Filippo Brunelleschi: Findelhaus (1419-1445), Florenz |
Den Auftrag für das Ospedale degli Innocenti („Haus der unschuldigen Kinder“), bekannt
als Findelhaus, erhielt Filippo
Brunelleschi (1377–1446) 1419 von der Seidenhändlerzunft, deren Mitglied er seit
1404 war und die in Florenz über das Wohlergehen der Findlinge und Waisen
wachte. Bis 1427 hatte Brunelleschi die Bauleitung inne, 1445 wurde das Findelhaus geweiht. Was bei der bereits
von mir vorgestellten Kirche Santo
Spirito zu beobachten ist (siehe meinen Post „So harmomisch wie der Kosmos selbst“), gilt auch für das Findelhaus:
Der Architekt hat den Bau nicht vollendet, und seine Nachfolger haben
entstellende Eingriffe in die ursprüngliche Konzeption vorgenommen.
Kleiner Portikus im Verhältnis zur Gesamtanlage mit großer Wirkung |
Der Gebäudekomplex besteht aus einer offenen
Vorhalle; ihr folgt ein von zwei quadratischen Räumen flankierter Flur, der
sich auf der rückwärtigen Seite fortsetzt. Er wird unterbrochen von einem
quadratischen, von Arkaden umgebenen Innenhof, an den sich an der Nordseite die
Kirche und an der Südseite der Krankensaal anschließen. Beide Räume haben einen
direkten Zugang zur Vorhalle. Im rückwärtigen Trakt befinden sich kleinere
Versorgungsräume.
Den wichtigsten Teil des Gebäudes, sein
Herzstück sozusagen, bildet aber ohne Frage die offene Vorhalle. Der Blick auf
den Grundriss lässt erkennen, wie klein dieser Portikus im Verhältnis zur
Gesamtanlage ist. Dennoch bestimmt er die Fassade, die „Schauseite“, an der der
Haupteingang liegt. Die Vorhalle besteht aus einem 71 Meter langen Arkadengang,
der aus neun Jochen mit quadratischem Grundriss gebildet wird. Die neun breiten
Rundbögen liegen zur Straße hin auf schlanken, glatten Säulen mit korinthischem Kapitell
und zur Außenwand des Hauptbaus auf Kragstücken. Die Rundbögen sind als volle
Halbkreise ausgeführt. Der Bogen über Rundsäulen ist ein Hauptmotiv
Brunelleschis und zugleich eines, das er in die Architektur der Renaissance
einführt. Wie bei einem römischen Tempel erstreckt sich über die gesamte Breite
der Vorhalle eine Treppe mit neun Stufen, die sie zum Platz hin öffnet.
Zwei der „Wickelkinder“ von Andrea della Robbia in den Bogenzwickeln |
Das obere Stockwerk des Findelhauses zeigt kleine rechteckige Fenster mit Giebelabschluss,
die über den Scheiteln der Bögen sitzen. Der Rhythmus unten wird auf diese
Weise oben wieder aufgenommen. Ein abgestufter Architrav trennt die beiden
Stockwerke. In den Bogenzwickeln sind seit 1487 blau-weiß glasierte Terrakotta-Medaillons
von Andrea della Robbia (1435–1525) angebracht, die sogenannten „Wickelkinder“.
Wäre es allerdings nach dem Architekten gegangen, hätten die Rundbilder leer
bleiben müssen. Ihre Wirkung wäre dann vergleichbar mit Masaccios gemalter
Architektur in seinem berühmtem Trinitäts-Fresko (Santa Maria Novella,
Florenz; siehe meinen Post „Großer Auftritt der Zentralperspektive“). „Als Architekt ist Brunelleschi Purist“ (Gärtner 1998, S. 30). Das
gilt auch für die Wände und Gewölbe: Sie waren ganz ohne Fresken, nur verputzt
und weiß gestrichen. Lediglich Bauteile aus hellgrauem Sandstein akzentuierten
die verputzten Flächen.
Masaccio: Trinität (um 1425-1427); Florenz, Santa Maria Novella |
Brunelleschis ursprüngliche Planung für die Vorhalle |
Brunelleschis Nachfolger als Bauleiter war
Francesco della Luna. Besonders bedauerlich sind die Veränderungen, die della
Luna an der Fassade des Findelhauses vornahm.
Brunelleschi hatte als seitlichen Abschluss je ein kanneliertes Pilasterfeld vorgesehen; sein
Nachfolger fügte jedoch rechts ein zweites hinzu und durchbrach damit die
angestrebte Symmetrie. Außerdem ließ della Luna den Architrav an den äußeren
Pilastern umbrechen und führte ihn bis zum Sockel hinab. Der dritte Eingriff
betrifft das Obergeschoss: Es ist zu wenig ausgebildet; außerdem fehlen die
beiden Pilaster, die die äußeren Fenster von der Fassadenmitte abheben sollten.
Durch diese Wandpfeiler hätten die des Untergeschosses eine Fortsetzung
gefunden. In der jetzigen Form sind die abschließenden Pilasterfelder etwas
breiter als die offenen Arkaden; dadurch rücken die beiden äußeren Fenster
links und rechts von den inneren ab.
Rückgriff auf antike Bauformen: die korinthische Säule |
Ohne Frage benutzt Brunelleschi antike Motive
für seinen Bau wie die Ädikula-Rahmung der Fenster und die korinthischen
Säulen. Dennoch unterscheidet sich seine Loggia durch die Schlankheit der
Säulen und die Weite der Joche von antiken Bauwerken, zum Beispiel den
Bogengängen des Kolosseums in Rom. Als Anregung hat Brunelleschi auch Architektur
aus dem 11. und 12. Jahrhundert gedient, allen voran das Florentiner
Baptisterium, an dem Vorbilder für die Fensterform zu finden sind. Mit der
Vorhalle des Findelhauses brach
Brunelleschi so radikal mit der herkömmlichen Bauweise, dass schon damals von
einem ganz neuen Stil gesprochen wurde, der sich deutlich von dem der Gotik abhebt.
Brunelleschi entdeckte die Säule wieder, den Rundbogen, die Wandfläche und fand
zu einer neuen Klarheit und Einfachheit.
Zwischen 1516 und 1525 schuf der Architekt
Antonio da Sangallo d.Ä. dem Findelhaus gegenüber für die Bruderschaft des Servitenordens eine Säulenvorhalle, und
zwischen 1599 und 1601 entstand neben dem Findelhaus
die Säulenhalle der Kirche Santissima Annunziata. Sie umschließen gemeinsam
den Platz, der durch sie gebildet wird. Brunelleschi hatte diese Piazza – die erste
der für die Renaissance so bedeutenden Platzanlagen – von Anfang an so geplant: Ihre
Achse bezog sich über die Via dei Servi auf die Mitte der Domkuppel.
Die erste Platzanlage der Renaissance: die Piazza Santissima Annunziata |
Die innocenti,
die Findelkinder, konnten heimlich in die pila
gelegt werden, eine Art Kelch aus Stein, der auf der Loggia aufgestellt worden
war. 1660 wurde die pila durch die torna ruota ersetzt, einen drehbaren,
halb offenen Holzzylinder in einer Tür der Loggia, der bis 1875 in Betrieb
blieb. Nach dem Läuten der daneben angebrachten Glocke wurde von innen die Lade
umgedreht und das Kind herausgenommen. Man versorgte die Kinder im Findelhaus, bis sie sieben oder acht
Jahre alt waren – dann mussten sie arbeiten.
Glossar
Ädikula: Rahmung von Portalen, Fenstern oder Nischen mittels zweier Säulen, Pfeiler oder Pilaster, die ein Gebälk und einen Dreicks- oder Segmentbogengiebel tragen.
Architrav:
auf Stützen (z. B. Säulen) aufliegender, tragender Hauptbalken.
Loggia: offener, von Säulen
oder Pfeilern gestützter Bogengang (oder Bogenhalle).
Kannelierung: Auskehlung einer Säule, eines Pfeilers oder eines Pilasters mit senkrechten, konkaven Furchen.
Kannelierung: Auskehlung einer Säule, eines Pfeilers oder eines Pilasters mit senkrechten, konkaven Furchen.
Pilaster:
rechteckiger, zumeist nur wenig vorspringener Wandpfeiler mit Basis, Schaft und
Kapitell, der die Wandfläche gliedert; oft kanneliert, d. h. mit senkrechten
Rillungen am Schaft versehen.
Portikus:
meist offener Vorbau eines Gebäudes, von Säulen oder Pfeilern getragen.
Zwickel:
dreiseitig begrenztes Flächenstück; Zwickel ergeben sich beispielsweise aus der
rechteckigen Umrahmung von Bögen (Bogenzwickel) oder bei Kuppelbauten in der Überleitung
von quadratischem Grundriss zur Rundung der Kuppel (Hängezwickel).
Literaturhinweise
Engelberg, Meinrad von: WBG Architekturgeschichte. Die Neuzeit 1450 – 1800. Ordnung – Erfindung – Repräsentation. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013, S. 93-97;
Frommel, Christoph Luitpold: Die Architektur der Renaissance. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 16-18;
Frommel, Christoph Luitpold: Die Architektur der Renaissance. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 16-18;
Gärtner, Peter
J.: Filippo Brunelleschi 1377–1446. Könemann Verlag, Köln 1998, S.
28-35;
Markschies, Alexander: Brunelleschi. Verlag C.H. Beck, München 2011, S. 61-73;
Muscheler, Ursula: Wiedergefundene Klarheit. Das
Findelhaus in Florenz (1419-1445). In: Ursula Muscheler, Sternstunden der
Architektur. Von den Pyramiden bis zum Turmbau von Dubai. Verlag C.H. Beck,
München 2009, S. 114-123.(zuletzt bearbeitet am 26. Oktober 2018)
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