Dienstag, 17. Dezember 2024

Ganz Erbarmen und Vergebung – Rembrandts Radierung von der „Heimkehr des verlorenen Sohnes“ (1636)

Rembrandt: Heimkehr des verlorenen Sohnes (1636); Radierung
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Wie viele Künstler vor und nach ihm hat auch Rembrandt (1606–1669) das berühmte biblische Gleichnis (Lukas 15,11-32) bildlich umgesetzt. In einer bewegenden Radierung von 1636 illustriert er die Textstelle, an der es heißt: „Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn“ (Lukas 15,20; LUT). Doch anders als in der neutestamentlichen Erzählung ist der Sohn jedoch bereits an der Türschwelle des Elternhauses angelangt, als der Vater ihn empfängt. Die große Spannbreite seines Schrittes zeigt, wie eilig er es hatte, seinem Sohn entgegenzulaufen. „Die Art, wie er sich über seinen Sohn beugt und ihn umarmt, drückt aus, dass er ihn am liebsten daran gehindert hätte, auf die Knie zu fallen, und ihn möglichst schnell wieder aufrichten will“ (Kreutzer 2003, S. 126).

Dirck Volckertsz. Coornhert nach Maarten van Heemskerck:
Rückkehr des verlorenen Sohnes (um 1548); Kupferstich

Rembrandt hat sich bei seiner Radierung eng an einen älteren Kupferstich von Dirck Volckertsz. Coornhert nach Maarten van Heemskerck aus der Zeit um 1548 angelehnt – in der Hauptgruppe, im Szenarium und selbst in den Nebenepisoden, die das noch folgende, zur Feier der Heimkehr ausgerichtete Mahl und die Klage des älteren Bruders andeuten. In der Vorlage sieht man den bärtigen Vater an der Pforte seines Hauses die Treppen hinabeilen, um den als reuigen Sünder heimgekehrten Sohn, der vor ihm niederkniet, zu sich emporzuheben. Hinter ihnen stehen im Hauseingang drei Gestalten, darunter ein Bärtiger, der auf einen nur ausschnitthaft sichtbaren bartlosen Mann weist. Wahrscheinlich ist damit der ältere Sohn gemeint, der sich bei seinem Vater beklagen wird, dass um den Zurückgekehrten so viel Aufhebens gemacht werde, während er treu gedient und geschuftet habe, leer ausgehe. Am linken Bildrand erkennt man unter einem Torbogen in der Ferne das Mastkalb, das für das Fest geschlachtet werden soll.

Rembrandt übernimmt zwar viele Elemente der Komposition, verändert aber den Raumausschnitt, vor allem aber gestaltet er das Wiedersehen deutlich emotionaler: Der verwahrloste, völlig zerknirschte Sohn hat die Arme, inbrünstig um Verzeihung bittend, erhoben, der Vater, ganz Erbarmen und Vergebung, hat ihn bereits in die Arme geschlossen. Die beiden bilden eine geschlossene Gruppe; sie sind formal in ein gleichmäßiges Dreieck eingeschrieben und werden von einer dicken Mauer hinterfangen. Doch sind die beiden Gestalten nicht statisch dargestellt, sondern inmitten eines Bewegungsablaufs: Der Sohn, dessen von Hunger ausgezehrten Körper Rembrandt realistisch wiedergibt, ist auf den Treppenstufen auf die Knie gefallen, während der Vater sogleich zu ihm hineilt, ihn mit der Rechten umarmt und ihn mit seiner Linken wieder aufrichten will. Der Fokus von Rembrandts Grafik liegt ganz auf den Gesichtern der beiden Hauptpersonen.

Eine Magd hat das Fenster geöffnet, um das Geschehen vor dem Hauseingang zu verfolgen Zwei Knechte eilen im Inneren eine Treppe herab: Auf Geheiß des Vaters tragen sie – anders als bei van Heemskerck – Ring, Schuhe und Gewand für den barfüßigen Sohn herbei, der bis auf ein umgebundenes Tuch gänzlich nackt ist. Das Motiv des weit ausschreitenden Vaters, dessen erhobener Fuß in den Pantoffeln sichtbar wird, hat Rembrandt wiederum der Vorlage von van Heemskerck entlehnt.

Der Augenpunkt der Betrachtenden befindet sich, bedingt durch die Treppenkonstruktion, unterhalb der Szene, der wir direkt gegenüberstehen. Der Wanderstab, den der Sohn neben sich abgelegt hat, verweist darauf, dass er aus der weiten Welt zurückgekehrt ist, und zwar nicht nur auf einer Symbolebene, sondern auch bildlich, da er nach hinten über den Knienden hinausragt und den Blick auf die tiefer liegende Landschaft lenkt, die durch den Torbogen im linken Bilddrittel sichtbar wird. „Daß die Landschaft in Rembrandts Radierung so tief liegt, dürfte ein Hinweis darauf sein, daß der Sohn in dieser weiten Welt auf dem Tiefpunkt seines Lebens angelangt war: Als Schweinehirt – auch als solchen zeichnet der Stab ihn aus – mußte er fremden Herren dienen“ (Stückelberger 1996, S. 130).

Auch das Kleingedruckte hat Gewicht bei Rembrandt

Der Ausblick in die hügelige Landschaft links ist nur skizzenhaft angedeutet, wodurch Rembrandt den Effekt grellen Sonnenscheins erzielt. In dieser Landschaft finden wir gleichzeitig einen Hinweis auf den Fortgang der Geschichte, und zwar in dem Hirten, der die Rinder hütet. Auch er ist nicht bloß Staffage – die Figur muss mit dem Geschehen zu tun haben, denn Rembrandt setzt sie mit dem heimkehrenden Sohn bildlich in Beziehung: Der kurze Schatten, den dessen Wanderstab auf die Treppe wirft, weist zusammen mit der Plattenfuge, die ihn nach rückwärts verlängert, genau auf den Hirten. Nun muss man allerdings die Geschichte kennen, um diesen als den Bruder zu identifizieren, der – vom Feld zurückgekehrt – das Verhalten des Vaters missbilligen wird. „Das Bild sagt uns aber doch soviel, daß die Rückkehr des verlorenen Sohnes einen Schatten wirft, der mit jenem Hirten zusammenhängt“ (Stückelberger 1996, S. 130). Der ältere Bruder ist eine entscheidende Figur innerhalb des Gleichnisses, denn seine Reaktion zeigt, dass die Barmherzigkeit des Vaters – mit dem ohne Zweifel Gott gemeint ist –, der den Sünder ohne Vorhaltungen und freudig wieder aufnimmt, für den Menschen unbegreiflich sein muss. „Denn Gottes Gnade, so verdeutlicht das Gleichnis, ist unverhältnismäßig. Sie verhält sich weder proportional zu den Taten der Menschen noch lässt sie sich erzwingen“ (Müller 2017, S. 194).

Eine Signatur als Statement

Genau über dem Knauf des Wanderstabs und fast mittig unter dem Figurenpaar von Vater und Sohn hat Rembrandt sein „Rembrandt f. 1636“ angebracht. „Die Signatur an einer derartig zentralen Stelle im Bild unterstreicht vielleicht die Bedeutung des Themas für Rembrandt, die mit einer Sympathie für die aus der Gesellschaft Ausgestoßenen einherging und als die die Bettler, die Rembrandt in Figurenstudien häufig abbildete, ebenfalls zu interpretieren sind“ (Kreutzer 2003, S. 126).

Rembrandt: Kreuzigung (1635); Radierung
Rembrandt: Enthauptung Johannes des TÄufers (1640); Radierung

Die Gestalt des büßenden Sohnes kommt als Typus eines männlichen Aktes, an dessen Körper Strapazen und Entbehrungen sichtbar sind, begegnet in Rembrandts gesamter Schaffenszeit. So stellen z. B. der Christus in der Kreuzigung von 1635 oder die Enthauptung Johannes des Täufers von 1640 den gleichen Figurentyp dar.

Rembrandt: Heimkehr des verlorenen Sohnes (um 1666/69); St. Petersburg, Eremitage

Wenige Jahre vor seinem Tod hat Rembrandt das Gleichnis vom verlorenen Sohn nochmals in einem großformatigen Gemälde umgesetzt – es ist das berühmte Bild aus der Eremitage in St. Petersburg. Rembrandt hat ein Hochformat gewählt, und Vertikale bestimmen auch die Bildstruktur. Die steile Gruppe von Vater und Sohn wird von einer dunklen Toröffnung hinterfangen und durch den Torbogen bekrönt. Aus dem Eingang des Hauses lugen Frauenköpfe hervor, die aber ganz in Dämmerlicht gehüllt sind. Die Arme des Vaters bilden eine Rautenform, die den Kopf des reuigen Sünders wie einen Schutzwall umschließt. Die Szene der Umarmung hat aber noch mehr Augenzeugen: Neben einem im Halbdunkel Sitzenden ragt die Gestalt eines bärtigen Mannes in die Höhe, dessen Antlitz hell beleuchtet ist. Es kann wohl nur der ältere Bruder gemeint sein.

 

Literaturhinweise

Kreutzer, Maria: Rembrandt und die Bibel. Radierungen, Zeichnungen, Kommentare. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2003, S. 126;

Müller, Jürgen: Die Rückkehr des verlorenen Sohnes (1636). In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 194;

Sevcik, Anja K. (Hrsg.): Inside Rembrandt 1606 – 1669. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2019, S. 269;

Stückelberger, Johannes: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900. Wilhelm Fink Verlag, München 1996.

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.


Mittwoch, 4. Dezember 2024

Auf kleinem Format groß rauskommen – Albrecht Dürer porträtiert Elsbeth Tucher


Albrecht Dürer: Bildnis der Elsbeth Tucher (1499); Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister
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Elsbeth Tucher gehörte im ausgehenden 15. Jahrhundert zu einer der mächtigsten und angesehensten Familien Nürnbergs. Dass Albrecht Dürer (1471–1528) mehrere Mitglieder dieses wohlhabenden Patriziergeschlechts porträtierte, belegt den künstlerischen Ruf, den er sich damals in seiner Heimatstadt bereits erworben hatte. Sein Bildnis der Elsbeth Tucher gehört zu den bekanntesten Porträts der deutschen Renaissance – denn von 1961 bis 1992 zierte ihr Kopf den 20-DM-Schein der Bundesrepublik Deutschland. Die grafische Version gibt Dürers malerische Vorlage recht originalgetreu wieder; künstlerische Freiheiten erlaubte sich der Grafiker allein in dem beidseitig über die Schultern herabfallenden Tuch und der plastischen Stickerei des Haubenornaments.

Weder der Name des Künstlers noch der der Porträtierten wurde auf der Banknote erwähnt

Dürer konzentriert sein Porträt der Elsbeth Tucher in einem engen Bildausschnitt auf Kopf und Büste, die rechts von einem Brokatvorhang mit Granatapfelmuster und links von einem Landschaftsausblick hinterfangen werden. Die Räumlichkeit ist wenig definiert: Wo in vergleichbaren Bildkompositionen ein Wandvorsprung oder eine Steinkante den Übergang zwischen einer Fensteröffnung und einer stoffbespannten Fläche im Innenraum anzeigen, bricht das Textilmuster des Kasseler Porträts abrupt ab. „Es bleibt somit ungewiss, ob es sich hierbei um eine textilverhüllte Wand oder eine herabhängende, womöglich einen Teil der Fensteröffnung verhüllende Stoffbahn handelt (Carrasco 2018, S. 35).

Trotz des relativ kleinen Bildformats (29 x 23 cm) entwickelt Elsbeth eine fast monumentale Präsenz: „Über dem sockelartigen Dreieck aus Hals und herabfallenden Schultern erhebt sich der durch die mächtige Haube groß wirkende Kopf geradezu statuarisch und nimmt, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehend, ein Drittel des Bildes ein“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 86). Da eine grenzstiftende Brüstung fehlt, wirkt die Figur unmittelbar an den Betrachter herangerückt. Das schmal zulaufende Gesicht, das von einem energischen, knochig hervortretenden Kinn mit Grübchen abgeschlossen wird, und die ausgeprägten, hohen Wangenknochen „legen in ihrer Eigenart ebenso wie der lange, schmale Hals und die stark abfallenden Schultern eine präzise Beobachtung und Erfassung des Modells durch den Künstler nahe“ (Carrasco 2018, S. 33). Den Namen der Dargestellten hat Dürer rechts oben auf dem Vorhang platziert: „ELSPET NICLAS TUCHERIN 26 ALT 1499“.

Gesicht und Blick sind nach links gerichtet. Die 26-jährige Elsbeth wendet sich nämlich ihrem Ehemann Nikolaus Tucher zu, der auf dem verschollenen linken Flügel des Ehepaar-Diptychons zu sehen war. Vom unteren Bildrand überschnitten, sind nur die Spitze ihres Daumens, des Mittel- und Ringfingers der rechten Hand sichtbar, die einen Goldring mit rot-schwarzen Steinen hochhalten. Vermutlich handelt es sich um den Trauring, der auf den Hochzeitstag verweist. Elsbeth trägt ein grünes Kleid mit Goldbordüre, darunter ein kostbares weißes Untergewand mit schlangenförmigen Stickereien, dem die Buchstaben „WW“ eingewebt sind.  Eine breite goldene Kordel oder Kette verschwindet an den Schultern unter dem Ziersaum des reich gefältelten Hemdes. Das Kleid wird von einer Goldbrosche mit den Buchstaben N und T gehalten, den Initialen ihres Mannes. „Das hierfür verwendete Blattgold reflektiert auf der technischen Ebene die Kostbarkeit des dargestellten Schmuckes“ (Carrasco 2018, S. 34).

Die Weiß in Weiß gewebte, mit ovalen Mustern versehene Haube hält ein goldenes Stirnband, das mit der bunten – bis heute nicht erklärbaren – Buchstabenreihe M H M N S K verziert ist. Es handelt sich sehr wahrscheinlich um eine abgekürzte Devise, also einen Wahlspruch des bzw. der Porträtierten. Devisen dieser Art geben dem heutigen Betrachter zumeist Rätsel auf, zu ihrer Zeit „müssen die Buchstabenfolgen jedoch verständlich gewesen sein: entweder als allgemein bekannte Aussprüche, die problemlos zu entschlüsseln waren, oder aber als persönliche Aussagen von privatem Charakter, die nur von einem exklusiven Rezipienten(kreis) verstanden werden konnten oder sollten(Carrasco 2018, S. 66).
Das dünne weiße Tuch von Elsbeths Haube, das weich in die Stirn fällt und über der Schulter liegt, umfasst das Haar in einem glatten, runden Gebilde. Wie es sich damals für eine verheiratete Frau gehört, ist es von der Haube vollends verdeckt. Es handelt sich um das traditionelle „Steuchlein“, bestehend aus der wulstartigen, rückseitig flachen und hier mit hellem Gitterornament verzierten Unterhaube, einer Zierborte, der sogenannten Pleide, und dem darüberliegenden Schleiertuch, das im Nacken gebunden ist und dessen langes Ende über die linke Schulter fällt. Über der Stirn hängt das zarte, fast transparente Gewebe leicht gekräuselt ins Gesicht, dessen kantige Formen es in wirkungsvollem Gegensatz einrahmt.  
Antlitz und Gewand wurden von Dürer in sorgfältiger Feinmalerei ausgeführt, der Brokatbehang und die Landschaft – der Fensterausschnitt zeigt ein bewaldetes Areal vor fernen Bergen und unter einem bewölkten Himmel – „wirken dagegen eher summarisch, sind stärker zeichnerisch belassen“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 86). Der Tiefenzug dieser Landschaft mit ihrer aufsteigenden Wald- und Bergkette (deren Diagonale eine Fortsetzung von Elsbeths rechter Schulterlinie bildet) zieht den Blick des Betrachters weiter nach links zum inzwischen verlorenen Bildpendant des Ehemannes.
Albrecht Dürer: Bildnis des Hans Tucher (1499); Weimar, Kunstsammlungen
Albrecht Dürer: Bildnis der Felicitas Tucher (1499); Weimar, Kunstsammlungen
Parallel zu dem Ehepaar-Doppelbildnis von Nikolaus und Elsbeth Tucher entstand 1499 ein weiteres, und zwar von seinem Bruder Hans Tucher und dessen Frau Felicitas, das sich heute in den Weimarer Kunstsammlungen befindet. Die beiden Diptychen sind kompositorisch eng aufeinander abgestimmt: Auch hier sind die Porträtierten als Brustbilder im Dreiviertelporträt und in sehr knappem Bildausschnitt dargestellt. Dürer zeigt uns ebenfalls nur einige Finger der rechten Hand, die eine Blume bzw. einen Ring halten, und wir sehen wiederum im Hintergrund einen Stoffbehang mit Granatapfel-Muster auf der einen und einen Landschaftsausblick hinter einer Steinbrüstung auf der anderen Seite. 
Die Nelke in den Fingern der Felicitas Tucher korrespondiert als Zeichen ehelicher Verbundenheit mit dem Treuering ihres Mannes, dessen Blick sie jedoch nicht erwidert – ihre Augen sind vielmehr auf den Betrachter gerichtet. In Kleidung und Schmuck gleicht Felicitas Erscheinung der ihrer jüngeren Schwägerin Elsbeth; sie unterscheidet sich jedoch von ihr in Details wie dem gestreiften Haubenornament, dem schwarz gemusterten Hemdsaum und der feingliedrigen Kette sowie den Initialen „H T“ des Heftleins. Analog zur Inschrift des Kasseler Bildnis sind auf den Oberkanten beider Tapisserien in goldener Frakturschrift Name und Alter der Dargestellten sowie das Bilddatum wiedergegeben.
Die Vorhänge auf diesen vier Bildnissen imitieren, so haben Vergleiche mit erhaltenen Textilien gezeigt, mit Goldfäden lancierte Stoffe oder Gewebe aus verschiedenartigen Seiden aus dem nördlichen Italien, wie sie in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hergestellt wurden. Da die Kaufmannsfamilie Tucher intensiven Handel mit Norditalien trieb, dürften die Stoffbehänge auf den Porträts „mit den Wünschen oder sogar Vorgaben der Auftraggeber zusammenhängen, da das Vorhangmotiv auf die Lebenspraxis bzw. den Beruf der Patrizierfamilie anspielt“ (Hirschfelder 2012, S. 111). Zu den Tucher-Brüdern und ihren Frauen hatte Albrecht Dürer sicherlich auch schon vor der Anfertigung dieser Bildnisse Kontakt, und zwar durch nachbarliche Nähe – wohnten sie doch am Nürnberger Milchmarkt, also unweit von Dürers Vatershaus in der Burgstraße. Die persönliche Bekanntschaft und Vertrautheit dürften die Vergabe dieser Porträtaufträge sicherlich begünstigt haben.
Dürer legte den erhaltenen Porträts in Kassel und Weimar einerseits ein einheitliches Bildschema zugrunde, individualisierte die Einzelbilder andererseits, indem er Motive, Details und den Grad der Ausführung modifizierte. Das Verhältnis aus Einheitlichkeit und Variation, das bereits das Weimarer Bildnispaar kennzeichnete, bestimmt somit ebenso die Beziehung der Diptychen zueinander.  „So vermag es hier zum einen der Individualität der Paare, zum anderen deren familiärer Zugehörigkeit visuellen Ausdruck verleihen(Carrasco 2018, S. 68). 
Wolfgang Beurer: Bildnisse eines Mannes und seiner Frau (um 1495/1500);
Frankfurt, Städel Museum
Dürer hat für die repräsentativen Tucher-Porträts auf einen Bildnistypus zurückgriffen, der bereits in den 1480er-Jahren von dem am Mittelrhein tätigen
Maler Wolfgang Beurer entwickelt worden war; der Nürnberger Künstler und Beurer waren sich wahrscheinlich persönlich bekannt. Beurers im Frankfurter Städel aufbewahrte Bildnis-Pendants (um 1495/1500) besitzen die gleiche kompositorische Bildanlage wie die Tucher-Porträts, verzichten wie diese auf eine vordere Brüstung und zeigen ebenfalls eine Tapisserie mit Granatapfelmuster. Dieses für die mittelalterliche Weberei typische Ornament erfreute sich seit dem 2. Drittel des 15. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Der Charakter des Stoffes als Luxus-Exportartikel illustrierte immer auch den Wohlstand der Porträtierten.
Michael Wolgemut: Bildnis Levinus Memminger (um 1485);
Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
Auch auf das Porträt des Levinus Memminger von der Hand Michael Wolgemuts, Dürers Lehrmeister von 1486 bis 1490, ist in diesem Zusammenhang zu verweisen. Sowohl der knappe Bildausschnitt wie auch der Fensterausblick und das Brokattuch im Hintergrund könnten von diesem Vorbild angeregt sein, ebenso die Positionierung der Figur auf der Grenze zwischen Tapisserie und Landschaft. Gestalt und Dekor der Initialen des Heftleins, das Elsbeth und Felicitas Tucher tragen, lassen außerdem eine formale Ähnlichkeit mit den prominent platzierten Goldbuchstaben des Memminger-Porträts und deren floral-ornamentalen Einfassungen erkennen. Schließlich bildet auch die rätselhafte Buchstabenfolge eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den Bildnissen von Lehrer und ehemaligem Schüler.
Die Ähnlichkeiten bzw. Übereinstimmungen zwischen Wolgemuts Bildnissen und Dürers Tucher-Porträts weisen die Werke des Älteren als maßgeblichen Einfluss für den jüngeren Künstler aus. Wolgemut hatte bereits 1478 bzw. 1481 die Bildnisse von Hans Tucher und Ursula Harsdörffer angefertigt, der Schwiegereltern Elsbeth Tuchers. Dürers Berufung auf denjenigen Künstler, der eine Generation zuvor bereits die Eltern seiner nunmehrigen Auftraggeber porträtiert hatte, lässt sich daher auch als Fortführung der Familientradition verstehen. Neben die individuelle Memoria, also dem persönlichen Andenken, rückt damit zugleich die Inszenierung von familiärer Identität und Zusammengehörigkeit, von Familiengedächtnis und dynastischer Kontinuität (Carrasco 2018, S. 76) in den Blick.
Eine Abweichung bildet jedoch der engere Brustausschnitt von Dürers Bildnissen, der die Büsten bereits unterhalb der Schultern beschneidet, während Wolgemuts Modelle als Halbfiguren mit sichtbaren Armen dargestellt sind. Durch die Verknappung des Ausschnitts rücken Dürers Figuren näher als bei Wolgemut an den Betrachter heran, dessen Aufmerksamkeit deswegen stärker auf das Gesicht und im Kasseler Bildnis auf dessen naturalistische Wiedergabe gelenkt wird. Durch die Prägnanz, mit der Dürer die Züge der von ihm Dargestellten erfasst, verschiebt sich die Wertigkeit des ursprünglichen Bildschemas; die Tucherin wirkt weit präsenter und beherrschender als die Gestalten der älteren Werke. Nicht zuletzt differenziert Dürer auch die Landschaft in einer neuartigen Weise, indem er sie einerseits mit weniger ablenkenden Details versieht und anderseits einen dramatischen Wolkenhimmel einführt, wie er dem stets blauen Äther des 15. Jahrhunderts noch fremd war“ (Kemperdick 2013, S. 98).
Albrecht Dürer: Selbstbildnis (1498); Madrid, Museo del Prado
Albrecht Dürer: Haller-Madonna (um 1498), Washington, National Gallery of Art
Das Motiv von Fenster und Landschaftsausblick in paralleler Anordnung hinter der Figur hatte Dürer bereits in seinem Madrider Selbstbildnis von 1498 (siehe meinen Post
Seht her, ich bin ein Künstler!“) erprobt. Dieses Schema kennzeichnet auch die Komposition der sogenannten Haller-Madonna: Mit dem Ehrentuch, das Maria dort hinterfängt wird die Kombination aus Fenster und Wandbehang als Hintergrund in Dürers Porträtmalerei eingeführt. 
Albrecht Dürer: Bildnis Oswolt Krel (1499); München, Alte Pinakothek
Albrecht Dürer: Selbstbildnis im Pelzrock (1500); München, Alte Pinakothek
Die zeitlich nachfolgenden Tucher-Bildnissen
zeigen eine solche Raumsituation wiederum  in reduzierter Form – die räumlichen Angaben beschränken sich lediglich auf eine rückwärtige Fensterbank – , die dann in dem großformatigen Porträt des Oswolt Krel nochmals variiert wird: Dargestellt ist die Halbfigur des Kaufmanns, dessen rechter Arm auf einer nicht sichtbaren Brüstung ruht, vor einem roten, offenbar textilen Fond, der die Gestalt von dem schmalen Landschaftsausblick links abschirmt. Durch den Wegfall der Fensterbank, die die Figuren der Tucher-Porträts in einem Innenraum lokalisiert, verschwimmen hier die Grenzen zwischen Innen- und Außenraum in noch stärkerem Maß. „Diese Bildnisgruppe markiert den Schlusspunkt in der Auseinandersetzung mit dem Fenstermotiv in Dürers Porträtmalerei, die nach der Zäsur des außerordentlichen Selbstbildnisses von 1500 dauerhaft zum monchromen Grund zurückkehrt“ (Carrasco 2018, S. 54; siehe meinen Post Stolze Bescheidenheit).

Literaturhinweise

Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010;

Carrasco, Julia: Albrecht Dürers Bildnis der Elsbeth Tucher. Gedächtnis, Tradition und Identität im deutschen Porträt vor 1500. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2018;

Hirschfelder, Dagmar: Dürers frühe Privat- und Auftragsbildnisse zwischen Tradition und Innovation. In: Daniel Hess/Thomas Eser, Der frühe Dürer. Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2012, S. 101-116;
Kemperdick, Stephan: „Nach mir selbst kunterfeit“. Bildnisse und Selbstbildnisse. In: Jochen Sander (Hrsg.), Dürer. Kunst – Künstler – Kontext. Städel Museum, Frankfurt am Main 2013, S. 92-100;

Richter, Kerstin: Unverwechselbar. Zur Porträt-Tradition bis 1500 in Deutschland und den Niederlanden. In: Messling, Guido/Richter, Kerstin (Hrsg.), Cranach. Die Anfänge in Wien. Hirmer Verlag. München 2022, S. 35-43.

(zuletzt bearbeitet am 5. Dezember 2024)