Der Bronzekruzifixus der Werdener Abteikirche. Klartext Verlag, Essen 2003. 

 

(zuletzt bearbeitet am 6. September 2025)