Donnerstag, 6. Februar 2025

Der Schmerz einer Mutter – Vesperbilder des Spätmittelalters

Pietà Roettgen (um 1350/60); Bonn, LVR LandesMuseum
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Das sogenannte Vesperbild, auch Pietà genannt (von lat. pietas, Erbarmen), gehört zu den um 1300 neu entstehenden selbständigen Andachtsbildern. Dargestellt ist eine Zweiergruppe, bei der die Mutter Jesu den liegenden oder halb aufgerichteten Körper ihres am Kreuz gestorbenen Sohnes auf dem Schoß hält. Die deutsche Bezeichnung für diesen Bildtyp ist abgeleitet von der Einteilung des Tages in Stundengebete, die den Ablauf der Passion nachvollzog. Danach fielen Kreuzabnahme und Beweinung in die Vesperstunde, nachmittags zwischen fünf und sieben Uhr.

Ihren Ursprung hat die Pietà nicht in liturgischen Zusammenhängen, sie geht vielmehr zurück auf die in der spätmittelalterlichen Mystik geübte compassio, dem Mitleiden als Ausdruck innigen Mitgefühls am Passionsgeschehen. Dabei vermischen sich die Anteilnahme am Leiden Jesu und am Schmerz seiner Mutter mit dem Schuldbewusstsein des Betrachters, der in der eigenen Sündhaftigkeit wie der aller Menschen die Ursache für die Passion Jesu erkennt – und schließlich mit der Freude über das durch den Kreuzestod vollbrachte Erlösungswerk. Es sind vor allem die Texte eines Meister Eckhart (um 1260–1328) und Heinrich Seuse (1295–1366), die dem Vesperbild den Boden bereitet haben. Neben den für die persönliche Andacht bestimmten Vesperbildern haben sich aber auch frühe, überlebensgroße Pietà-Darstellungen erhalten, die als Reliquiendepositorien dienten und wahrscheinlich auf einem Altar standen. Außerdem ist bei manchen Vesperbildern Christus abnehmbar – ein Hinweis darauf, dass solche Zweiergruppen in liturgischen Spielhandlungen benutzt wurden.

Im Gegensatz zur Kreuzabnahme wird eine Beweinung Christi in den Evangelien nicht erwähnt; sie hat sich im Spätmittelalter als eigenständiges Bildthema entwickelt, an dem mehrere Figuren beteiligt sind. Die Pietà-Darstellung reduziert dieses Motiv wiederum auf die Trauer der Mutter um ihren Sohn und schafft dabei ein archetypisches Bild menschlichen Leidens. Dabei wird vor allem der Leichnam Christi mit schonungslosem Realismus dargestellt, der die Zeichen seines Todes und der ihm vorangegangenen Peinigungen bar jeglicher Idealisierung präsentiert.

Der Körper Jesu ist meist ausgezehrt, vom Haupt mit der Dornenkrone und aus der klaffenden Seitenwunde sowie den aufgerissenen Nägelmalen an Händen und Füßen tropft und rieselt das Blut bis zu traubenartiger Verdickung (ein Verweis auf den Wein im Sakrament der Eucharistie). Es sind diese sichtbaren Zeichen der Passion und der Schmerz Mariens, die die emotionale Beteiligung des Betrachters herausfordern. Die oft drastische Ausgestaltung des Leichnams auf den spätmittelalterlichen Vesperbildern wie auch deren große Verbreitung und Beliebtheit kann sozialgeschichtlich auch mit den seit Mitte des 14. Jahrhunderts überall in Europa wütenden Pestwellen in Verbindung gebracht werden. Angesichts der allgegenwärtigen Bedrohung durch die Seuche und die von ihr verursachte hohe Sterblichkeit boten Pietà-Darstellungen in besonderem Maß die Möglichkeit zur Identifizierung.

Eines der eindrücklichsten, expressivsten Vesperbilder ist die sog. Pietà Roettgen (um 1360; Bonn, LVR LandesMuseum): Auf einem thronartigen Sitz hält Maria den ausgemergelten Leib ihres toten Sohnes, der noch die Dornenkrone trägt. Mit schmerzvollem Gesichtsausdruck beugt sie ihren leicht nach links geneigten Kopf in inniger Trauer über den treppenartig gestuften Leichnam, dessen Haupt nach hinten zurückgesunken ist. Die Proportionen der beiden Figuren sind verzerrt, die Köpfe zu groß, die Körper zu klein. Die fünf Wunden Christi, aus denen das Blut traubenförmig hervorquillt, werden dem Betrachter zur Verehrung dargeboten, entsprechend einer damaligen frommen Praxis, den „Fünf-Wunden-Gebeten“. Die Form des Vesperbildes, die die Pietà Röttgen zeigt, wird manchmal auch abgewandelt: Zeitweilig ist Christus in Leichenstarre diagonal gestreckt oder in die Horizontale gekippt. Bei dem Pietà corpusculum genannten Typus erscheint Christus kindhaft klein. Dieser Typus wird als Verbildlichung einer Rückschau Mariens von Golgatha nach Bethlehem wie auch als Vorausschau von Bethlehem nach Golgatha gedeutet.

Pietà aus Unna (um 1360); Münster, LWL-Museum
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Ein weiteres Hauptwerk unter den deutschen Vesperbildern ist die Pietà aus Unna (um 1380), die heute im LWL-Museum in Münster aufbewahrt wird. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gruppen ist sie nicht ortlos, sondern verweist darauf, dass die Beweinung Christi auf der „Schädelstätte“, d. h. Golgatha stattfindet. Offenbar wird hier der Moment unmittelbar nach der Kreuzabnahme gezeigt. Maria thront auch nicht, sondern kniet mit einem Bein inmitten von menschlichen Knochen nieder und umarmt innig den von der Totenstarre versteiften Leichnam ihres Kindes. „Die Drapierung des Mantels und seiner Säume paraphrasiert den Gedanken der Umarmung“ (Suckale 2009, S. 73). Dass Maria mit ihrem linken Fuß auf einen Schädel tritt, versinnbildlicht den Triumph Christi über den Tod durch sein das Erlösungsopfer.

Das Kopftuch Mariens ist um das von der Dornenkrone verunstaltete Haupt Jesu herumgezogen und verbindet Mutter und den deutlich kleineren Sohn. Deutlich kontrastieren das von ihrem Schmerz gezeichnete, jugendlich-schöne Gesicht Mariens, ihr weich fließendes, die beiden Figuren umhüllendes Gewand und der knochig-dürre, erstarrte Körper ihres Sohnes mit seinen wirklichkeitsnah wiedergegebenen Wundmalen. Dass Ort und Zeitpunkt des Geschehens in die Darstellung einbezogen sind sowie die Wahl eines fast lebensgroßen Formats, zielt darauf ab, dass sich der Betrachter im Geist an die Stätte der Passion Christi versetzen soll, um mit Maria seinen Tod zu beklagen und ihre Schmerzen mitzuerleiden. Als ehemaliger Aufstellungsort der Gruppe ist eine Ecke oder Nische wahrscheinlich. Dabei boten sich den Gläubigen mehrere Ansichten, die einmal den Hinweis auf die Qualen Christi, einmal auf die zärtliche Verbindung von Mutter und Sohn in den Vordergrund rückten.

Pietà (um 1390); Frankfurt, Liebieghaus
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Die Pietà des Liebieghauses in Frankfurt a.M. (um 1390) verbindet Elemente der Pietà Roettgen mit solchen der Skulptur aus Unna: Sie übernimmt von der Unnaer Gruppe die Darstellung des Ortes Golgatha mit seinen Totenschädeln, jedoch nicht den Sockel. Die unteren Partien des Marien-Mantels sind aus weich geschwungenen Schlaufenfalten zusammengesetzt. Der Bildschnitzer hat den Mantel schirmartig über den Kopf nach vorne gezogen, um so den Kopf Mariens zu verschatten. Der Leib Christi ist – gerade im Kontrast zum Körper seiner Mutter – deutlich ausgemergelt; der Unterbauch bildet eine tiefe Mulde. Die dürren, überlängten Arme hängen steif herab, aber der Leib Christi ist nicht gänzlich totenstarr. Er folgt in seiner Expressivität wie auch in der Formung des Gesichts der Pietà Roettgen. Er liegt allerdings nicht wie bei der Pietà Roettgen zweifach gebrochen quer zum Betrachter, sondern wird von Maria vorsichtig zum Betrachter hin gedreht, sodass alle Wundmale gut zu sehen sind. „Nicht die letzte leidenschaftliche Umarmung des zu Tode gemarterten Sohnes durch die Mutter ist das Thema, sondern die Präsentation des Elends zur Anteilnahme der Gläubigen und die stille Trauer der Mutter“ (Suckale 2009, S. 77). Das Zeigen des Christuskörpers erinnert außerdem an das Vorweisen der Hostie in der katholischen Messe durch den Priester. „Das verbildlicht die Vorstellung, der Leib Christi sei mit der Hostie identisch“ (Roller 2008, S. 76).

Das herabgesunkene Haupt Christi ist zugleich eine Abwendung von seiner Mutter und ein Bild der Trennung durch den Tod. Die Bluttrauben der Pietà Roettgen sind zu – immer noch plastischen – Gerinnseln geworden. Die Schmerzen haben tiefe Furchen in das Antlitz Marias und Jesu gegraben, aber Maria ist keineswegs eine verweinte alte Frau wie bei der Bonner Figur. Die Gestik ist dieselbe: Mit der rechten Hand hält sie ihren Sohn unter dessen rechtem Arm, die Linke hat sie über seinen Schoß gelegt – auf ihr ruht sein linker Arm. Mit der linken Hand hält sie außerdem ein Stück des Lendentuches. Das Holz der Statue ist stark beschädigt durch Trockenfäule und Anobienbefall, was bei Christus zum Verlust von Fingern und Zehen geführt hat.

Michelangelo: Pietà (1499/1500); Rom, St. Peter

Das sonst überwiegend in Mitteleuropa verbreitete Vesperbild findet in der Spätgotik durch importierte Exemplare auch Eingang in Italien. Die berühmteste italienische Pietà ist zweifelsohne die Marmor-Skulpturengruppe von Michelangelo im Petersdom (1499/1500; siehe meinen Post „Tief schlafend oder tot?“). Der Renaissance-Künstler verzichtet allerdings auf jegliche Drastik – trotz aller erlittenen Qualen haben die wohlproportionierten Glieder des Gottessohns nichts von ihrer Anmut eingebüßt; seine Wundmale sind nur sehr verhalten dargestellt, Spuren der Geißelung oder von der Dornenkrone fehlen völlig. Der Leib Christi scheint darüber hinaus eher ein tief schlafender als ein toter Körper zu sein. Michelangelo hat zwar das transalpine Sujet übernommen, es aber in eine völlig andere Form übersetzt, und zwar in eine ideale, an der Antike orientierte Ästhetik, die das Publikum weniger durch veristische Darstellung leiblichen und seelischen Schmerzes als vielmehr durch künstlerisch gestaltete Schönheit rühren sollte.

Käthe Kollwitz: Pietà (1938); Köln, Käthe Kollwitz Museum

Im 20. Jahrhundert griff Käthe Kollwitz (1867–1945) das Thema in einer Bronzegruppe auf (1938), die ihrem im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn gewidmet ist. Eine vierfach vergrößerte Fassung dieser Skulptur steht seit 1993 in der damals neu eingerichteten zentralen Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in der Berliner Neuen Wache.

 

Literaturhinweise

Geese, Uwe: Mittelalterliche Skulptur in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Petersberg 2007;

Kvapilová, Ludmila: Vesperbilder in Bayern von 1380 bis 1430 zwischen Import und heimischer Produktion. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017;

Poeschel, Sabine: Handbuch der Ikonographie. Darmstadt 22007;

Roller, Stefan: Vesperbild. In: Meisterwerke im Liebieghaus. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2008, S. 76;

Schneider, Norbert: Geschichte der mittelalterlichen Plastik. Von der frühchristlichen Antike bis zur Spätgotik. Köln 2004;

Suckale, Robert (Hrsg.): Schöne Madonnen am Rhein. E.A. Seemann Verlag, Leipzig 2009, S. 70-77, 189-190 und 194-195.