Samstag, 26. Mai 2012

Das Wort lebt und leuchtet – Rembrandt porträtiert den Mennonitenprediger Anslo und dessen Frau

Rembrandt: Der Mennonitenprediger Cornelis Clasz. Anslo und seine Frau Aeltje Gerritsdr. Schouten (1641);
Berlin, Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken)
Cornelis Claesz. Anslo (1592–1646) war ein erfolgreicher Tuchhändler und zugleich einer der führenden Laienprediger unter Hollands Mennoniten. Als geistlicher Lehrer stand er der bibeltreuen waterländischen Gemeinde in Amsterdam vor. 1641 bezog Anslo ein neues, großes Haus im Zentrum der Stadt. Das 1641 datierte Doppelporträt dürfte für dieses Domizil bestimmt gewesen sein. Das große Bildformat (176 x 210 cm) setzt einen wohlhabenden Geschäftsmann als Auftraggeber voraus. Rembrandt inszeniert Anslo gleichermaßen als arrivierten Textilkaufmann wie als Prediger, indem er auf dem Tisch gleich mehrere kostbare Teppiche zeigt, auf deren üppigen Falten die aufgeschlagene Bibel ruht. Auch der Pelzbesatz an den Mänteln der beiden Eheleute gibt Auskunft über ihren Wohlstand, ohne allzu lauthals die mennonitische Abneigung gegen das Zurschaustellen von Reichtum und Prunk zu verletzen. Und offensichtlich waren bei den gemäßigten Mennoniten, zu denen Anslo gehörte, auch Porträts nicht als „weltliche Eitelkeit verpönt – Bilder wurden im Privatbereich geduldet, im Kirchenraum jedoch abgelehnt.
Rembrandt präsentiert Anslo in seinem Arbeitszimmer. Von der Bibel wendet er sich seiner Frau Aeltje Gerritdr. Schouten zu, mit der er seit 1611 verheiratet war. Fast fünfzigjährig, wirkt Anslo mit seinem schwarzen Vollbart geradezu kraftstrotzend. Er beugt sich weit nach rechts, sodass der weiße Kragen und das helle Gesicht ein Stück neben der Mittelachse des Bildes aufscheinen. Die Gebärde seiner linken Hand, die das Zentrum der Gesamtkomposition markiert und in ihrer Bewegung geradezu die Bildfläche zu durchstoßen scheint, verleiht seinem Reden Nachdruck; die Drehung des Oberkörpers und der weit in den Raum ausgreifende Arm suggerieren körperliche Bewegung und betonen das Momenthafte der geschilderten Situation. Dargestellt wird der Fluss der Rede, denn offensichtlich ist der Prediger dabei, seiner ergeben zuhörenden Ehefrau einen Bibeltext auszulegen. Wir als Betrachter sind dabei nicht ausgeschlossen, im Gegenteil: Das Figurenpaar ist in Untersicht dargestellt, Anslo deutlicher noch als seine Frau. Wie diese nehmen wir als Betrachter die Rolle des Zuhörers ein, in einer Position, als würden wir, zur Kanzel aufblickend, einer Predigt folgen. Der niedrige Blickpunkt ist zugleich ein Hinweis darauf, dass Rembrandts Gemälde recht hoch hängen sollte.
Hinter Anslo sehen wir ein Bücherregal mit schwerem Vorhang, der die meisten Bände verdeckt. Das in ihnen gespeicherte Wissen stellt im Wortsinn seinen eigentlichen Hintergrund dar. „Zugleich verfügt er allein über sie; denn er verstellt auch den Zugriff auf sie“ (König 2003, S. 2). Bücher geben Anslo Autorität.
Rembrandt: Cornelis Claesz. Anslo (1641);  Radierung, 15,8 x 10,8 cm
Außer dem Gemälde hat sich Anslo 1641 von Rembrandt ein radiertes Einzelporträt anfertigen lassen, das ihn als Verfasser theologischer Schriften zeigt. Die Radierung wartet mit neuen Motiven auf: einem leeren Nagel an der Rückwand und einem Gemälde, das darunter mit der Rückseite zum Betrachter abgestellt ist. Werner Busch hat die beiden Hinzufügungen überzeugend auf den mennonitischen bzw. allgemein reformatorischen Grundsatz zurückgeführt, nach dem nicht dem Bild, sondern dem Wort und somit der Schrift der Vorrang in der Vermittlung der Heilsbotschaft zukomme.
Wie paradox: Rembrandts Kunde gibt bei ihm ein großes Gemälde von sich und seiner Frau und eine Radierung in Auftrag, die „beide dazu dienen sollten, die Würde des Wortes gegenüber der des Bildes herauszustellen“ (Schama 2000, S. 477). Rembrandts Aufgabe bestand, wenn man so will, darin, das Unsichtbare sichtbar werden zu lassen – nämlich das gesprochene Wort.
Es fällt auf, dass der Prediger und seine Frau nur die rechte Hälfte des Bildes einnehmen. Die linke Seite ist ganz einem Stillleben aus Büchern und einem Kerzenleuchter vorbehalten, auf das Anslos linke Hand weist. Am Rand des Tisches liegt ein dickes Buch ohne Einband, dessen Blätter sich wellen. Schräg hinter dem zerfledderten Buch erhebt sich ein schlichtes hölzernes Pult; es trägt einen Folianten in Leder mit vergoldeten Beschlägen, sicherlich eine Bibel. Der extrem tiefe Blickwinkel und die beiden wertvollen Teppiche – der untere golddurchwirkt, darauf drapiert ein üppiger roter Orientteppich mit schwarzem Muster – vermitteln den Eindruck, als handle es sich um einen Hochaltar mit heiligen Büchern. Und diese Bücher, die das ganze Licht auf sich vereinigen, das von links einfällt, sind nicht ein bloßer Stapel gebundenes Papier. Die Seiten sind in Bewegung, das Wort lebt und leuchtet bzw. erleuchtet.
Wenn man etwas näher rangeht, ist die Lichtschere bestens zu erkennen
Auf dem Tropfteller der größeren Kerze liegt eine Lichtschere, ein Utensil, mit dem der Docht gekürzt wird, damit die Kerze nicht rußt. Johann Christian Klamt ist der Ansicht, sie symbolisiere  die „correctio fraterna“ (die „brüderliche Ermahnung“, wie sie in Matthäus 18,15-20 beschrieben wird), die dazu beitrage, die Seele von Verirrungen zu befreien wie die Lichtschere die Kerze von Ruß und tropfendem Wachs.
Die Kerze scheint gerade erst ausgeblasen worden zu sein, denn es gibt eine dunkle Spur von Rauch, kaum wahrnehmbar über dem Docht (man sieht sie am besten, wenn man vor dem Original in Berlin steht). Rauchende Kerzen, vor allem wenn sie erloschenen Kerzenstummeln gegenübergestellt sind, spielen in Stillleben des 17. Jahrhunderts häufig auf die Kürze des irdischen Lebens an. Deswegen ist es durchaus denkbar, dass Rembrandt, vielleicht auch auf Wunsch des Auftraggebers, in dem engen Nebeneinander von Heiliger Schrift und Kerze an die unvergänglichen und an die weltlichen Dinge erinnern wollte, an den Geist und das Fleisch (Galater 5,16-25).
Der Prediger, in seinen pelzgefütterten Wohlstand gehüllt, verkündet seiner Frau, wenn auch wohlwollend, so doch von oben herab biblische Gewissheiten. Keine Frage, wer hier im Besitz der rechten Lehre ist – nicht umsonst nimmt Anslo die Spitze der pyramidalen Bildkomposition ein. Rembrandts Gemälde ist vor allem sein Porträt: Er spricht, er greift aus, er beeindruckt. In der Flächendisposition nimmt er majestätisch die Mitte ein; geometrisch rückt er zwar nach rechts; mit Hilfe des Goldenen Schnitts aber bestimmt er eine Symmetrieachse noch höherer Wertigkeit (König 2003, S. 7). An die Seite gerückt und ihm wie Beiwerk untergeordnet ist seine Frau. Das ist von Rembrandt nicht kritisch gemeint, sondern spiegelt die soziale Realität und das Geschlechterverhältnis der damaligen Zeit.
Aeltje Gerritsdr. Schouten (1589-1657)
Aber sie sieht nicht ihren Mann an, sondern die aufgeschlagene Bibel, ohne wirklich aufmerksam ihren Blick auf sie zu richten – der scheint vor allem in sich gekehrt zu sein. Ihre Kopfhaltung mit der leichten Drehung zu ihrem sprechenden Ehemann greift nochmals die Frage auf, wie im Bild das nicht Darstellbare gezeigt werden kann. Rembrandt macht nicht nur Anslos Sprechen sichtbar, sondern auch Aeltjes Hören. 
Das spitzenbesetzte weiße Tuch verweist wie der braune Pelz auf den Wohlstand des Ehepaars
Aeltje Gerritsdr. wirkt zerbrechlich, ihre bleiche Gesichtshaut zeigt mehr Spuren des Alters als das weiche Antlitz ihres Mannes. Das gilt noch mehr für ihre Hände. Diese beinahe in sich zusammengesunkene Frau ist keine ebenbürtige Partnerin für den ehrfurchtgebietenden, hochangesehenen Gemahl. Sie bietet ein Bild geduldiger Unterwürfigkeit und wirkt fast wie ein Kind, das die Schrift nicht versteht und immer Schülerin bleiben wird, angewiesen auf die Erkenntnis und die Erklärungen ihres Mannes.
Rembrandts bekanntestes Bild:  „Die Nachtwache“ (1642); Amsterdam, Rijskmuseum
Anslos Geste mit der perspektivisch verkürzten Hand, auf deren Innenseite das Licht fällt, findet sich übrigens ähnlich ein Jahr später auch in seiner berühmten Nachtwache (1642). Die bemerkenswerte Komposition des Berliner Doppelporträts hat Rembrandt bereits in einem seiner Frühwerke ausprobiert, nämlich in dem Gemälde Petrus und Paulus im Gespräch (1628). Die beiden Apostel sind hier spiegelbildlich auf der linken Seite platziert, während in der rechten Bildhälfte ein Bücherstillleben mit einem Kerzenhalter zu sehen ist. 
Rembrandt: Petrus und Paulus im Gespräch (1628); Melbourne, National Gallery of Victoria


Literaturhinweise
Busch, Werner: Zu Rembrandts Anslo-Radierung. In: Oud Holland 86 (1971), S. 196-199;

Dickey, Stephanie S.: Rembrandt: Portraits in Print. John Benjamins Publishing Company, Amsterdam/Philadelphia 2004, S. 45-56;

Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Rembrandt – Genie auf der Suche. DuMont Verlag, Köln 2006, S. 300-303;
König, Eberhard: Zur Stellung des Beiwerks auf Rembrandts Berliner Bildnis des Mennonitenpredigers Anslo. In: Hans Dickel (Hrsg.), Preußen – Die Kunst und das Individuum. Beiträge gewidmet Helmut Börsch-Supan. Akademie Verlag, Berlin 2003, S. 1-14;
Klamt, Johann-Christian: Ut magis luceat. Eine Miszelle zu Rembrandts »Anslo«, in: Jahrbuch der Berliner Museen 17 (1975), S. 155-165;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 476-480;
van Thiel, Pieter: Doppelbildnis des mennonitischen Lehrers Cornelis Claesz. Anslo und seiner Frau Aeltje Gerritsdr. Schouten. In: Christopher Brown u.a. (Hrsg.), Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 222-225;
Wittmann-Englert, Kerstin: Die Sprache der Hand. Neue Erkenntnisse zum Doppelporträt des Mennonitenpredigers Cornelis Claesz. Anslo und seiner Frau Aeltje Gerritse Schouten (1641). In: Jahrbuch der Berliner Museen 47 (2005), S. 149-157.

(zuletzt bearbeitet am 31. März 2022)

Dienstag, 22. Mai 2012

Percy Bysshe Shelley: Ozymandias

Two vast and trunkless legs of stone

Ozymandias

I met a traveller from an antique land
Who said: »Two vast and trunkless legs of stone
Stand in the desert … Near them on the sand,
Half sunk, a shattered visage lies, whose frown
And wrinkled lip and sneer of cold command
Tell that its sculptor well those passions read
Which yet survive, stamped on these lifeless things,
The hand that mocked them and the heart that fed.
And on the pedestal these words appear:
›My name is Ozymandias, King of Kings:
Look on my works, ye Mighty, and despair!‹
Nothing beside remains. Round the decay
Of that colossal wreck, boundless and bare,
The lone and level sands stretch far away.«

Percy Bysshe Shelley


Osymandias

Ein Wanderer sprach mir von antikem Land:
„Zwei Beinkolosse, rumpflos, steingehauen,
Stehn in der Wüste ... Nah, zerschellt im Sand,
Versunken halb, ein Haupt. Der herrischen Brauen
Und Runzellippen Grimm, kalt und mokant,
Zeigt, daß der Steinmetz jenen Wahn gut las,
Der beides überlebt im toten Wenig:
Die Hand, die ihn geäfft, das Herz, das er zerfraß.
Und eine Inschrift auf dem Sockel sagt:
›Ich, Osymandias, bin der Könige König,
Schaut auf mein Werk, ihr Mächtigen, und verzagt!‹
Nichts übrig sonst. Rund um die Eitelkeit
Des Trümmerriesen, der dort einsam ragt
Dehnt öd und eben Sand sich endlos weit.“

Percy Bysshe Shelley
(übersetzt von Klaus Bartenschlager)



Donnerstag, 17. Mai 2012

Die Leiden des schönen Sebastian – Rubens’ Märtyrerbild aus der Berliner Gemäldegalerie

Peter Paul Rubens: Hl. Sebastian (1618), Berlin, Gemäldegalerie
Der römische Offizier Sebastian gehört zu den bekanntesten christlichen Märtyrern und meistverehrten katholischen Heiligen. Kaiser Diokletian ließ ihn wegen seines christlichen Glaubens an einen Baum binden und durch numidische Bogenschützen hinrichten – was der Soldat jedoch, so die Legende, durch ein Wunder Gottes überlebte. Irene, eine junge Witwe, wollte den Toten bestatten, fand ihn aber lebend vor und pflegte ihn gesund. Als Sebastian den Kaiser öffentlich der Christenverfolgung beschuldigte, ließ dieser ihn schließlich zu Tode peitschen und in die Cloaca Maxima werfen, den größten Abwasserkanal Roms. 
Das 1618 entstandene Gemälde des flämischen Barockmalers Peter Paul Rubens (1577–1640) zeigt das Pfeilmartyrium Sebastians. Nur mit einem Lendenschurz bekleidet, wird er als lebensgroße (200 x 128 cm) und nahezu die volle Höhe des Bildfeldes einnehmende Aktfigur gezeigt. Die muskulöse Gestalt ist an einen Baum gefesselt, von dessem Stamm und dunklen Blattwerk sich der helle Körper deutlich abhebt. Der in der rechten Bildhälfte sichtbare Horizont liegt so tief, dass der Betrachter zu dem hoch aufragenden Märtyrer aufschaut.
Rubens hat in diesem Bild Erfahrungen seines Italien-Aufenthaltes verarbeitet. Im Mai 1600 war er in den Süden aufgebrochen und hatte dort schon bald von sich reden gemacht. Wenige Monate nach seiner Ankunft in Italien trat er bereits als Maler in den Dienst Vincenzo I. Gonzagas, des Herzogs von Mantua. Von den zahlreichen künstlerischen Arbeiten, die Rubens damals ausführte, ist wenig erhalten geblieben. Doch Rubens war offensichtlich in dieser Zeit nicht nur als Maler für den Herzog tätig, sondern auch als Kunstagent, der Gemälde begutachtete und erwarb. In dieser Funktion reiste er im August 1601 nach Rom, um Kunstwerke zu kaufen und in den vatikanischen Sammlungen Gemälde zu kopieren. Rubens nutzte diesen Aufenthalt für ein intensives Studium der antiken und zeitgenössischen Kunst. Er zeichnete nach antiken Werken, aber auch nach Bildern und Skulpturen der Hochrenaissance, von Raffael und Michelangelo. Besonders intensiv hat sich Rubens in dieser Zeit mit der Laokoon-Gruppe beschäftigt, der er zahlreiche Zeichnungen widmete. 
Laokoon-Gruppe, Rom, Vatikanische Museen
Als er nach Rom kam, war diese 1506 entdeckte Skulpturengruppe das bei weitem berühmteste Zeugnis antiker Bildhauerkunst und seither künstlerisches Leitbild. Vor allem die eindringliche Schilderung körperlichen Leidens galt als vorbildlich. Stärker als alle Künstler vor ihm war Rubens bemüht, die affektstarken Figuren in bewegende Bilder umzusetzen. Vor allem zeichnete Rubens „die Statuen schon vor Ort mit Blick auf die inhärenten Möglichkeiten einer Verwendung der gewonnenen Motive in verschiedenen Zusammenhängen“ (Büttner 2007, S. 20).
Eine von Rubens’ Zeichnungen der Laokoon-Gruppe
Das Bild des Laokoon ruft Rubens’ Sebastian denn auch nicht nur durch seine Körperlichkeit wach, sondern vor allem durch das Leidensmotiv des sich aus leichter Hüftdrehung empordrängenden Oberkörpers.
Sterbender Alexander; Florenz, Uffizien
Eine Zeichnung Rubens’ nach dem Sterbenden Alexander
Die Gesichtszüge des Heiligen erinnern deutlich an den Sterbenden Alexander, einen hellenistischen Marmorkopf, den Rubens ebenfalls gezeichnet hat. Die Büste wurde Künstlern als „exemplum doloris“ empfohlen, als Vorbild für die Gestaltung von extremem Schmerz und Kummer. 
Michelangelo: Sterbender Sklave, unvollendet; Paris, Louvre
Und Rubens hatte offensichtlich auch Michelangelos prigione nicht vergessen – eine unvollendete Skulptur, die vielfach Sterbender Sklave genannt wird, ebenfalls den Einfluss der Laokoon-Gruppe zeigt und sich heute im Louvre befindet. (Michelangelo war 1506 einer der Ersten, die das antike Meisterwerk bewundern konnten.)
Andrea Mantegna: Hl. Sebastian (1459/60); Wien, Kunsthistorisches Museum
Der Kontrapost von Rubens’ Sebastian (die Balance von tragendem Stand- und entlastendem Spielbein) verweist wiederum auf den kleinfigurigen Wiener Sebastian von Andrea Mantegna (1459/60; 68 x 30 cm), und Otto von Simson scheint „die heroische Auffassung der Gestalt vor der abendlichen Landschaft kaum denkbar ohne Tizians großes Vorbild in der Eremitage“ (Simson 1996, S. 220). Die Details der Landschaft sind bei Tizian allerdings kaum ausgearbeitet; und im Gegensatz zu Rubens wählt Tizian die Statue des Apoll vom Belvedere als Vorbild für seinen Sebastian (siehe meinen Post Der Apoll vom Belvedere“), während andererseits die Gesichtszüge an den älteren der Laokoon-Söhne erinnern, vor allem durch den nach hinten gebogenen Kopf, die Augenbrauen, die die Nasenwurzel berühren, und den halbgeöffneten Mund.
Tizian: Hl. Sebastian (um 1570); Eremitage, St. Petersburg
Die überaus zahlreichen Sebastian-Darstellungen in der abendländischen Kunst verdanken sich vor allem der kontinuierlichen Präsenz der Pest in Europa seit der großen Epidemie von 1348. Denn Sebastian wurde wie Rochus, Cosmas und Damian als Pestheiliger verehrt und angerufen, weil die Pfeile seines Martyriums als Symbole für diese Seuche galten. Oft wird der Heilige auf diesen Gemälden mit einem besonders schönen, erotisch anziehenden Körper präsentiert. Das kann heutige Betrachter regelrecht irritieren: Sollte es sich wirklich um einen Heiligen handeln? Doch Sebastians Sinnlichkeit beweist geradezu, dass er wirklich lebt. Vor allem ist er durch die Makellosigkeit seines Leibes ein Gegenbild zu dem von der Pest befallenen Körper. Sebastian, der das Pfeilmartyrium durch ein Wunder Gottes überlebt hat, wird „zu einem Versprechen, dass die Gläubigen, selbst wenn sie am schwarzen Tod sterben müssen, einen zeitlosen, überirdischen, makellosen Körper bekommen“ (Bohde 2004, S. 92). 


Literaturhinweise
Bohde, Daniela: Ein Heiliger der Sodomiten? Das erotische Bild des Hl. Sebastian im Cinquecento. In: Mechthild Fend/Marianne Koos (Hrsg.), Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit. Böhlau Verlag, Köln 2004, S. 79-98;
Büttner, Nils: Rubens. Verlag C.H. Beck, München 2007;
Marshall, Louise: Manipulating the Sacred: Image and Plague in Renaissance Italy. In: Renaissance Quarterly 47 (1994), S. 485-532;
Prochno, Renate: Die einseitige Konkurrenz: Antonis van Dyck und Peter Paul Rubens. In: Renate Prochno, Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen. Akademie Verlag, Berlin 2006, S. 127-154;
Simson, Otto von: Peter Paul Rubens (1577–1640). Humanist, Maler und Diplomat. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1996. 

(zuletzt bearbeitet am 30. November 2020)

Mittwoch, 16. Mai 2012

Bernini will der Beste sein – der „Hl. Sebastian“ aus der Sammlung Thyssen-Bornemisza

Gianlorenzo Bernini: Hl. Sebastian (1617); Madrid,
Museo Thyssen-Bornemisza (für die Großansicht einfach anklicken)
Der
Hl. Sebastian, 1617 entstanden, ist eine der ersten Skulpturen des jungen Gianlorenzo Bernini (1598–1680), der 1606 mit seinem Vater nach Rom übergesiedelt war. Sein großes Vorbild dürfte damals ohne Zweifel Michelangelo (1475–1569) gewesen sein. Um sich Aufmerksamkeit und Aufträge zu sichern, nahm sich der jugendliche Bildhauer vor, sich mit dem großen Renaissance-Künstler zu messen – und ihn wenn möglich zu übertreffen. Sein Hl. Sebastian zeigt, wie intensiv Bernini sich mit Michelangelos Figuren auseinandergesetzt hat, vor allem mit dessen Pietà-Gruppen. 
Labiles Gleichgewicht: im nächsten Moment schon könnte der Körper des
Märtyrers von seinem Felsensitz herabgleiten
(für die Großansicht einfach anklicken)
Als Kaiser Diokletian vom christlichen Glauben seines römischen Hauptmanns Sebastian erfuhr, ließ er ihn an einen Baum fesseln und von numidischen Bogenschützen hinrichten – so die Legende. Sein von zahlreichen Pfeilen durchbohrter Körper blieb am Ort der Exekution zurück. Als die Christin Irene und ihre Gefährtinnen den Leichnam später bestatten wollten, fanden sie Sebastian noch lebend, brachten ihn in ihr Haus und pflegten seine Wunden, die innerhalb weniger Tage vollständig verheilten. 
Berninis Sebastian hat sein Martyrium bereits erlitten. Er sitzt auf einem schmalen Felsen und lehnt an dem dahinter aufragenden Baumstumpf. Sein Kopf ist in den Nacken zurückgesunken, der Mund leicht geöffnet, die Augenlider sind geschlossen. Der rechte Arm liegt über einem waagrecht abstehenden Aststumpf und wird wie zufällig durch eine Gewandschlinge dort angebunden. Er allein gibt dem Körper noch Halt, dem Kraft und Leben zu entweichen scheinen und der vom Felsen herabzugleiten droht. Der linke Arm hängt herab und liegt mit geöffneter Hand auf dem Oberschenkel; das rechte Bein ist kraftlos zurückgesunken, während das über den Felsen gelegte linke Bein den Körper noch stützt. „Der hängenden Vertikalen des rechten Unterarms und des parallel dazu auf der Plinthe aufstehenden linken Beines entsprechen der aufliegende linke Arm und der abrutschende rechte Oberschenkel“ (Schmitt 1997, S. 34). Deutlich erkennbar ist die kontrapostische Gestaltung des Märtyrer-Leibes: So entsprechen sich kontrastierend die hochgezogen vorstehende rechte Schulter und die herabhängende linke sowie die gedehnte rechte Körperflanke und die gestauchte linke Partie.
Sebastian hat das Bewusstsein verloren, „doch lassen das vorgestellte linke Bein, die kraftvolle Modellierung der Muskulatur im Bereich von Brustkorb und Bauch sowie die schwellenden Adern der Unterarme, auf Fußrücken und Schienbein ahnen, daß noch Leben in ihm wohnt“ (Schütze 2007, S. 211). Hinter Kopf- und Schulterpartie sprießen Blätter aus dem Stumpf des Lorbeerbaums – sie verweisen auf die nahende Rettung und die Überwindung des Todes.
Der antik anmutende Körper des Sebastian ist beinahe vollständig nackt und nur unter der rechten Achsel sowie an der linken Flanke von Pfeilen verletzt. Zwei weitere Pfeile liegen am Boden. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verdrängte das Bild des nackten, jugendlichen Sebastian endgültig die ältere Tradition, die ihn als reifen, bärtigen Mann dargestellt hatte. Die jugendliche Schönheit von Berninis Sebastian ist nicht nur Ausdruck der Schönheit seiner Seele, sondern zugleich sichtbarer Beweis seiner Christusähnlichkeit“ (Schütze 2007, S. 215). Der herabsinkende Körper und die sich über dem Knochengerüst verschiebenden Haut- und Muskelpartien, vor allem im Bereich von Hals, Brustkorb und Bauchdecke, sind anatomisch genau beobachtet. Die Gesichtszüge entsprechen einem klassischen Schönheitsideal, der Körper ist muskulös-athletisch, aber in seinen langgestreckten Proportionen deutlich schlanker und weniger kraftvoll als z. B. der Laokoon, der als Vorbild für Berninis Skulptur genannt wurde (siehe meinen Post Das ultimative antike Meisterwerk).
Zwischen Leben und Tod und beinahe vollständig nackt
Die Haare des Sebastian mit den bis in den Nacken fallenden und in der Mitte gescheitelten Locken sowie der Schnurrbart mit dem nicht sehr dichten Kinn- und Backenbart greifen unübersehbar auf Michelangelos römische Christusfiguren in St. Peter und Santa Maria sopra Minerva zurück. Würden die Pfeile fehlen, könnte Berninis Skulptur zweifellos auch als Passionschristus betrachtet werden. Vor allem die Auseinandersetzung mit Michelangelos Pietà von 1498/99 (siehe meinen Post Tief schlafend oder tot?ist überall spürbar, in der Feinheit der bildhauerischen Arbeit, in der Proportionierung und Modellierung des Körpers wie in der Durchbildung der Detailformen, des Kopfes und der Gliedmaßen, der Füße, der Hände oder des rechten Armes“ (Schütze 2007, S. 221). Die eindrucksvolle künstlerische Virtuosität des neunzehnjährigen Bernini zielte darauf ab, bei den damaligen BetrachterInnen jene compassione (Mitleid) hervorzurufen, die die Frauen empfanden, als sie den halbtoten Sebastian auffanden – „und erzwang damit implizit Bewunderung für sein eigenes Können“ (Scholten 2019, S. 175).
Michelangelos toter Christus von 1498/99 in St. Peter
Michelangelos auferstandener Christus in Santa Maria sopra Minerva (1519-1521)
Ungewöhnlich ist, dass der unterlebensgroße Hl. Sebastian als Sitzfigur konzipiert ist; in der Regel wurde der Märtyrer stehend wiedergegeben. Bernini knüpft mit der frontalen, ikonenhaften Präsentation des sitzenden Märtyrers an Pietà-Darstellungen an, die im ausgehenden 15. Jahrhundert vor allem Giovanni Bellini, Andrea Mantegna und Antonello da Messina entwickelt hatten.
Andrea Mantegna: Hl. Sebastian (um 1457/59); Wien, Kunsthistorisches Museum
Andrea Mantegna: Engelspietà (1489); Kopenhagen, Statens Museum for
Kunst (für die Großansicht einfach anklicken)
Antonello da Messina: Pietà (1475/76); Madrid, Museo del Prado
Ebenso lehnt sich sein Hl. Sebastian unverkennbar an die beiden anderen, unvollendeten Pietà-Gruppen Michelangelos an: die Pietà Palestrina und die Pietà BandiniBerninis Figur ist im Aufbau aus dem Vorbild beider Pietà-Skulpturen abzuleiten: Das kraftlos abgeknickte rechte Bein, über dem sich der muskulöse Rumpf nicht aus eigener Kraft halten kann, die Stütze unter der rechten Schulter, die dadurch bedingte diagonale Ausrichtung der Armansätze, der zur erhobenen Schulter gefallene Kopf – das ist eine deutlich vergleichbare Struktur dieser drei Bildwerke. Mit der Präsentation des toten Christus hat sich Michelangelo nach der Pietà in St. Peter auch in seinem ebenfalls unvollendeten Gemälde einer Grablegung beschäftigt, die sich heute in der Londoner National Gallery befindet. Neben dem „Wettbewerb“ mit Michelangelo dienen diese Anleihen Berninis vor allem dazu, die Christusähnlichkeit Sebastians zu betonen und dessen Martyrium der Passion Jesu anzugleichen.
Michelangelo: Pietà Bandini, unvollendet; Florenz, Museo dell’Opera del Duomo
Michelangelo: Pietà Palestrina, unvollendet; Florenz, Galleria dell’Academia
Michelangelo: Grablegung Christi (um 1500/01); London National Gallery
(für die Großansicht einfach anklicken)
Hans Kauffmann verweist auf den Barberinischen Faun als Anregung, zumal sich Bernini mit dem hellenistischen Original beschäftigt hat: Er erhielt den Auftrag, die antike Skulptur zu restaurieren (siehe meinen Post Die Macht des Dionysos). Die Lagerung des Kopfes auf der Schulter des hochgelegten und umwickelten Oberarms, die Asymmetrie der Thoraxhälften und die Hinterlegung des Rumpfes mit einem Fell oder Stoff, der Felsensitz, nicht zuletzt die geschlossenen Augen bei geöffneten Lippen legen den Gedanken an einen Einfluß nahe“ (Kauffmann 1970, S. 27). Die Quellenlage belegt allerdings, dass der Barberinische Faun erst in den Jahren zwischen 1624 und 1628 bei Ausschachtungsarbeiten an der Engelsburg in Rom gefunden wurde – als Bernini seinen Hl. Sebastian schuf, konnte er die antike Statue also noch gar nicht gesehen haben. Doch Kauffmann geht offensichtlich davon aus (mit Verweis auf einen Aufsatz von Kurt Cassirer), dass es bereits im 16. Jahrhundert eine Replik des Barberinischen Fauns gab, die seitdem verschollen oder zerstört ist.
Barberinischer Faun (um 220 v.Chr.); München, Glyptothek
Sabine Schulze wiederum hat als Vorbild für die Sitzfigur den Torso vom Belvedere ausgemacht, das Fragment einer mit leicht geneigtem und etwas gedrehtem Oberkörper sitzenden männlichen Figur (siehe meinen Post Ruhm und Rätsel). Ihrer Ansicht nach „verleiten die Ausrichtung der Oberschenkel, die eingezogene Weiche und die im Gegenzug gedrehten Schultern zu der Vermutung, dass der Figur des Sebastian zusätzlich ein Moment der Antikenrekonstruktion verbunden ist. Zumindest wäre es ein Beweis höchster Kunstfertigkeit, wenn Bernini der von Michelangelo entwickelten Leidensformel ein antikes Vorbild integrierte“ (Schulze 1993, S. 236).
Torso vom Belvedere, Skulptur des Apollonios von Athen, 1. Jh. v.Chr.; Rom, Vatikanische Museen
Eine Künstleranekdote behauptet, Michelangelo habe vor der Qualität des Torso vom Belvedere kapituliert und seine Ergänzung verweigert. Bernini verknüpft nun dieses Idealbild menschlicher Körpergestalt mit den von Michelangelo erarbeiteten Bildformeln für physisches Leid und Tod und überführt die antike Thematik in eine christliche. Seine Absicht ist offensichtlich: Er will sowohl Antike wie auch Michelangelo, überbieten und seine Überlegenheit belegen, indem er beide Bilderfindungen in seiner eigenen Konzeption verschmelzen lässt. 

Literaturhinweise
Cassirer; Kurt: Eine Replik des Barberinischen Fauns. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 7 (1912), S. 90-97;
Kauffmann, Hans: Giovanni Lorenzo Bernini. Die figürlichen Kompositionen. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1970, S. 24-29; 
Schmitt, Berthold: Giovanni Lorenzo Bernini. Figur und Raum. Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 1997, S. 34-39;
Scholten, Frits: Gian Lorenzo Bernini, Hl. Sebastian. In: Gudrun Swoboda/Stefan Weppelmann, Caravaggio & Bernini. Entdeckung der Gefühle. Hannibal Publishing, Veurne 2019, S. 175;
Schulze, Sabine: Zwischen Innovation und Tradition. Berninis Apoll und Daphne. In: Städel-Jahrbuch 14 (1993), S. 231-250;
Schütze, Sebastian: Kardinal Maffeo Barberini, später Papst Urban VIII., und die Entstehung des römischen Hochbarock. Hirmer Verlag, München 2007, S. 209-224.

(zuletzt bearbeitet am 23. Juli 2024)