Sonntag, 16. März 2025

Ein hölzernes Memento mori – die Vanitas-Gruppe in der Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums Wien

Michel Erhart oder Jörg Syrlin d.Ä.: Vanitas (um 1470/80);
Wien, Kunsthistorisches Museum

Drei nackte Figuren sind, im Dreieck stehend, auf einem grünen Grasnarbensockel vereint und haben ihre Rücken einander zu- und ihre lebensnahen Gesichter nach außen gewandt: ein Jüngling und ein Mädchen, hinter sich eine naturalistisch wiedergegebene alte Frau. Die Gruppe wurde virtuos aus einem Stück Holz geschnitzt. Arme und Beine sind freiplastisch hinterschnitten, während die Rückseiten, das heißt die Köpfe und Rücken, miteinander verbunden bleiben. Das Mädchen und die Alte werden von lang herabhängenden Haarsträhnen hinterfangen, die auch den Rücken des Jünglings bedecken. Der junge Mann ist allerdings nicht ganz nackt, denn er trägt eine schmale kurze Hose, die Bruech. Die Fassung ist erstaunlich gut erhalten; sie charakterisiert die drei Gestalten durch farbliche Abstufung und eine vom Mädchen über den Jüngling zur Alten zunehmende Angabe von Adern, das Inkarnat der letzteren ist zusätzlich noch mit auf Stirn, Brust und Bein gemalten Fliegen versehen. Die flächig aufgetragene, fast weiße Grundfarbe der Fleischtöne erhielt nass-in-nass vertriebene Rottönungen, die die Oberfläche beleben.

Körperliche Hinfälligkeit, schonungslos dargestellt

In schroffem Gegensatz zu den idealisierten, vollendet schön erscheinenden jungen Menschen wird die alte Frau schonungslos in ihrem körperlichen Verfall dargestellt. Der Bildschnitzer zeigt einen völlig ausgemergelten, hageren, an Füßen, Händen und Armen schon fast bis auf die Knochen abgemagerten Körper. Brüste und Haut hängen schlaff herab; das lange Haar reicht zwar bis zum Gesäß, doch der Scheitelbereich des Schädels ist kahl. Von geradezu erschreckendem Verismus jedoch ist ihr Gesicht: Es ist zur faltendurchfurchten, verzerrten Fratze entstellt. Die Wangen sind eingefallen und die Augen in ihren tiefen Höhlen entsetzt aufgerissen; aus dem leicht geöffneten Mund lugen zwei Zahnstümpfe hervor. Die Lippen wirken blutleer, das Haar ist hellgrau wie die Brauen, blaue Adern überziehen den ganzen Körper. Auf der kahlen Stirn, unterhalb des rechten Schlüsselbeins und auf dem linken Oberschenkel sind drei genau wiedergegebene, aber für die Größe der Figur völlig überdimensionierte Fliegen platziert – sie symbolisieren die Todesnähe der alten Frau.

Aus Jung wird Alt, auf Schönheit folgt Verfall

Stefan Roller geht davon aus, dass die drei Fliegen wohl kaum zufällig der Größe realer Fliegen entsprechen. Das solle zum einen die beachtliche Fähigkeit des Malers in der Naturwiedergabe demonstrieren. „Zum anderen spielt dieser auf einen seit der griechischen Antike in verschiedenen Versionen tradierten Topos an, der als Ziel der Kunst eine täuschend echte Imitation der Natur proklamiert, etwa wenn es dem legendären Maler Zeuxis gelingt, so real wirkende Trauben zu malen, dass sie von Vögeln angepickt werden“ (Roller 2014, S. 27). Auf die Greisin übertragen bedeutet dies: Der Maler hat ihren leichenhaften Zustand so echt gemalt, dass sich die Fliegen von der Skulptur haben täuschen lassen. „Indem er aber auch dem Betrachter mit den getäuschten Fliegen eine Scheinrealität vorgaukelt, kann er Zeuxis sogar noch übertrumpfen“ (Roller 2014, S. 27)

Auch der schöne junge Mann wird den Weg allen Fleisches gehen ...

Die 46 cm hohe Gruppe war ursprünglich durch ein Ledergehäuse geschützt, dessen Ausschnitt bei der Drehung eine Figur nach der anderen erscheinen ließ; heute ist der Behälter verloren. Die Nacktheit der beiden jungen Menschen ist nicht erotisch aufgeladen, anders als bei zahlreichen weiblichen Figuren mit antiker oder biblischer Thematik aus der Renaissance – als Beispiel sei auf die Aktfiguren von Hans Baldung Grien (1480–1545) verwiesen.

Hans Baldung Grien: Adam und Eva (1531);
Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
Tillman Riemenschneider: Eva (1492/93);
Würzburg, Mainfränkisches Museum
Kapitolinische Venus mit Venus-Pudica-Pose

Vorbilder sind vielmehr Gestalten von Adam und Eva, wie sie in der gotischen Plastik, etwa bei Tilman Riemenschneider (siehe meinen Post Die schönen Sünder“), und in der altniederländischen Malerei, so auf dem Genter Altar der Gebrüder van Eyck, zu finden sind. Als antike Reverenz hat der Künstler für seine Greisin die Handhaltung der Venus pudica übernommen (siehe meine Post „Aphrodite – knidisch und kapitolinisch“). Die beiden jungen Menschen werden uns nicht als Liebespaar vorgeführt, da sie voneinander isoliert sind und zwischen ihnen keinerlei Zärtlichkeit angedeutet wird. Die hässliche, nackte Alte ist auch als Einzelfigur ein Thema der Spätgotik, wie sie z. B. in zwei südwestdeutschen Beispielen das Frankfurter Liebieghaus besitzt.

Daniel Mauch: Nackte Alte (um 1520); Frankfurt, Liebieghaus

Die Dreiergruppe stellt die makellose, blühende Schönheit der Jugend und ihre Vergänglichkeit dar. Deswegen wird sie heute auch Vanitas genannt. Vorausgegangen waren ihr im 13. Jahrhundert Figuren, die sich von vorn verlockend zeigen, auf der Rückseite aber, von Würmern zerfressen, ihre Rolle als Verführer kundtun. Die moralische Warnung, auf ein (lustvolles) Leben folge Verfall und Tod, ist allen diesen Gestalten gemeinsam.

Die Forschung schwankt, wenn sie den Schnitzer der Vanitas angeben soll: Genannt werden zum einen der Ulmer Meister Michel Erhart (um 1440/45–nach 1522), zum anderen der ebenfalls in Ulm tätige, eine Generation ältere Jörg Syrlin d.Ä. (1425–1491). Die Skulptur selbst dürfte um 1470/80 entstanden sein, sie wird heute in der Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums aufbewahrt.

 

Glossar

Mit Fassung ist die Bemalung einer Skulptur gemeint.

Nass-in-Nass-Technik ist eine Malweise, bei der in die noch nicht getrocknete Farbe hineingemalt wird.

 

Literaturhinweise

Meurer, Heribert: Gedanken zur Wiener Vanitasgruppe. In: Brigitte Reinhardt/Stefan Roller (Hrsg.), Michel Erhart & Jörg Syrlin d.Ä. Spätgotik in Ulm. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2002, S. 162-171;

Roller, Stefan: »… als ob die Haar würklich von dem Kopf herauswachsen«. Veristische Skulpturen und ihre Techniken. Einblicke in ein vermeintliches Randgebiet der Kunstgeschichte. In: Stefan Roller (Hrsg.), Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken. Hirmer Verlag, München 2014, S. 12-65.


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