Dienstag, 16. April 2013

Michelangelo überbieten: Sansovinos „Bacchus“


Jacopo Sansovino: Bacchus (1512 vollendet), Florenz, Museo
Nazionale del Bargello
Der Bildhauer und Architekt Jacopo Sansovino (1486–1570) hat 1512 einen Marmor-Bacchus vollendet, der sich deutlich an Michelangelos trunkenem Bacchus von 1496/97 orientiert (siehe meinen Post „Michelangelos schwankender Bacchus“). Aber nicht imitatio, also Nachahmung, war Sansovinos Ziel, sondern superatio: Er wollte Michelangelo übertreffen. „Eine andere Erklärung ist nicht möglich, wenn man sieht, mit welcher Konsequenz alle Motive Michelangelos verändert wurden und alle Veränderungen im Zeichen eines Zuwachses an Lebendigkeit stehen“ (Körner 2003, S. 226). 
Michelangelo: Bacchus (1496/97); Florenz, Museo Nazionale del Bargello
Aus dem unsicheres Stehen des Michelangelo-Bacchus wird ein beschwingtes Ausschreiten. Dem entspricht bei Sansovinos Skulptur eine lebhafte Drehung des Rückens. Bei Michelangelo hängt der Rücken schlaff durch, und der dem Wein geschuldete Bauch schiebt sich nach vorn. Die Drehung im Rückgrat bereitet den in freudiger Erwartung nach oben zur Trinkschale gewendeten Kopf vor. Michelangelos Bacchus-Kopf sinkt dagegen zur Seite, was unvermittelt geschieht – der trunkene Körper ist erschlafft; dieser Bacchus kann sich nur mühsam im Gleichgewicht halten. Der Kontrapost von Sansovinos Bacchus ist dagegen in einem vorher nicht gesehenen Maß verräumlicht und in Bewegung versetzt. Dem vorgestellten Bein der rechten Körperseite antwortet der erhobene linke Arm, dem zurückgenommenen linken Bein der herabhängende rechte Arm mit den Trauben und die zurückgenommene und abgesenkte rechte Schulter.
Sansovinos träger Sartyrknabe
Michelangelos Sartyrknabe wendet graziös den Oberkörper zu den verlockenden Trauben, die Bacchus’ schlaff herabhängende Linke hält – er beißt mit Genuss und wohl auch spitzbübischer Freude über die Unaufmerksamkeit des Weingottes in die saftigen Früchte. Sansovinos Sartyrknabe hat sich dagegen unter Bacchus bequem niedergelassen. Er wendet den Kopf zu den Trauben; ob er flink genug sein wird, um die Gelegenheit zum Naschen zu nutzen, ist zweifelhaft – zu lebhaft ist der Weingott und zu gemütlich der Satirretto. „Die Trägheit des Sartyrknaben steigert im Kontrast die Vitalität des Bacchus bei Sansovino, so wie der von der Trunkenheit des Gottes nutzenziehende Sartyr bei Michelangelo diese und den ihr unterworfenen Körper des Bacchus als passiven, in der Vitalität geschwächten, noch betont“ (Körner 2003, S. 228).
Jacopo Sansovino: Laokoon (Zeichnung)
Es war vor allem der weit vom Körper abgestreckte linke Arm des Bacchus, der Sansovinos Skulptur berühmt machte – ein technisches Bravourstück. Für diesen braccia in aria gibt es ein berühmtes Vorbild: die 1506 in Rom aufgefundene Laokoon-Gruppe (siehe meinen Post Das ultimative antike Meisterwerk). 1506 oder 1507 siedelte Sansovino von Florenz nach Rom über und fertigte dort eine Wachskopie der Laokoon-Gruppe an. Eine Zeichnung der Uffizien vermittelt einen Eindruck von Sansovinos Rekonstruktion des rechten Arms des Laokoon. Kurz nach seiner Rückkehr von Rom nach Florenz nahm Sansovino die Arbeit an seiner Bacchus-Statue auf. „Man wird nicht fehlgehen, im frei abstehenden Arm des Bacchus den von Sansovino rekonstruierten rechten Arm des Laokoon aufgenommen und überboten zu sehen“ (Körner 2003, S. 232).
Sansovinos Bacchus fiel 1762 bei einem Brand in Stücke und wurde von Gaetano Traballesi wieder zusammengefügt – die Skulptur, die von Giorgio Vasari 1584 als das schönste von einem jüngeren Künstler geschaffene Kunstwerk gefeiert wurde, erscheint deswegen dem heutigen Betrachter leider als Flickwerk. Aber davon verschaffe man sich am besten selbst einen Eindruck: Sansovinos Bacchus ist im Florentiner Museo Nazionale del Bargello ausgestellt – unweit von Michelangelos Bacchus.
Jacopo dAntonio Tatti, gen. Sansovino, wurde 1486 in Florenz als Sohn eines Matratzenmachers geboren. Um 1501/02 trat er in die Werkstatt des Andrea Sansovino ein und nahm während der Lehrzeit auch dessen Beinamen an. Von 1506/07 bis 1511 arbeitete er in Rom und kehrte dann wieder nach Florenz zurück. Bald danach erhielt Sansovino seine ersten bedeutenden Aufträge: eine Jakobus-Statue für den Florentiner Dom und die hier vorgestellte lebensgroße Bacchus-Skulptur, in Auftrag gegeben von Giovanni Bartolini für den Garten seiner Villa Gualfonda. Mit diesen beiden Werke reihte sich Sansovino schlagartig unter die ersten Bildhauer seiner Zeit ein. 
Jacopo Sansovino: Jakobus d.Ä. (1511-18); Florenz, Dom
(für die Großansicht einfach anklicken)

Nach Fertigstellung der Jakobus-Statue ließ sich Sansovino erneut in Rom nieder, wo er ab 1518 erstmal nachweisbar ist und bis 1527 ansässig blieb. Während dieser Zeit entstand auch seine berühmte Madonna del Parto (Rom, Sant’Agostino; siehe meinen Post Die Mutter aller Geburten). 1527, während der Belagerung der Stadt durch die kaiserlichen Truppen, floh Sansovino – wie viele andere Künstler auch – aus Rom und ging nach Venedig. Eigentlich wollte er dort nur Station auf dem Weg nach Frankreich machen, blieb dann aber bis zu seinem Lebensende 1570. 
In Venedig wurde Sansovino zunächst vom Dogen Andrea Gritti mit der Restaurierung der Kuppeln von San Marco betraut. Insgesamt trat während der ersten Jahre in Venedig seine Tätigkeit als Bildhauer hinter derjenigen als Architekt weitgehend zurück. Bereits am 1. April 1529, kaum zwei Jahre nach seiner Ankunft in der Lagunenstadt, wurde ihm das wichtige Amt des Proto übertragen, des Leiters der Bauhütte von San Marco. Mitte der 30er Jahre häuften sich dann wieder die Aufträge für plastische Arbeiten, unter denen Bronzewerke den Hauptanteil bildeten – sie machten Sansovino zum führenden Bildhauer Venedigs.

Literaturhinweise
Körner, Hans: Die enttäuschte und die getäuschte Hand. Der Tastsinn im Paragone der Künste. In: Valeska von Rosen/Klaus Krüger/Rudolf Preimesberger (Hrsg.), Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2003, S. 221-241;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band II: Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 145.

(zuletzt bearbeitet am 18. März 2022)

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