Samstag, 16. Februar 2013

Da kriegst du doch‘n Horn! – Rembrandts Berliner „Mose“


Rembrandt van Rijn: Mose zerbricht die Gesetzestafeln (1659); Berlin, Gemäldegalerie
Nachdem Mose von Gott auf dem Berg Sinai die beiden Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten empfangen hat und danach wieder herabsteigt, muss er mitansehen, wie das Volk Israel das Goldene Kalb anbetet: „Als Mose aber nahe zum Lager kam und das Kalb und das Tanzen sah, entbrannte sein Zorn, und er warf die Tafeln aus der Hand und zerbrach sie unten am Berge“ (2. Mose 32,19; LUT). Rembrandts Gemälde von 1659 aus der Berliner Gemäldegalerie zeigt den Moment, in dem Mose die beiden Gesetzestafeln emporhebt, um sie zu zerschmettern. Eingefasst von den emporgereckten Armen und den dunklen Steinplatten – auf der vorderen stehen in hebräischen Schriftzügen die letzten fünf der Zehn Gebote –, bildet sein erleuchtetes Haupt das Zentrum der Komposition.
Die Kunsthistoriker haben viel darüber diskutiert, ob Rembrandt nicht vielleicht doch Mose mit den neuen Tafeln darstellt, von deren zweiter Ausfertigung in 2. Mose 34 berichtet wird. Doch für Rembrandt ist es nicht unüblich, dass er ein weiteres Ereignis (ein früheres oder ein späteres) in seine Darstellung einbezieht. Denn in Verbindung mit den neuen Tafeln heißt es in 2. Mose 34,29 (LUT): Moses Antlitz „glänzte, weil er mit Gott geredet hatte“. Und so tritt Mose auf Rembrandts Gemälde auch vor uns: Sein mehr betrübt-sorgenvolles als ergrimmtes Gesicht ist von göttlichem Licht erhellt. Durch das leuchtende Gesicht, erzeugt durch dick aufgetragenes Bleiweiß, erweist sich Mose als der von Gott Erwählte. Rembrandt übernimmt außerdem die Bildtradition des „gehörnten Mose“ (siehe meinen Post „Der Moses des Michelangelo“), wandelt sie aber naturalistisch um, indem er die Hörner in zwei Haarbüschel auf seinem Kopf umformt.
Rembrandt hat seinen Mose in einem steilen, flachen Raum angesiedelt. Die Figur, lebensgroß in Dreiviertelansicht und unmittelbar am vorderen Bildrand präsentiert, ist praktisch monochrom in einem gelblichen Braun gehalten, als sei sie aus dem Stein herausgewachsen. Mose trägt ein weißes Gewand, auf dem jedoch ein großer Schatten liegt. Die Ärmel sind etwas herabgerutscht und legen die Handgelenke frei, der rechte Ellenbogen und die Beuge des linken Arms leuchten, vom Licht getroffen, hell auf. Ein dunkler Mantel beschwert die Schultern des bärtigen Mannes und bläht sich hinter ihm auf. Auf Moses rechter Seite liegt der Umhang fest und schwarz auf der Schulter und korrespondiert mit den Tafeln. (...) Auf der linken Schulter ist der Mantel bereits umgeschlagen und zeigt die Farbe des wallenden Stoffes, der sich auf äußerst irritierende Weise farblich mit dem Hintergrund assoziiert. Die motivische Konsistenz des Mantels ist aufgelöst, um sich förmlich in einen Felsbrocken zu verwandeln“ (Suthor 2014, S. 121).
Mose wird von einem räumlich flach angelegten Bergmassiv hinterfangen; der Höhenzug ist nur in groben Pinselzügen umrissen, „der hellockerfarbene Malgrund schlägt durch und bestimmt die koloristische Wirkung des Gemäldes“ (Suthor 2014, S. 114). Für Nicola Suthor macht es durchaus Sinn, dass Rembrandt darauf verzichtet hat, die Landschaft auszuarbeiten, und sie stattdessen flächendeckend „glühen“ lässt: „Die aktive Kraft des Berges die Bibel beschreibt ihn als Vulkan , wo Gott sich Moses zeigte, mit ihm kommunizierte und ihn schließlich entsendete, wird anschaulich. Die goldgelbe Farbe des Hintergrunds ist signifikanterweise auch für den Auftrag der hebräischen Schrift benutzt“ (Suthor 2014, S. 121/122). Die goldene Farbe der Lettern verzahnt die Tafeln mit dem heiligen Berg, der hinter der Gestalt des Mose aufragt. „Und dessen Körper ist diesem goldenen Grund derart verbunden, dass es erscheint, als würde er sich diesem quasi entwinden, um für den Betrachter Präsenz zu gewinnen: er ist als Medium Gottes inszeniert, dessen mächtige Anwesenheit sich im Leuchten des heiligen Berges zeigt“ (Suthor, S. 128). Anders ausgedrückt: Mose tritt in seiner Umgebung optisch zurück, wird geradezu durchlässig für den glühenden Berg, während sich die Gesetzestafeln als schwarze Flächen blockhaft abheben. Rembrandt macht auf diese Weise visuell erkennbar, dass der Anführer der Israeliten dem Wort Gottes untergeordnet ist.
Die Figur des Mose reckt sich in starker Untersicht empor und ist auf Fernwirkung angelegt; offensichtlich war das Gemälde für einen Raum mit großzügigen Abmessungen gedacht. In seinem heutigen Zustand macht das Gemälde einen stilistisch heterogenen Eindruck. Einerseits sieht man, besonders im Hintergrund und an den Händen, sehr skizzenhafte, wenig modellierte und überwiegend durchscheinend ausgeführte Partien. Andererseits fallen die sehr viel plastischer und detailreicher ausgearbeiteten Teile auf, wie z. B. die Gesetzestafeln und die Ärmel des Mose bis zu den Ellenbogen. Es ist deswegen vermutet worden, dass der Berliner Mose „unvollendet“ blieb und einzelne Elemente möglicherweise von einer späteren Hand ausgeführt wurden. Die Annahme wiederum, dass Gemälde sei am unteren Rand beschnitten worden, hat sich nicht bestätigt: Eine Röntgenaufnahme zeigt an allen vier Seiten Markierungen durch den Keilrahmen.
Rembrandt van Rijn: Belsazars Gastmahl (1635); London, National Gallery
Rembrandt hat das Hebräische auf den Schrifttafeln, von einem fehlenden Buchstaben abgesehen, korrekt wiedergegeben – vemutlich hat der Maler dabei die Hilfe jüdischer Freunde in Anspruch genommen, genau wie für die hebräische Inschrift in Belsazars Gastmahl aus der Londoner National Gallery (siehe meinen Post Ein König kriegt die Quittung“).
Rembrandt van Rijn: Jakob ringt mit dem Engel (1659); Berlin, Gemäldegalerie
Rembrandts Mose ist immer wieder mit seinem Bild Jakob ringt mit dem Engel in Verbindung gebracht worden (siehe meinen Post Showdown am Jabbok“). Die beiden Gemälde haben zwar unterschiedliche Abmessungen, aber die Abweichungen könnten sich daraus erklären, dass der Jakob rundum beschnitten wurde. Auf diese Weise ist z. B. die Signatur an den unteren Rand gerutscht, während sie beim Mose etwas höher sichtbar wird. Auf jeden Fall sind die Ähnlichkeiten verblüffend: Die Proportionen der Figuren, der breite Pinselstrich, die zurückhaltende Farbgebung wie auch die Art und Weise, in der die Figuren am unteren Rand angeschnitten werden, stimmen auffälllig überein.

Literaturhinweise
Brown, Christopher u.a.: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt, Ausstellungskatalog Berlin, Gemäldegalerie SMPK im Alten Museum, München u.a. 1991; S. 272-274;
Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Rembrandt – Genie auf der Suche. DuMont Verlag, Köln 2006, S. 384;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 621-623;
Suthor, Nicola: Rembrandts Rauheit. Eine phänomenologische Untersuchung. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014, S. 113-130;
Tümpel, Christian (Hrsg.): Im Lichte Rembrandts. Das Alte Testament im Goldenen Zeitalter der niederländischen Kunst. Ausstellungskatalog Münster, Westfälisches Landesmuseum u.a., Zwolle 1994;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 

(zuletzt bearbeitet am 3. April 2021)

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