Montag, 12. Mai 2025

Die ungleichen Schwestern – Albrecht Dürers sogenannte „Fürlegerinnen“

Albrecht Dürer: Bildnis einer jungen Frau mit offenem Haar (1497);
Frankfurt, Städel Museum (für die Großansicht einfach anklicken)

Zu Albrecht Dürers bekanntesten Bildnissen gehören die beiden Tüchleinmalereien mit halbfigurigen Porträts zweier junger Frauen im Frankfurter Städel und in der Berliner Gemäldegalerie. Die beiden Bildnisse sind offensichtlich als Gegenstücke konzipiert worden und bis 1830 vermutlich nie voneinander getrennt gewesen.

Auf dem Frankfurter Bild präsentiert Dürer den Oberkörper einer jungen Frau etwa von der Hüfte an und leicht nach rechts gewandt Die Hände sind auf Brusthöhe erhoben und zum Gebet gefaltet. Die Figur ist eng an den vorderen Bildrand geschoben, reagiert aber in keiner Weise auf den Betrachter: Vor blaugrünem neutralen Hintergrund neigt sie den Kopf nach vorne und leicht nach rechts und schlägt dabei die Augen nieder, die nur einen Spalt breit geöffnet sind. Ganz in sich gekehrt, scheint sie von ihrem Gebet völlig in Anspruch genommen.

Das auffälligste Merkmal der jungen Frau ist ihr hüftlanges, in der Mitte sorgsam gescheiteltes goldblondes Haar, das in gleichmäßigen Locken über Schultern und Oberarme fällt und diese vollständig bedeckt. Ein schwarzes, mit Perlen besetztes Schapel ist um die Stirn gelegt und bändigt die Haarfülle, die auf der Schädelkalotte glatt anliegt. Die Dargestellte trägt einen dunkelgrünen, rot gefütterten Rock, dessen Ausschnitt und Mittelsaum mit einer bräunlich-roten Borte besetzt ist. Ein in den Ausschnitt gestecktes weißes Brusttuch, am oberen Rand mit einer Nadel gesichert, verhüllt ihr Dekolleté. Von der linken Hand hängt vermutlich eine zwischen Daumen und Zeigefinger gehaltene Paternoster-Schnur herab, bei der auf jeweils zehn rote Perlen eine etwas größere aus Silberfiligran gelötete Kugel folgt.

Dürer hat das Porträt auf einer extrem dünnen Leinwand ausgeführt, das in der Vergangenheit leider ausgedehnt retuschiert wurde, vor allem im Gesicht, in den Händen und im Brusttuch. „Darüber hinaus ist die ursprüngliche Tüchleinmalerei mit Wasserfarben unter großflächiger Übermalung mit Ölfarbe und mehreren Firnissen nur noch zu erahnen“ (Brinkmann 2005, S. 273). Damit nicht genug, wurde dem Bild 1976 bei einem Diebstahlsversuch 1977 weiterer Schaden zugefügt: Die Täter schnitten die Leinwand aus dem Rahmen und versteckten sie nach Alarmauslösung hinter einem der Flügel von Stefan Lochners Apostelmartyrien, wo sie unmittelbar darauf aufgefunden wurde.

Albrecht Dürer: Bildnis einer jungen Frau mit geflochtenem Haar (1497);
Berlin, Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken)

Das Berliner Bildnis zeigt dieselbe junge Frau oder eine ihr sehr ähnlich sehende enge Verwandte im gleichen Figurenausschnitt, doch ist der Eindruck ein ganz anderer: Wo die Frankfurterin ins Gebet versunken ist, blickt ihr Berliner Gegenstück dem Betrachter ebenso selbstbewusst wie prüfend ins Gesicht. Spiegelbildlich, nun nach links orientiert, erscheint die Halbfigur hinter einer steinernen Brüstung und im Winkel eines Innenraumes. Die linke Seitenwand ist durchfenstert und gibt jenseits einer gemauerten Hofeinfassung den Blick frei auf eine ferne Landschaft. Die junge Frau ist, anders als ihr Frankfurter Pendant, aufwendig gekleidet und hat die geflochtenen Haare kunstvoll hochgesteckt.

Albrecht Dürer: Nürnberger Tanzkleid (1501); Basel Kupferstichmuseum

Tracht und Frisur stimmen mit jenem Kostüm überein, das Dürer selbst in einer heute in Basel aufbewahrten Zeichnung festgehalten und als Nürnberger Tanzkleid bezeichnet hat. Zu diesem gehört die festliche rote Farbe, das betonte Dekolleté und der auffällig unauffällig inszenierte Schmuck, der, an einem schwarzen Band um den Hals getragen, unsichtbar im Busen verborgen ist. „Der werbende, ja erotische Charakter der Darstellung wird zusätzlich noch durch die beiden Pflanzen unterstrichen, die die junge Schöne etwas geziert in ihrer Rechten präsentiert: ein Stängel Sternkraut (Aster atticus) und zwei Stängel Stabwurz (Artemisium abrovatum)“ (Sander 2013, S. 102). Dem Sternkraut wurde nachgesagt, sinnenverwirrende Trugbilder hervorrufen zu können; die Stabwurz galt ausdrücklich als Pflanze des Liebeszaubers.

Albrecht Dürer: Bildnis Elsbeth Tucher (1499); Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister

Die Platzierung der Figur in einer Raumecke mit Fenster entspricht einem von zahlreichen Porträts dieser Zeit wohlvertrauten Schema; Dürer selbst hat es wiederholt verwendet, wie ein Blick auf das zwei Jahre später entstandene Bildnis der Elsbeth Tucher zeigt (siehe meinen Post „Auf kleinem Format groß rauskommen“). Doch für den damaligen Betrachter muss der direkt auf den Betrachter gerichtete Blick einer unverheirateten jungen Frau irritierend gewesen sein: „Zusammen mit den ostentativ präsentierten Pflanzen, die erotisches Verlangen und Liebeswerben signalisierten, findet sich auch der selbstbewusste Blick eher in einer anderen Bildgattung wieder, die allerdings ausschließlich Männern vorbehalten war – dem Brautwerbebild“ (Sander 2013, S. 102). Eine Stängel Sternkraut hält Dürer übrigens auch auf seinem 1493 datierten Selbstbildnis im Louvre, das wiederholt mit seiner bevorstehenden Heirat mit Agnes Frey in Zusammenhang gebracht worden ist.

Albrecht Dürer: Selbstbildnis (1493); Paris, Louvre

Auch das Frankfurter Porträt wirft Fragen auf: Zwar war ein betender Stifter seit dem 15. Jahrhundert ein gewohnter Anblick, doch wandte sich die fromme Andacht bei diesem Bildnistypus Christus oder der Madonna selbst zu – nicht aber einer weiteren Porträtfigur. So wie die Frankfurter Beterin ins Bild gesetzt ist, ließ sie den Betrachter des 16. Jahrhunderts eher an eine Verkündigungsmaria, eine Maria in Anbetung ihres Kindes oder auch – wegen ihrer langen Haare – an eine Darstellung einer Maria Magdalena denken als an die Porträtdarstellung einer Zeitgenossin. Man könnte hier also durchaus von einem „Rollenporträt“ sprechen.

Traditionell wurde das Frankfurter Bildnis als „Fürlegerin“ bezeichnet, also als weibliches Mitglied der Nürnberger Familie Fürleger. Gleiches gilt für das Berliner Porträt. Doch die entsprechenden Wappen auf der Rückseite der beiden Tüchlein sind nachträglich angebracht worden, und es lassen sich auch keine weiblichen Mitglieder dieser Familie nachweisen, die zur Entstehungszeit der „Tüchlein“ das Alter der porträtierten Frauen gehabt hätten. Denkbar wäre, dass die Bildnisse erst lange nach ihrer Herstellung in den Besitz der Fürleger gelangten und gar keine Angehörigen dieser Familie zeigen. Bodo Brinkmann hat vorgeschlagen, in dem Doppelbildnis Arbeiten zu sehen, die Dürer ohne Auftrag ausgeführt und in denen er möglichweise zwei seiner Schwestern, Agnes (geb. 1479) und Katharina (geb. 1482), porträtiert habe. Ähnlich wie seine gemalten Selbstbildnisse hätten dann auch diese Gemälde potenziellen Interessenten beim Besuch der Dürerschen Werkstatt die Bandbreite seiner künstlerischen Möglichkeiten vor Augen führen können (siehe meinen Post „Seht her, ich bin ein Künstler!“).

Giovanni Bellini: Sacra Conversazione (um 1490); Vendig, Galleria Dell'Accademia

Albrecht Dürer: Nürnbergerin und Venezianerin (um 1495);
Frankfurt, Städel Museum

Auffällig bei Dürers Porträt-Pendants ist der Gegensatz zwischen spätgotischer (Berlin) und italienisierender Figurenbildung (Frankfurt). Die Hände der Frankfurterin sind wahrscheinlich eine Übernahme aus einer halbfigurigen Sacra Conversazione von Giovanni Bellini (1430–1516): Dürer hat das Gemälde auf seiner ersten Italienreise 1494/95 in Venedig studieren können und dabei vor allem die hl. Katharina links genauer in Augenschein genommen. Die Gegenüberstellung dieser Stillagen könnte von Dürer sehr gezielt vorgenommen worden sein. „Eine bewußte Konfrontation zwischen Fremdem und Heimatlichem, die sich nicht nur auf das Kostüm beschränkt, sondern auch die Bewegung der Figuren mit einbezieht, sucht Dürer jedenfalls auf der bekannten Zeichnung mit der Nürnbergerin und der Venezianerin“ (Brinkmann 2005, S. 285).

Albrecht Dürer: Selbstbildnis (1498); Madrid, Museo del Prado
Albrecht Dürer: Bildnis Albrecht Dürer d.Ä. (1497); London, National Gallery

Wenn die Vermutung richtig ist, dass Dürers Madrider Selbstbildnis (1498) und das Porträt seines Vaters (1497) vom Künstler selbst zu einem Diptychon zusammenfasst wurden, dann bestünde damit eine enge Parallele zu den sog. Fürlegerinnen: Auch das Bildnispaar von Vater und Sohn vereint ja ein Porträt vor neutralem Grund mit dem Typus „Fensterausblick“, kontrastiert einen betont schlicht gekleideten mit einem aufwendig ausstaffierten Mann.

 

Glossar

Die Paternoster-Schnur ist der Vorläufer des im Spätmittelalter entstandenen Rosenkranzes.

Das Schapel ist ein im 12. Jahrhundert aufgekommener reifenförmiger Kopfschmuck für Männer und Frauen.

 

Literaturhinweise

Brinkmann, Bodo: Albrecht Dürer, Bildnis einer jungen Frau mit offenem Haar. In: Bodo Brinkmann/Stephan Kemperdick (Hrsg.), Deutsche Gemälde im Städel 1500–1550. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2005, S. 273-287;

Brinkmann, Bodo: Albrecht Dürer: Zwei Schwestern. Städel Museum, Frankfurt am Main 2006;

Hirschfelder, Dagmar: Dürers Gemälde auf Leinwand. In: Daniel Hess/Thomas Eser (Hrsg.), Der früher Dürer. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 2012, S. 356-357;

Sander, Jochen (Hrsg.): Dürer. Kunst – Künstler – Kontext. Städel Museum, Frankfurt am Main 2013, S. 102-103.


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