Sonntag, 16. November 2014

Alle Welt huldigt dem Kind – Rogier van der Weydens Bladelin-Altar


Rogier van der Weyden: Bladelin-Altar (um 1445); Berlin, Gemäldegalerie
(für die Großansicht unbedingt anklicken!)
Pieter Bladelin (um 1408–1472) war Finanzminister am burgundischen Hof und Ratgeber Herzog Philipps des Guten, somit einer der wohlhabendsten und einflussreichsten Männer seiner Zeit. Er gründete in der Nähe von Brügge eine Stadt, der er den Namen Middelburg gab. Rogier van der Weyden (1399–1464) erhielt von Pieter Bladelin den Auftrag für einen dreiteiligen Altar – wahrscheinlich war das Werk zunächst als privates Andachtsbild gedacht. Vermutlich erst nach Bladelins Tod gelangte es in die Kirche von Middelburg, wo es, versehen mit einer zusätzlichen Bemalung der Außenseiten, als Altargemälde diente. Deswegen wird das Triptychon entweder nach der Stadt „Middelburger Altar“ oder nach dem Auftrageber „Bladelin-Altar“ genannt. Das um 1445 entstandene Werk befindet sich heute in der Berliner Gemäldegalerie.
Die Krippe fehlt, aber Ochs und Esel sind anwesend
Auf der Mitteltafel ist die Geburt des Erlösers dargestellt, genauer: die Anbetung des Jesuskindes. In die Mittelachse hat Rogier die weißgekleidete Maria mit dem nackten Knaben gesetzt; die Farbe des Gewandes symbolisiert ihre Jungfräulichkeit. Maria kniet schräg zur Bildebene vor ihrem Kind, parallel zu der übereck gestellten Stallruine. Links und rechts von ihr sehen wir in spiegelsymmetrischer Verteilung Joseph und den Auftraggeber selbst in einem schwarzen, mit Pelz verbrämten Gewand und langen Schnabelschuhen. Sie sind beide kniend auf das Kind hin ausgerichtet. Joseph wird durch eine Steinsäule von dem Kind, auf das er herabblickt, kompositorisch abgetrennt – vermutlich um anzudeuten, dass er mit der jungfräulichen Geburt wirklich nichts zu tun hat.
Das schwarze, mit Pelz besetzte Gewand weist Pieter Baldelin als Angehörigen
der Oberschicht aus
Der Stifter Bladelin ist historisch gesehen im Bild eigentlich ein Fremdkörper; er wird mit einem nach innen gekehrten Blick gezeigt – damit könnte gemeint sein, dass es ihm in Form einer „Vision“ möglich ist, am Geschehen in Bethlehem teilzunehmen. Bladelin kniet nicht nur, sondern hat auch ehrfürchtig seine Kopfbedeckung, den Chaperon, abgenommen und auf den Rücken gehängt. In ähnlicher Haltung wie Maria betet er das Kind an, jedoch mit überkreuzten Daumen, was auf den späteren Opfertod Jesu vorausweist. Die Stadt im Hintergrund über Bladelin scheint dessen natürliches Umfeld zu sein (auch wenn sie Bethlehem bedeuten soll); die Lücke rechts in dem Mäuerchen hinter ihm „bezeichnet den Weg aus dem Alltagsleben, den er in seiner Andacht genommen hat“ (Kemperdick 1999, S. 65).
Anders als im Lukas-Evangelium erzählt, liegt das neugeborene Kind weder in einer Krippe, noch ist es in Windeln gewickelt (Lukas 2,12). Es liegt vielmehr direkt auf dem Boden – Rogier greift hier auf einen einflussreichen Text der Birgitta von Schweden (1302–1373) zurück. Sie schildert dort ihre „Vision“ der Geburt Jesu, die in zahlreichen Details von den biblischen Berichten abweicht. Auch die Kerze in Josephs Hand ist der „Offenbarung“ der Birgitta von Schweden entnommen: Ihr schwacher Schein sei vom überirdischen Licht des göttlichen Kindes überstrahlt worden.
Aus der Höhe schweben drei Engel herab; drei weitere wenden sich am Boden mit den anderen Figuren andachtsvoll dem Kind zu, hinter ihnen stehen Ochs und Esel. In der Landschaft links im Hintergrund ist die Verkündigung an die Hirten dargestellt (Lukas 2,10). Rechts im Hintergrund schließt sich der Ausblick auf die bereits erwähnte mittelalterliche Stadt an, in der Menschen ihren alltäglichen Verrichtungen nachgehen. Der verfallene Stall mit seinen romanischen Bauformen ist Sinnbild für eine vergangene Epoche, die mit der Geburt des Erlösers ihr Ende gefunden hat – sein Erscheinen markiert den Beginn der Gnadenzeit. Dabei verweisen das vergitterte Erdloch wie die Säule auf Gefangenahme und Geißelung Jesu und damit auf den späteren Leidensweg Christi.
Kaiser Augustus mit der tiburtinischen Sibylle
Auf dem linken Flügel sieht man den Kaiser Augustus in seinem Schlafgemach mit drei Beratern und der tiburtinschen Sibylle. Sie ist eine von zehn mythischen Prophetinnen, die mit einem geografischen Beinamen bezeichnet werden. Als Kaiser erkennbar wird der Kniende durch die Bügelkrone und seinen purpurfarbenen Mantel, dessen Saum mit Goldfäden bestickt und kostbaren Steinen besetzt ist. Auch die doppelköpfigen Adlerwappen in den oberen Fenstern sind (mittelalterliche) Symbole des Kaisertums. Am 31. Mai 1433, dem Tag seiner Kaiserkrönung in Rom, hatte Sigismund dieses alte Herrschaftssymbol zum Wappen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation erhoben. 
Nach der Legende hatte Augustus die Sibylle von Tibur befragt, ob es einen mächtigeren Herrscher gibt als ihn. Darauf zeigt ihm die Sibylle am Tag der Geburt Christi in einer Vision den neugeborenen Weltenherrscher: Er erscheint dem Kaiser im Schoß der Mutter, die auf einem in der Luft schwebenden, leintuchbedeckten Altar sitzt. Vereinzelt fallen goldene Strahlen aus der sie umgebenden Aureole durch das geöffnete Fenster. Augustus huldigt dem Kind, wobei er wie ein Priester ein Weihrauchfass schwenkt was an die Inszenation des Sakraments im Sakramentskult erinnert (Schlie 2002, S. 274). Dem entspricht, dass Maria das segnende Kind „wie die Monstranz die Hostie (Schlie 2002, S. 274) zur Verehrung präsentiert. Für Heike Schlie stellt der Altar insgesamt „die Verknüpfung von Heilsgeschichte und ihrer rituellen Wiederholung und Fortsetzung im Kult“ her (Schlie 2002, S. 277). Unübersehbar hat Rogier auf dem linken Flügel auch das Fensterkreuz zwischen der Himmelserscheinung und den menschlichen Teilnehmern aufgerichtet: das Zeichen der künftigen Erlösung“ (Knauer 1970, S. 337). Die Szene ist gleichzeitig die Gründungslegende der Kirche Ara coeli (wörtlich „Altar des Himmels“) auf dem Kapitolshügel. Von dieser Kirche nahm man im Mittelalter an, dass sie auf den Grundmauern des Palastes von Kaiser Augustus errichtet worden sei.
Die Kirche Santa Maria in Arcoeli auf dem Kapitol in Rom
Der rechte Flügel zeigt die drei Könige aus dem Morgenland, die das Jesuskind, das ihnen in einem Stern am Himmel erscheint, ebenfalls anbeten. Der Tradition entsprechend, sind in den drei Königen auch die unterschiedlichen Lebensalter mit dargestellt. Die auf den Flügeln gezeigten Ereignisse sind nicht im Neuen Testament überliefert, sie werden vielmehr in der Legenda aurea des Jacob de Voragine geschildert (Ende des 13. Jahrhunderts geschrieben). In der Ferne sind die drei Könige ein weiteres Mal wiedergegeben: Sie haben ihre Kleider abgelegt, um sich im Fluss zu waschen. Auch hierfür liefert die Legenda aurea die Erklärung: Aufgrund einer Weissagung warteten die drei Könige nach einer symbolischen Reingung alljährlich auf einem Berg darauf, dass ihnen ein Stern die Geburt des Erlösers ankündigen würde. Während das Jesuskind auf den beiden Flügelbildern am Himmel schwebt, ist er auf der Mitteltafel vom Himmel auf die Erde herabgestiegen und wirklich Mensch geworden.
Die drei Könige erblicken das Jesuskind, danach
werden sie zum Stall in Bethlehem aufbrechen
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Die Figuren auf den drei Bildfeldern sind alle im gleichen Maßstab gehalten und ziehen sich wie eine Kette über die Tafeln; „auf den Flügeln jeweils in einem nach innen gekehrten, auf der Mitteltafel in einem nach außen geöffneten Halbkreis angeordnet, schwingen sie in ihrer Abfolge gewissermaßen in einer wellenförmigen Linie“ (Kemperdick 1999, S. 61). Verbunden werden die Tafeln zudem durch eine durchdachte Farbverteilung, bei der beispielsweise das rote Gewand des ältesten Königs rechts ein Echo auf die rote Kleidung Josephs auf der Mitteltafel darstellt und der rotgemusterte Goldbrokat des mittleren Königs daneben ein Gegenstück im Rock des Augustus’ auf dem gegenüberliegenden Flügel hat. Wie sich auf der Mitteltafel spiegelsymmetrisch Joseph und der Stifter ensprechen, so auf den beiden Flügel Augustus und der älteste der drei Könige: Beide stehen einander in Haltung, Physiognomie und Haartracht auffällig nah.
Die Flügel stehen jeweils für einen ganzen Erdteil: der linke für den Westen, der rechte für den Osten, Okzident und Orient. „Wir sehen, wenn wir das geöffnete Triptychon betrachten, drei Orte, die zusammen die Welt als Ganzes repräsentieren, wobei die Ereignisse, die auf jeder der drei Tafeln dargestellt sind, gleichzeitig stattfinden“ (Thürlemann 2004, S. 77). Alle Welt – Menschen aus allen Kulturen, jeden Alters und aus verschiedenen Zeiten, himmlische Wesen und auch die sprachlose Kreatur – huldigt dem Kind und Erlöser, so die Botschaft des Baldelin-Altars.

Literaturhinweise

De Vos, Dirk: Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk. Hirmer Verlag, München 1999, S. S. 242-248;

Kellermann, Antje-Fee: Middelburger Altar (sogenannter Bladelin-Altar). In: Stephan Kemperdick/Jochen Sander (Hrsg.), Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2008, S. 337-341;

Kemperdick, Stephan: Rogier van der Weyden. Könemann Verlagsgesellschaft Köln 1999, S. 61-65;
Knauer, Elfriede: A CVBICVLO AVGVSTORUM. Bemerkungen zu Rogier van der Weydens Bladelin-Altar. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 33 (1970), S. 332-339;

Pächt, Otto: Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David. Prestel-Verlag, München 1994, S. 52-53;

Panofsky, Erwin: Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und ihr Wesen. Band 1. DuMont Buchverlag, Köln 2001 (urspr. 1953), S. 290-292;
Rothstein, Bert: Vision, Cognition, and Self-reflection in Rogier van der Weyden’s Bladelin Triptych. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 64 (2001), S. 37-55;
Schlie, Heike: Bilder des Corpus Christi. Sakramentaler Realismus von Jan van Eyck bis Hieronymus Bosch. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2002, S. 272-278;

Thürlemann, Felix: Die Legenda aurea des Jacobus a Voragine und einer ihrer Leser, der Maler Rogier van der Weyden. In: Aleida Assmann/Michael C. Frank (Hrsg.), Vergessene Texte. Universitätsverlag Konstanz, Konstanz 2004, S. 63-80.

(zuletzt bearbeitet am 20. Februar 2025)

Samstag, 8. November 2014

Der erste freimütige weibliche Blick – Rogier van der Weydens „Bildnis einer jungen Frau mit Flügelhaube"


Rogier van der Weyden: Bildnis einer jungen Frau mit Flügelhaube (um 1435); 
Berlin, Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken)
Jan van Eycks Bildnis eines Mannes mit rotem Turban von 1433 gilt als ein Meilenstein in der Geschichte des Porträts. Zum ersten Mal wendet sich auf einem Bildnis der Blick des Dargestellten aus dem Bild heraus und unmittelbar dem Betrachter zu. Zum ersten Mal in dieser Bildgattung versucht der Dargestellte, direkten Kontakt mit dem Betrachter aufzunehmen (siehe meinen Post „Jan van Eycks Mann mit rotem Turban“). Neben Jan van Eyck (um 1390–1441) war es vor allem Rogier van der Weyden (1399–1464), der dieser neuen Porträtauffassung den Weg bereitete. 
Jan van Eyck: Bildnis eines Mannes mit rotem Turban (1433); London, National
Gallery (für die Großansicht einfach anklicken)
Zu den ersten Beispielen für diese Neuerung gehört Rogiers Bildnis einer jungen Frau mit Flügelhaube aus der Berliner Gemäldegalerie. Um 1435 entstanden, ist es zudem das erste Porträt seiner Laufbahn. In den meisten Bildnissen jener Zeit erscheinen die Dargestellten in sich gekehrt, blicken ins Leere oder aber wenden sich, soweit es sich um ein Diptychon handelt, andachtsvoll der Madonna zu. Anders bei Rogier: Die Augen der jungen Frau suchen die Zwiesprache mit dem Betrachter. Ihr Blick ist ebenso ruhig wie freimütig auf uns gerichtet, sie scheint uns anzulächeln. „Obgleich der Kopf ins Dreiviertelprofil gewandt ist, wird das hintere Auge kaum verkürzt; es scheint vielmehr parallel zur Bildebene zu liegen – auch dadurch wird der Blick intensiviert“ (Kemperdick 2009, S. 277). Kein späteres Bildnis von Rogier wird uns mehr in dieser Weise ansehen.
Das hintere Auge müsste eigentlich verkürzt wiedergegeben werden, liegt aber bildparallel
Rogier präsentiert die junge Frau als Halbfigur; ihr Gesicht wird von einer doppellagigen flämischen Flügelhaube aus gestärktem weißen Leinen gerahmt, die kunstvoll mit goldenen Nadeln aufgesteckt ist. Der Stoff lässt die dem damaligen Schönheitsideal entsprechende hohe Stirn der jungen Frau durchscheinen. Das Material der Haube ist feingewebt, aber nicht luxuriös, der Stirnschleier beispielsweise nicht aus hauchzarter Gaze gefertigt wie bei einem Porträt der Isabella von Portugal aus Rogiers Werkstatt. Unter dem Kinn ist zudem ein gefälteltes Tuch durchgezogen. „Die Querfalten in den Haubenflügeln führen die nach oben weisenden Mundwinkel verlängernd weiter. So ist es schließlich das ganze Porträt, das lächelt“ (Thürlemann 2006, S. 45).
Das schlichte Gewand ist aus braungrauem, grob gewebtem Wollstoff gefertigt und mit einem dunklen Pelz besetzt. Über den Brüsten legt es sich in enge, parallele Falten und an den Ärmeln in breite, unregelmäßige Knitterfalten. Die junge Frau trägt keine kostbaren Schmuckstücke, aber doch mindestens fünf Goldringe mit Steinen und Perlen. Ihre Hände sind sittsam übereinandergelegt und ruhen auf einer imaginären Brüstung, die mit dem unteren Abschluss des Bildes zusammenfällt. „Die Haltung der Hände macht den Bilderrahmen zu einem Fensterrahmen. Dadurch wird die Differenz zwischen dem dargestellten Raum und dem Raum des Betrachters überspielt“ (Thürlemann 2006, S. 45/46). Ringe, Flügelhaube und Kinntuch verweisen darauf, dass wir eine verheiratete Frau vor uns haben. Durch ihre nach rechts gewandte Haltung kann es sich aber nicht um ein Gegenstück zu einem Männerbildnis handeln, denn die rechte Seite war bei solchen Pendants traditionell dem Mann vorbehalten.
Jan van Eyck: Bildnis der Margarethe van Eyck (1439); Brügge, Groeningemuseum
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Rogiers Berliner Porträt lädt ein zum Vergleich mit Jan van Eycks Bildnis der Margarethe van Eyck von 1439, die uns jedoch verhaltener ansieht. Weil van Eycks Porträt seiner Ehefrau mit der gleichen Blickrichtung dargestellt ist, wurde in der kunsthistorischen Forschung mehrfach die Hypothese vertreten, Rogiers Berliner Bildnis könnte seine Ehefrau Elisabeth Goffaerts zeigen. „Das allerdings dürfte ausgeschlossen sein, denn Elisabeth war, als die Tafel gemalt wurde, bereits um die Mitte dreißig und zweifache Mutter, während die Porträtierte wesentlich jünger zu sein scheint, ungefähr Anfang zwanzig“ (Kemperdick 2008, S. 277). In der Berliner Gemäldegalerie kann übrigens noch ein weiteres Porträt eines niederländischen Künstlers bewundert werden, das mit den den beiden Frauenbildnissen von van Eyck und Rogier in eine Reihe zu stellen ist: das kleinformatige Bildnis eines jungen Mädchens von Petrus Christus (um 1470 entstanden, 28 x 21 cm).
Petrus Christus: Bildnis eines jungen Mädchens (um 1470); Berlin, Gemäldegalerie
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Wie wichtig das gemalte Bildnis bereits in der Epoche Rogiers geworden war, zeigt die Tatsache, dass weit über die Hälfte seiner erhaltenen Werke entweder autonome Porträts sind oder biblische Szenen, die eines oder mehrere Porträts von Auftraggebern oder Zeitgenossen enthalten. Rogier war offenbar vor allem beim burgundischen Adel als Porträtist beliebt: Alle identifizierbaren Bildnisse von ihm stellen Adelige dar oder Personen, die einen engen Kontakt zum burgundischen Hof hatten.
Rogier van der Weyden: Bildnis Karls des Kühnen (um 1460); Berlin,
Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken)
Literaturhinweise
De Vos, Dirk: Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk. Hirmer Verlag, München 1999, S. 192-193;
Dyballa, Katrin/Kemperdick, Stephan (Hrsg.): Niederländische und französische Malerei 1400_1480. Kritischer bestandskatalog. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2024, S. 248-259;
Kemperdick, Stephan: Bildnis einer jungen Frau. In: Stephan Kemperdick/Jochen Sander (Hrsg.), Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2008, S. 277-280;
Thürlemann, Felix: Rogier van der Weyden. Leben und Werk. Verlag C.H. Beck, München 2006, S. 43-46.

(zuletzt bearbeitet am 7. Februar 2025)

Samstag, 1. November 2014

Porträt-Kunst der italienischen Frührenaissance (1): Sandro Botticellis „Bildnis eines jungen Mannes mit Medaille“


Sandro Botticelli: Bildnis eines jungen Mannes mit Medaille (um 1475),
Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
Das selbständige Porträt war in der Frührenaissance eine durchaus noch neue Bildgattung. Zwei Gemälde, heute im Pariser Louvre und im Wiener Dom- und Diözesanmuseum, leiten die Geschichte dieser Bildgattung ein. Beim Porträt des französischen Königs Jean II. le Bon wird das Todesjahr 1364 als ungefährer Anhaltspunkt für die Entstehung des Gemäldes angenommen. Ein Jahr später, 1365, verstarb jung der österreichische Herzog Rudolf IV. Sein ebenfalls nur einem Anonymus zuzuschreibendes Bildnis dürfte annähernd zeitgleich gemalt worden sein.
Anonymer Künstler: Jean II. le Bon (um 1364); Paris, Louvre
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Anonymer Künstler: Rudolf IV. (um 1365); Wien, Dom- und Diözesan-
museum (für die Großansicht einfach anklicken)
In diesen beiden frühesten selbständigen Porträts, die sich erhalten haben, „sind zugleich die beiden Darstellungsformen vorgegeben, die im folgenden Jahrhundert miteinander konkurrieren werden“ (Körner 2006, S. 71): Johann der Gute wird im strengen Profil wiedergegeben, der Kopf des österreichischen Herzogs hingegen schräg abgebildet, sodass nicht nur die rechte, sondern auch von der linken Gesichtshälfte etwas zu sehen ist – eine Ansicht zwischen Profildarstellung und frontaler Aufnahme („en face“), für die sich der kunsthistorische Ausdruck „Dreiviertelporträt“ eingebürgert hat. Die Dreiviertelansicht, so kann man sagen, hat einen höheren „Informationsgehalt“ als die Frontal- oder die strenge Seitenansicht – weshalb sie im Übrigen auch der für Passfotos verbindliche Abbildungsmodus werden konnte. Zumindest galt das bis zur Einführung des biometrischen Passbildes.
Römische Münze mit dem Profilbildnis des Kaisers Trajan
Die niederländische Porträtmalerei bevorzugte schon im frühen 15. Jahrhundert die Dreiviertelansicht. Das blieb in Italien nicht unbeachtet – dennoch dauerte es längere Zeit, bis sich diese Darstellungsform auch hier durchsetzen konnte. In der Toskana blieb das Profilbildnis bis ins spätere 15. Jahrhundert die bevorzugte Bildnistyp. Warum? Ein wesentlicher Grund war die Rückbesinnung auf die Antike: Die Künstler und Humanisten der italienischen Frührenaissance betrachteten die Profildarstellungen auf römischen Münzen als die gültige Porträtform der Antike. „Nicht Traditionalismus, sondern die Modernität der wiederentdeckten Antike war es demnach, die die Frührenaissane lange am Profilbildnis festhalten ließ, zumal damit anschauliche Qualitäten verknüpft waren, die dem Repräsentationsbedürfnis der Porträtierten entgegengekommen sein dürften. Das Profilbildnis zeigt zwar weniger vom Gesicht als die Dreiviertelansicht, aber die Profilansicht ist distanzierter, auch distinguierter, eine durchaus adäquate Form somit für eine sehr repräsentative Porträtauffassung, die dem Betrachter nicht allzu nah rücken will“ (Körner 2006, S. 72/73).
Masaccio: Bildnis eines jungen Mannes (um 1426/27); Boston, Isabella
Stewart Gardner Museum
Andrea del Castagno: Bildnis eines Edelmannes (um 1450), Washington,
National Gallery of Art (für die Großansicht einfach anklicken)
Andrea Mantegna: Bildnis des Ludovico Trevisano (um 1459); Berlin, Gemäldegalerie
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Erst nach der Jahrhundertmitte, und selbst dann noch zögerlich, kam in Italien auch das Dreiviertelporträt auf. Vielleicht das früheste Beispiel ist ein von Andrea del Castagno gemaltes Bildnis (um 1450). Etwa zehn Jahre später malte Andrea Mantegna dann das Porträt des Kardinals Ludovico Trevisano in Dreiviertelansicht. Beide Bilder dürfen für ihre Zeit noch als Ausnahme gelten. In den 1470er Jahren wurde das Dreiviertelporträt üblicher, und Sandro Botticelli (1455–1510) gehörte mit zu den Künstlern, die diese innovative Bildnisform aufgegriffen haben. Eindrücklichstes Beispiel ist sein Bildnis eines jungen Mannes mit Medaille aus den Uffizien in Florenz. Dabei war es nicht nur die erstaunliche Lebensnähe der Bildnisse des niederländischen Malers Hans Memling (um 1430–1494), die italienische Künstler und Auftraggeber faszinierten. Im stetigen Wettstreit mit der Bildhauerkunst „war die Malerei in Florenz hinsichtlich der dominanten Produktion von Porträtbüsten herausgefordert, der in Terrakotta oder Marmor memorierten vollplastischen Ähnlichkeit illusionistisch überzeugende Konkurrenz zu machen“ (Schumacher 2009, S. 26).
Mino da Fiesole: Büste des Piero de’ Medici (um 1453); Florenz, Bargello
Im Vordergrund des hochformatigen Gemäldes von Botticelli ist ein junger Mann dargestellt. Seine frontal wiedergebene Brustpartie nimmt den unteren Teil des Bildes ein; er trägt einen dunkelgrünen, vorne geöffneten Mantel aus samtigem Stoff, darunter ist ein annähernd gleichfarbenes und oben mit einer Schleife geschlossenes Wams zu sehen. Unmittelbar über der Schleife lugt etwas weißer Stoff hervor, wohl der obere Saum eines Unterhemdes. Die Hals- und Kopfpartie darüber wird uns nicht mehr en face, sondern im Dreiviertelprofil gezeigt. Das gefurchte Kinn und die ebenmäßige Nase weisen nach links, die kastanienfarbenen, gewellten und sehr fülligen Haare fallen rechts sanfter ab als links; die karmesinrote Kappe sitzt wegen der Kopfwendung schräg auf dem Haupt. Auf den ersten Blick scheint uns der junge Mann anzusehen, doch bei näherer Betrachtung ist zumindest der Augapfel seines linken Auges dafür zu weit nach rechts verschoben. Sieht er nach oben oder nach unten? Das Gesicht changiert zwischen Hinwendung zum und Abwendung vom Betrachter: Während der Kopf sich gerade noch zu ihm zu drehen und sein rechtes Auge ihn zu fixieren scheint, ist der Blick des linken bereits an ihm vorbeigehuscht. Auch die Mimik des Dargestellten ist uneindeutig: Haben wir eine leicht lächelnden, freundlichen Mund vor uns – oder ist der Gesichtsausdruck verschlossen und beinahe herablassend?
Der Porträtierte hat die Hände vor der Brust spangenartig um den Rand einer Medaille gelegt; der kleine Finger der linken Hand steht etwas ab, wohl um die beiden dort getragenen Ringe zeigen zu können; mit dem geritzten Karneol neben dem Smaragd wird ein leuchtender Farbakzent gesetzt, der das Rot der Kappe wiederholt. Der Kopf des jungen Mannes ist aus der Mittelachse leicht nach links herausgerückt, die Medaille wiederum hält er nach rechts vor seinem Herzen. Die Medaille selbst gehört nicht zur Malfläche, sie besteht aus vergoldetem Stuck und ist separat in eine kreisrunde Öffnung der Tafel eingefügt. Sie zeigt ein Profilbildnis Cosimos il Vecchio (1389–1464), des Gründers der Medici-Dynastie.
Andrea del Verrocchio: Bildnis des Cosimo de’ Medici (um 1464); Berlin, Bode-Museum
Der Dargestellte muss sich an einem erhöhten Standort befinden, denn hinter ihm öffnet sich eine Landschaft, die sich dem Betrachter wie aus der Vogelschau darbietet. Grüne Auen mit eingestreuten Bäumen und Sträuchern sowie in der Ferne verblauende Hügel säumen ein breites Flussbett, das von Oberkörper und Kopf des jungen Mannes weitgehend verdeckt wird; vom silbrigen Wasserspiegel bleibt allein die Uferzone hinter den Schultern und Haaren sichtbar. Körperkontur und Flussrand sind aufeinander abgestimmt: Links folgt der Flussverlauf zunächst der Schulter-Diagonale, um dort, wo mit dem aufbauschenden Haar eine Richtungsänderung eintritt, entsprechend umzubiegen; die Welligkeit des Gestades und der Locken ähneln sich. Der Kopf selbst erhebt sich fast vollständig über das Flusstal und ragt vor einem spärlich bewölkten Himmel auf. Immer wieder ist hervorgehoben worden, dass Botticelli seine männlichen Porträts mit physiognomischen Merkmalen versehen hat, die sie einander alle sehr ähnlich machen: Der Maler stattete viele seiner Jünglinge und Männer mit starken Wangenknochen, dominanten Nasen, vollen, geschwungenen Lippen und insbesondere mit einem langen, vorspringenden Kinn aus.
Hans Memling: Bildnis eines Mannes mit einer Münze Kaiser Neros (1473/74);
Antwerpen, Koninklijk Museum for Schone Kunsten
Botticellis Gemälde nimmt innerhalb seines Œuvres eine Sonderstellung ein, da es sich keiner der beiden Gruppen zuordnen lässt, in die man seine Bildnisse einteilen kann: „Entweder werden die Dargestellten von der Bildarchitektur bis zur Unverrückbarkeit eingekapselt, oder sie erscheinen vor neutralen Hintergründen, dabei bisweilen wie aus undurchdringlichem Dunkel emporleuchtend“ (Dombrowski 2004, S. 40). Das Porträt vor einer Landschaft findet sich dagegen nur hier. Zur Entstehungszeit  des Gemäldes, um 1475, war das in der florentinischen Malerei einzigartig. Botticelli hat sich dabei sicherlich von flämischen Vorbildern anregen lassen, vor allem was den Landschaftshintergrund, die „handelnden Hände“ und die Dreiviertelansicht angeht. Besonders die Nähe zu Hans Memlings Bildnis eines Mannes mit einer Münze Kaiser Neros ist immer wieder betont worden (siehe meinen Post „Die Porträtkunst des Hans Memling“). In späteren Jahren hat Botticelli noch ein weiteres Portät mit einem separat eingefügten Objekt geschaffen, den Jüngling mit Medaillon in Washington, der wohl um 1490 oder noch später zu datieren ist.
Sandro Botticelli: Bildnis eines jungen Mannes (um 1485); London, National
Gallery (für die Großansicht einfach anklicken)
Sandro Botticelli: Jüngling mit Medaillon (um 1490); Washington, National
Gallery of Art
Damian Dombrowski versteht das Vorzeigen der Medaille als stummen Aufruf an den Betrachter, „seine Lebensführung am Beispiel dessen zu modellieren, den die Medaille zeigt. (...) Wie zur Verehrung wird die Medaille dem Betrachter dargeboten; es liegt nahe, darin den eigentlichen Grund der Anfertigung dieses Bildnisses zu vermuten“ (Dombrowski 2004, S. 48). Wie ein Prägestempel wird uns das Vorbild Cosimos entgegengehalten. Viele Humanisten haben den Medici-Ahnherrn als ebenso gelehrten wie großzügigen Herrscher gefeiert und seine Rolle als „pater patriae“ der Florentiner Republik betont. Mit diesem Titel ehrte man posthum, seit 1469, den alten Cosimo; er findet sich auch auf der Medaillenumschrift: „MAGNUS COSMUS/MEDICES PPP“, wobei das „PPP“ für „primus pater patriae“ steht („Der große Cosimo de’ Medici, erster Vater des Vaterlandes“).
Susanne Kress betrachtet Botticellis Gemälde angesichts seines appellativen Charakters als politisches Generationenbild: Sie sieht in dem Dargestellten ein stark idealisiertes Porträt Lorenzo de’ Medicis (1449–1492), der damit also ein Medaillen-Bildnis seines Großvaters in Händen hält. Lorenzo de’ Medici könnte dieses Porträt in Auftrag gegeben haben, weil er wegen seiner Jugend und Unerfahrenheit noch kein eigenes politisches Profil vorweisen konnte. Mit dem Hinweis auf den verehrten Großvaters hätte er somit seinen „dynastischen Willen demonstriert, das Erbe der mit republikanischen Tugenden assoziierten Regentschaft Cosimos anzutreten“ (Schumacher 2009, S. 26).

Literaturhinweise
Dombrowski, Damian: »Terrae praesens non abest ab aethere«. Botticellis »Mann mit Medaille« als Beitrag zum Menschenbild des Quattrocento. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 38 (2004), S. 35–76; 
Howard, Rebecca M.: A Mnemonic Reading of Botticellis Portrait of a Man with a Medal. In: Source 38 (2019), S. 196-205;
Körner, Hans: Botticelli. DuMont, Köln 2006, S. 71-81;
Kress, Susanne: Das autonome Porträt In Florenz. Studien zu Ort, Funktion und Entwicklung des florentinischen Bildnisses im Quatrrocento. Diss., Gießen 1995, S. 190-211;
Schumacher, Andreas: Der Maler Sandro Botticelli. Eine Einführung in sein Werk. In: Andreas Schumacher (Hrsg.), Botticelli. Bildnis – Mythos – Andacht. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2009, S. 15-55.

(zuletzt bearbeitet am 10. April 2021)

Montag, 27. Oktober 2014

Der kirchenkritische Michelangelo


Der obere Teil von Michelangelos Jüngstem Gericht (für die Großansicht einfach anklicken)
„Mir tut es weh, so konservativ bin ich, wenn die Kunst vergewaltigt wird, nur weil die Kirche Geld braucht und fünf Millionen Besucher im Jahr. Im Gedränge, Mief und Stimmengewirr ist keine Kontemplation möglich, nicht einmal das Erfassen einfachster Details. Man müsste in Ruhe den ganzen Gegensatz erklären, der in den Reiseführern verschwiegen wird: Michelangelo bezeugt hier seine kirchenkritische Haltung, statt braver Apostel mit Heiligenschein, die man von ihm erwartete, malte er Propheten und mythische Figuren. Schauen Sie bitte auf Maria, müsste ich flüstern oder schreien, die sich von den hilfesuchenden Menschen abwendet und fast ängstlich auf Christus verweist. Und Petrus bietet ihm die Schlüssel an, der Stellvertreter ist nicht mehr nötig, jedenfalls am Jüngsten Tag. Bitte, meine Damen und Herren, müsste ich rufen, sehen Sie sich die Hölle an, diese Hölle dient nicht der üblichen Angstpropaganda, erstens ist sie relativ klein, zweitens dürfen viele der Höllenkandidaten noch ringen und auf Rettung hoffen, nichts da von augustinischer Erbsündenverdammung, nichts da von Höllenzukunft für die, die den Päpsten nicht gehorchen. So hat mir das einst ein ranghoher Katholik erklärt, Michelangelo als Anhänger früher reformatorischer Ideen, der auf der berühmten Altarwand seine Kritik der Kirche ausmalt, das Ende des Papsttums, des Marienkults und der Sündendrohung. Der Künstler, meine Damen und Herren, hat es nie verschmerzt, das sein beste Freundin, die Gräfin und Dichterin Vittoria Colonna, wegen, vereinfacht gesagt, reformatorischer, vorprotestantischer Ansichten aus Rom verbannt und als Ketzerin bezeichnet wurde, beide inspiriert von später verbotenen sogenannten ketzerischen Schriften. Michelangelo konnte man nicht verbannen. Schauen Sie in San Pietro in Vincoli den Moses einmal richtig an, wie trotzig der den Kopf vom Aberglauben der Petersketten wegdreht. So triumphiert die Kunst über die Dogmen, das ist auch eine frohe Botschaft, meine Damen und Herren. Die Ironie des Weltgerichts, der größte und schönste der römischen Widersprüche: ein beinahe Ketzer schenkt dem Papsttum eine seit fünfhundert Jahren funktionierende Goldgrube! und ein perfektes Logo als Zugabe, die Kuppel des Petersdoms.“

Aus: „Die linke Hand des Papstes“ von Friedrich Christian Delius, S. 68/69 (Berlin Verlag, Berlin 2013)

Montag, 6. Oktober 2014

Allein in Paris – Gustave Caillebotte flaniert mit uns in der französischen Metropole


Gustave Caillebotte: Rue de Paris, temps de pluie (1877); Chicago, The Art Institute of Chicago
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Eine belebte Pariser Straßenkreuzung an einem grauen regnerischen Tag: Auf dem Gehsteig rechts kommt unter einem großes Regenschirm ein elegant gekleidetes Paar auf uns zu; die Nähe der beiden Figuren wird noch dadurch gesteigert, dass sie vom unteren Bildrand überschnitten sind. Ihre Aufmerksamkeit ist abgelenkt, Mann und Frau blicken nach links auf etwas, das außerhalb des Bildfeldes liegt; deswegen scheinen sie den entgegenkommenden, stark angeschnittenen Passanten ganz rechts nicht wahrzunehmen. Um den drohenden Zusammenstoß zu vermeiden, hält dieser seinen Regenschim bereits vorsorglich schräg. Da wir uns als Betrachter mit dem Paar auf gleicher Augenhöhe befinden, entsteht der Eindruck, als seien wir selbst auf dem Gehweg unterwegs und würden einander begegnen. Diese Illusion wird auch dadurch unterstützt, dass die beiden Flaneure fast lebensgroß dargestellt sind und das Bildformat entsprechend ausfällt: 212 x 276 cm misst Gustave Caillebottes Gemälde Rue de Paris, temps de pluie von 1877.
Diese Aufnahme kann einen Eindruck von den Bildmaßen vermitteln – das lebensgroße Paar im Vordergrund scheint direkt auf den Betrachter zuzukommen (für die Großansicht einfach anklicken)
Nach oben und zur Bildtiefe hin wird die Szene durch die beiden Regenschirme abgeschlossen, die dem Betrachter weitgehend den Blick versperren; die beengte Situation rechts kontrastiert mit dem weiten Straßenraum in der linken Bildhälfte. Dort nimmt vor allem das Pflaster den offenen Vordergrund ein; die leicht aufgewölbten Steine, zwischen denen sich das Wasser sammelt, werden dabei der glatten, spiegelnden Oberfläche des Gehwegs rechts gegenübergestellt. Nur vereinzelt überqueren Passanten die Kreuzung im Mittelgrund, der Fahrverkehr beschränkt sich auf zwei stark überschnitten gezeigte Kutschen. Im Hintergrund sind vor den Hausfassaden in kleinerem Format deutlich Passanten zu sehen – erst sie vermitteln dem Betrachter den Eindruck städtischer Betriebsamkeit. Die kühle Feuchtigkeit des regnerischen Tages überträgt sich in der graublauen Atmosphäre, die die ganze Szene durchdringt. Sie wird nur durch wenige Farbakzente belebt.
Allein zu zweit in den Straßen von Paris
Die Nähe des vor uns aufragenden Paares ist geradezu bedrängend – und dennoch nehmen die beiden keinerlei Verbindung zu uns auf. Auch die anderen Figuren machen einen „abwesenden“, auf sich selbst bezogenen Eindruck. Vom Betrachter abgewandt oder im Profil dargestellt, sind die in verschiedene Richtungen gehenden Einzelpersonen oder Zweiergruppen zudem durch weiten Raum voneinander abgesetzt. Die feucht schimmernden Regenschirme, die die Figuren überfangen, betonen ihre Isolation noch. „Als anonym bleibende Andere angesehen (...), wird ihre Gleichartigkeit nicht nur durch diese sich rhythmisch wiederholenden Schirme, sondern auch durch die einheitlich dunkle Kleidung übersteigert“ (Frey 1999, S. 165). Auch das Paar im Vordergrund bildet hier nicht wirklich eine Ausnahme: Obwohl sich die Dame bei dem Herrn eingehängt hat und beide unter einem Schirm zusammengefasst sind, wirken sie jeweils ganz in ihre eigenen Wahrnehmungen versunken.
Den gleichförmigen Figuren entspricht die einheitliche Farbstimmung des Gemäldes – vor allem aber entspricht ihnen die äußerst geordnete architektonische Umgebung: die regelmäßigen Quader des Pflasters, die sternförmig ausstrahlenden Straßen, die sich weit in die Tiefe ziehenden Gebäudeblöcke mit ihren durchlaufenden Balkonen und der starren Abfolge ihrer Fenster und Schornsteine. Caillebotte verzichtet auch darauf, bekannte bzw. erkennbare Pariser Bauwerke abzubilden – die Örtlichkeit ist so allgemein gehalten wie der Titel des Bildes, ebenso fehlt alles Anekdotische. Der Blick auf eine Straßenkreuzung wird hier „zur Darstellung der menschlichen Existenz in der modernen Stadt schlechthin“ (Frey 1999, S. 166).
Caillebotte hat für sein Gemälde eine Reihe von vorbereitenden Skizzen und Studien angefertigt – sein Bild ist sehr sorgfältig durchkomponiert. Während die grüne Straßenlaterne zusammen mit ihrer Reflektion auf dem Pflaster die Bildfläche vertikal halbiert, dient der auf etwa halber Höhe verlaufende Horizont dazu, die Leinwand auch waagerecht zu unterteilen und damit zu vierteln. „Zusammen mit der stabilen Viertelung der Bildfläche gleicht dieses sich wiederholende Regelmaß der Bildelemente eine sich aus der Asymmetrie der Personenverteilung und der Spannung von Nah und Fern entwickelnde Dynamik aus“ (Frey 1999, S. 165).
Trotz dieser genau überlegten Verteilung der Bildelemente erfasst Caillebotte überzeugend das Augenblickliche dieser Alltagsszene. Durch die angeschnittenen Figuren wirkt sein Gemälde wie eine Momentaufnahme aus dem modernen Pariser Straßenleben, der Fotografie verwandt. Überhaupt verwendet Caillebotte fotografische Stilmittel noch weitgehender als jene Malerkollegen, die sich von der neuen Bildkunst ebenfalls inspirieren lassen (wie z. B. Edgar Degas). So hat er mit Hilfe von fotografischem Anschauungsmaterial in Rue des Paris, temps de pluie präzise optische Phänomene wie den Weitwinkel genutzt, um den Vordergrund auszuweiten und zu vergrößern und den Hintergrund zu verkleinern. Solche verzerrenden Effekte waren in den 1860er Jahren durch die Erfindung neuer Linsen möglich, wurden jedoch vor allem dokumentarisch und nicht künstlerisch eingesetzt. Durch seinen Bruder Martial, einen engagierten Amateurfotografen, war Caillebotte mit den Prozessen und Möglichkeiten des neuen Mediums vertraut.
Eines der vielen Pariser Haussmann-Appartement-Häuser, die  bis heute das Stadtbild prägen
Caillebotte zeigt uns eine Pariser Straßenszene nach der radikalen Stadtumgestaltung, die 1853 unter Georges-Eugène Haussmann, dem Präfekten Kaiser Napoléons III., eingesetzt hatte. Sie brachte ein völlig verändertes Stadtbild hervor. Zu den einschneidendsten Veränderungen dieser sogenannten Haussmannisierung, die bis Anfang der 1870er Jahre dauerte, gehörte der Abbruch großer Teile der mitelalterlichen Stadtviertel. Am stärksten betroffen waren das Zentrum und die Bereiche rechts der Seine im Nordwesten der Stadt, wo auch Caillebottes Familie seit 1868 wohnte. Der Maler „sah die neue Stadt wachsen, beobachtete, wie die engen und verwinkelten Gassen durch weiträumige Plätze, breite Verkehrsstraßen und große Boulevards ersetzt wurden, und erlebte, wie Paris durch das neue Straßennetz mit repräsentativen Gebäuden in Blockbauweise und einem neuartigen einheitlichen urbanen Mobiliar sowie Park- und Grünanlagen nicht nur zur vorbildhaften europäischen Metropole, sondern zum »Weltwunder« wurde“ (Sagner 2009, S. 21/22). 
Auf Caillebottes Gemälde schiebt sich die Eckfront eines an zwei Straßen verlaufenden Gebäudekomplexes wie ein Schiffsbug ins Bild, der exemplarisch die vereinheitlichende neue Stadtbebauung vor Augen führt. Auf befestigten, sicheren und breiten Gehwegen, einer absoluten Neuerung unter Haussmann, konnten die Passanten selbst bei Regenwetter ungefährdet flanieren. Das Pflaster, dem Caillebotte in seinem Gemälde große Aufmerksamkeit schenkt, erlaubte es den Fußgängern, die großen und von Kutschen befahrenen Boulevards rasch zu überqueren.
Caillebottes Gemälde lässt uns spüren, wie ambivalent der Maler diese neue Stadtgeometrie empfunden haben muss: Die Stadt erscheint auf seinem Bild als vollkommen konstruierter, gleichgeschalteter Raum mit weiten und tiefen Blickfluchten sowie extremen Trichterperspektiven. Gezeigt werden nicht nur die modernen Materialien wie Stein, Pflaster und Gusseisen, sondern auch die Uniformität der typischen neuen Mietshäuser. „Dem einzelnen Haus kam im Stadtkonzept seiner Zeit ebenso wenig Bedeutung zu wie dem einzelnen Menschen: Anonymität beherrschte die Realität“ (Sagner 2010, S. 28). Es ist diese Stimmung der Vereinzelung, die Caillebottes Straßenszene durchzieht: Die Figuren wirken verloren in einem sich gewaltig ausdehnenden, monotonen Stadtraum.
Claude Monet: Boulevard des Capucines (1873); Moskau, Puschkin-Museum
Rue de Paris, temps de pluie wurde in der dritten Pariser Impressionisten-Austellung 1877 gezeigt und erregte große Bewunderung. Es gehört zu einer Gruppe von etwa fünfzig Paris-Ansichten Caillebottes, die zwischen 1875 und 1880 entstanden sind. Mit Sicherheit hatte Caillebotte die erste Impressionisten-Ausstellung 1874 besucht und dort auch Claude Monets 1873 gemalten Boulevard des Capucines gesehen, ein Bild, das mit der neuen impressionistischen Maltechnik das verwandelte Paris wiedergab. Caillebotte blieb davon nicht unberührt: Der veränderte Stadtraum, die breite Straße, wurde als neuartiges künstlerisches Thema entdeckt. Als sich Caillebotte diesem Sujet zuwandte, entwickelt er dabei seine eigenwillige, kühne Bildästhetik, mit der er sich eine einzigartige Position zwischen Realismus und Impressionismus sicherte.
Nach 1880 verlor Caillebotte das Interesse am Thema Stadt – er verlagerte seinen Wohnsitz nach Petit Gennevilliers, einem kleinen Ort an der Seine, wo seine weiteren Werke deutlich impressionistischer wurden. Als Caillebotte 1894 mit nur 45 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls starb, hatte er fast 500 Bilder  geschaffen.

Literaturhinweise
Forgione, Nancy: Everyday Life in Motion: The Art of Walking in Late-Nineteenth-Century Paris. In: The Art Bulletin 87 (2005), S. 664-687;
Frey, Andrea: Der Stadtraum in der französischen Malerei 1860–1890. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1999, S. 163-172;
Sagner, Karin: Gustave Caillebotte. Neue Perspektiven des Impressionismus. Hirmer Verlag, München 2009.

(zuletzt bearbeitet am 30. August 2020)