Montag, 20. Januar 2025

Der Weg ins Dunkel – Caspar David Friedrichs „Frühschnee“ (um 1828)

Caspar David Friedrich: Frühschnee (um 1828); Hamburg, Kunsthalle
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Wir sehen einen verschneiten, beiderseits von niedrigen Tannen gesäumten Weg, der auf einen dichten Fichtenwald zuläuft. Vor den dunklen, eng beieinander stehenden Baumstämmen, die wie eine düstere Wand den Blick versperren, biegt der Weg nach rechts ab, ohne dass sich jedoch erkennen ließe, wohin er führt. Unmittelbar am oberen Bildrand zeigt sich in einem kleinen Bereich oberhalb der Baumwipfel ein hellblauer, von freundlichen weißen Wölkchen besetzter Himmel. Genau auf der senkrechten Mittelachse, die ausgreifenden Zweige eingefasst von den linken und rechten Vertikalen des Goldenen Schnitts, hebt sich eine sanft beschneite Fichte von den dunklen Stämmen des Waldes ab.

Caspar Dacid Friedrich: Der Chasseur im Walde (um 1813), Privatbesitz
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Caspar David Friedrich hat dieses Frühschnee genannte Gemälde um 1828 gemalt. Eng mit diesem verwandt ist sein um 1813 entstandenes Bild Der Chasseur im Walde. Es zeigt einen im bedrohlich einsamen Winterwald verlorenen, wahrscheinlich französischen Soldaten und wird gemeinhin als politischer Kommentar Friedrichs im Kontext der Freiheitskriege gegen Napoleon (1813 bis 1815) gedeutet. Der Fichtenwald meint sinnbildlich die im Vertrauen auf ihre Befreiung zusammenstehenden Deutschen, die dem Franzosen den Untergang bereiten werden. Der im Vordergrund auf einem Baumstumpf hockende Rabe ist daher eindeutig als Todessymbol zu verstehen – er singt dem Soldaten sein Sterbelied, so die „Vossische Zeitung“ anlässlich der Ausstellung des Gemäldes im Oktober 1814 in der Berliner Akademie. Von „heiligem Zorn“, gar Hass ist auf dem Bild allerdings nichts zu spüren: „Friedrich gibt dem Gegner die Gelassenheit eines Menschen, der das ihm bestimmte Schicksal mit Würde erwartet. (…) Der Chasseur hat keine Eile, denn er weiß, daß er die Heimat nicht mehr sehen wird“ (Hofmann 2000, S. 96/98). Kompositorisch unterscheiden sich Frühschnee und der Chasseur kaum voneinander, der entscheidende Unterschied liegt im Fehlen von Mensch und Rabe.

Caspar David Friedrich: Das Kreuz im Gebirge (1807/08); Dresden, Gemäldegalerie

Friedrich selbst verglich das Immergrün der Tannen mit der immerwährenden Hoffnung der Gläubigen auf Christus – so in einer seiner seltenen Äußerungen über seine Kunst, zu der er sich im sogenannten Ramdohr-Streit um sein Gemälde Das Kreuz im Gebirge veranlasst sah (siehe meinen Post „Der große Mittler“). Entsprechend hat der Friedrich-Forscher Helmut Börsch-Supan den Frühschnee christlich gedeutet: Der auf den Wald zulaufende Weg versinnbildliche – wie so oft auf den Bildern Friedrichs – den Lebensweg, der zum Tod führt. Es ist ein Weg, den der Mensch am Ende ganz allein beschreiten muss, und wir als Betrachter sind es, die ihn – zumindest mit den Augen – auf Friedrichs Bild betreten haben und entlanggehen. „Der Wald in seiner unheimlichen Dunkelheit erscheint jedoch nicht als das Ziel des Weges, vielmehr erweckt der blaue Himmel darüber die Vorstellung einer heiteren Gegend hinter dem Wald“ (Börsch-Supan 1987, S. 158). Ebenso verweise die durch den Schnee durchscheinende Erde darauf, dass Winter und Tod Übergangsstadien für ein neues Leben seien. Damit wäre auch der Frühschnee eine „allegorische Landschaft“ Friedrichs, die die christliche Auferstehungshoffnung versinnbildlicht, vergleichbar seinem Dortmunder Winterlandschaft mit Kirche (siehe meinen Post „Gemalter Glaube“).

Caspar David Friedrich: Winterlandschaft mit Kirche (1811);
Dortmund, Museum für Kunst und Kulturgeschichte

Literaturhinweise

Bertsch, Markus/Grave, Johannes (Hrsg.): Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2023, S. 180;

Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Prestel-Verlag, München 41987, S. 158;

Hofmann, Werner (Hrsg.), Caspar David Friedrich 1774 – 1840. Prestel-Verlag, München 1974, S. 199 und 282-283;

Hofmann, Werner: Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit. Verlag C.H. Beck, München 2000, S. 96-98.


Mittwoch, 15. Januar 2025

Raum ist in der kleinsten Hütte – Adam Elsheimers „Jupiter und Merkur bei Philemon und Baucis“

Adam Elsheimer: Jupiter und Merkur bei Philemon und Baucis (1608/09); Dresden, Gemäldegalerie

Der römische Dichter Ovid (43 v.Chr.–12 n.Chr.) erzählt in seinen berühmten „Metamorphosen“ die Geschichte von Philemon und Baucis, die von den beiden antiken Göttern Jupiter und Merkur besucht werden (VIII, 611–724). Jupiter und Merkur wandern in Menschengestalt über die Erde; an tausend Türen bitten sie um Unterkunft – überall werden sie abgewiesen. Schließlich nehmen die alten, einträchtig zusammenlebenden Eheleute Philemon und Baucis sie in ihre ärmliche Hütte auf. Sie unternehmen alle erdenklichen Anstrengungen, um es den Gästen, in denen sie zunächst keine Götter erkennen, bequem zu machen. Sie bieten sogar an, ihre einzige Gans für die beiden Fremden zu schlachten. Zum Dank werden sie später von dem Untergang, der ihre ganze Umgebung trifft, verschont. Die Hütte wird in einen Tempel verwandelt, dem die Eheleute als Priester dienen. Und statt den Tod des jeweils anderen betrauern zu müssen, werden sie am Ende ihres Lebens im selben Augenblick zu Bäumen.

Adam Elsheimer (1578–1610) zeigt auf seinem um 1608/09 entstandenen Gemälde, einem kleinformatigen Kupfertäfelchen (16,5 x 22,5 cm), nicht die Verwandlung der beiden Eheleute, sondern konzentriert sich auf die auch bei Ovid ausführliche geschilderte Bewirtung der Götter. Die niedrige Tür und die Beengtheit der fensterlosen, aus rohen Balken zusammengefügten Hütte, das mit einem einfachen Polster bedeckte Bett, die emsigen Bemühungen um die beiden Gäste – all das entnimmt der deutsche Maler den „Metamorphosen“ und reichert es noch um weitere Motive an (wie etwa ein Bild an der Wand). Selbst die Gans, die die Alten für die Wanderer opfern wollen und die auf Geheiß der Götter verschont bleibt, ist im Vordergrund zu sehen.

Jupiter und Merkur haben abwartend Platz genommen, während Baucis mit Tüchern und decken für sie das Nachtlager bereitet und Philemon Speisen herbeiträgt. In ihrer legeren Haltung sind die olympischen Götter als solche kaum erkennbar, „der Maler schildert sie gleichsam mit den Augen der unwissenden Alten“ (Klessmann 2006, S. 170). Elsheimer fügt an verschiedenen Stellen seines Bildes künstliche Beleuchtung ein, um die verschiedenen Facetten der Handlung zu hervorzuheben. In der rechten Bildhälfte werden schwächere Lichtquellen verwendet, um die Vorbereitungen des kärglichen Mahles zu illuminieren: Aus dem Hintergrund tritt Philemon, der eine Kerze in der Hand hält, mit dem frisch geernteten Kohl herein, während rechts von ihm ein Feuer in der Herdstelle glimmt. Ein aus Fischen und Gemüsen bestehendes Stillleben am unteren Bildrand erhält seine Beleuchtung von einem kleinen Öllicht.

Eine größere Intensität – und damit das Zentrum der Handlung betonend – hat die Lampe, die auf dem Tisch in der linken Bildhälfte abgestellt ist. Sie wird von den beiden Göttern flankiert, deren Gesichter auf diese Weise besonders herausgehoben sind. „Die Helligkeit geht von den Göttern aus, die das ärmliche Leben von Philemon und Baucis verändern werden“ (Klessmann 2006, S. 173). Die am unteren Bildrand erkennbare Gans verdeutlicht, dass sie sich in diesem Moment den beiden Alten zu erkennen geben. Auf das für die „Metamorphosen“ konstitutive Thema der Verwandlung weist auch das „Bild im Bild“ hin: Das an der Wand befestigte Blatt zeigt die von Ovid berichtete Tötung des Argus durch Merkur (I, 668-721), der im Auftrag Jupiters die in eine Kuh verwandelte Io befreite.

Pieter Bruegel d.Ä.: Der Tod Mariens (Nachstich von Philips Galle, 1574)

„Im sorgfältigen Umgang mit verschiedenen Lichtqualitäten, deren Intensitäten differenziert und genau abgewogen werden, offenbart sich die Einbindung Elsheimers in die niederländische Tradition“, so Mirjam Neumeister (Neumeister 2003, S. 283). Allen voran wäre hier die Grisaille Der Tod Mariens von Pieter Bruegel d.Ä. (1525/30–1569) zu nennen (1564 entstanden), die Elsheimer wahrscheinlich über den Nachstich durch Philips Galle kannte. Der intensive Lichtfokus, der Maria umgibt, zeichnet sie als Zentrum des Bildes aus – dem entspricht bei Elsheimer die sich ankündigende Offenbarung der beiden Götter. Daher erfasst der Schein des Öllichts nicht nur die Götter, sondern auch die Weinkaraffe, die sich während des Mahles nicht leeren wird und somit auf das spätere Wunder vorausdeutet.

Die Betonung der für die Handlung entscheidenden Motive erzielte Elsheimer durch ein stark zurückgenommenes, aus der Beimischung von Schwarz entstehendes Kolorit, das im Kontrast zu der ausgeprägten Farbigkeit im Umkreis der Lichtquellen steht. „Diese bewirken aufblitzende, durch aufgetupfte weiße Höhungen angezeigte Glanzlichter, welche die Aufmerksamkeit des Betrachters lenken (Neumeister 2003, S. 283). So erfüllt ein abendliches Dunkel, durch einen tiefen Braunton wiedergegeben, den Raum, dessen gemütlich-trauliche Wirkung durch die im Kerzenschimmer nur schemenhaft hervortretenden Details wie die Deckenbalken oder einzelne Einrichtungsgegenstände gesteigert wird. Das gelbliche Licht der Leuchtmittel erzeugt eine warme Tonigkeit, die Elsheimers harmonisch-idyllische Tischszene prägt.

Adam Elsheiemr: Der Brand Trojas (1600/01); München, Alte Pinakothek
Adam Elsheimer: Judith enthauptet Holofernes (1601/03);
London, The Wellington Museum
Adam Elsheimer: Die Flucht nach Ägypten (1609); München, Alte Pinakothek

Das Gemälde fügt sich damit in eine Reihe von „Nachtstücken“, die Elsheimer in Rom anfertigte, so etwa Der Brand Trojas, Judith enthauptet Holofernes (siehe meinen Post „Barock-Splatter“) und Die Flucht nach Ägypten. Sie wurden in Nachstichen und Kopien verbreitet und inspirierten Maler wie Peter Paul Rubens und Rembrandt zu eigenen Kompositionen (siehe meinen Post „Friedvolle Flucht“).

 

Literaturhinweise

Klessmann, Rüdiger: Im Detail die Welt entdecken. Adam Elsheimer 1578–1610. Edition Minerva. Wolfratshausen 2006, S. 170-173;

Neumeister, Mirjam: Das Nachtstück mit Kunstlicht in der niederländischen Malerei und Graphik des 16. und 17. Jahrhunderts. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2003, S. 281-283.


Freitag, 3. Januar 2025

Märchenhafter Zauber – Adam Elsheimers „Heilige Familie mit Engeln und dem kleinen Johannes der Täufer“

Adam Elsheimer: Heilige Familie mit Engeln
und dem kleinen Johannes der Täufer (um 1599);
Berlin, Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken)

Der in Frankfurt am Main geborene Maler Adam Elsheimer (1578–1610) ließ sich im Jahr 1600 in Rom nieder, wo er im Alter von nur 32 Jahren starb. Seine meist kleinformatigen Bilder, überwiegend auf Kupfer und in miniaturhaft feiner Ausführung unter Zuhilfenahme einer Lupe gemalt, machten ihn berühmt und wurden besonders von seinen Künstlerkollegen hoch geschätzt, u.a. von Peter Paul Rubens. Zeitlebens hat sich Elsheimer mit der Darstellung des Lichts auseinandergesetzt und dabei sowohl stimmungsvolle Landschaften im Mondlicht geschaffen wie auch geheimnisvolle nächtliche Innenräume, die nur von spärlichem Kerzenschein erleuchtet werden. Der deutsche Maler war aber auch ein spannender Erzähler: Auf seinen Bildern werden dramatische Ereignisse wie die Sintflut, brutale Mord- und Marterszenen und ebenso erstaunliche christliche Wunder geschildert. Elsheimers früher Tod und seine langsame Malweise sind der Grund dafür, dass er ein überschaubares Werk hinterlassen hat: Gegenwärtig sind nur 40 Gemälde von seiner Hand bekannt. Zwei davon habe ich in diesem Blog bereits vorgestellt: Die Steinigung des Stephanus (siehe meinen Post „Palmzweige für den Sieger“) und Der hl. Christophorus (siehe meinen Post „Nichts leuchtet heller“). Diesmal soll es um Die Heilige Familie mit Engeln und dem kleinen Johannes der Täufer aus Berlin gehen (um 1599 entstanden).

Auf seinem Kupfertäfelchen (37,5 x 24,3 cm) mit rundbogigem Abschluss führt Elsheimer zwei Erzählungen zusammen: die Ruhe der Heiligen Familie auf der Flucht nach Ägypten und die Begegnung des Jesuskindes mit dem Johannesknaben auf der Rückkehr aus Ägypten, von der nur Legenden erzählen. In einer dicht bewaldeten Landschaft hat sich Maria, traditionell mit rotem Gewand und blauem Mantel bekleidet, am Fuß eines Baumes mit abgebrochener Krone niedergelassen. Sie hält ihren Sohn mit der rechten Hand auf dem Schoß und hat ihre Linke auf den Rücken des kleinen Johannes gelegt, der das Jesuskind mit einer Umarmung begrüßt. Links neben Maria sitzt, angetan mit einer kostbaren Dalmatika und das Gesicht ins Profil gewendet, ein großer geflügelter Engel und nimmt mit seiner Linken den Ärmel ihres Mantels in die Hand. Er ist als Begleiter des jungen Besuchers anzusehen, denn vor ihm hat Elsheimer die Insignien des Täufers platziert, das Lamm mit dem Kreuzstab. Mit dem Tier ist das Lamm Gottes gemeint, von dem im Johannes-Evangelium die Rede ist (Johannes 1,29). Auf der schmalen Fahne, die sich um den Rohrstab windet, ist das Wort „Ecce“ zu lesen, das mit „Agnus Dei“ ergänzt werden muss.

Albrecht Altdorfer: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (1510);
Berlin, Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken)

Am rechten Bildrand sitzt Joseph auf einem Baumstumpf, in sich versunken, mit seiner Zimmermannsaxt im Arm. Er dient als Repoussoirfigur, ähnlich der analogen Figur in Albrecht Altdorfers Ruhe auf der Flucht von 1510. Auf seiner Wanderschaft von Frankfurt nach Rom hatte Elsheimer in München auch Werke Altdorfers kennengelernt. Der knorrige Baumstamm auf der linken Seite ragt schräg in die Höhe, wo er abrupt endet und einige Zweige die überirdische himmlische Zone abgrenzen gegen den natürlich blauen Himmel über der zerklüfteten, wilden Gebirgslandschaft im Hintergrund. Von dieser überirdischen Zone gehen geht ein mystisch-göttliches Licht aus, das den gesamten Bildraum durchdringt und der innigen Szene einen geradezu märchenhaften Zauber verleiht.

Tintoretto: Das Markuswunder (1547/48); Venedig, Accademia

Hinter dem Baumstamm kommt oben ein großer Engel hervor, der auf die Szene unter ihm weist. Sowohl dessen Bewegung an sich wie auch die starke Verkürzung, in der ihn Elsheimer wiedergibt, erinnern an den venezianischen Maler Tintoretto (1518–1594). Elsheimer hielt sich, bevor er nach Rom ging, 1599 zu Studienzwecken in Venedig auf, wo er sicherlich dem Werk Tintorettos begegnet ist. Rechts sitzt auf einer unsichtbaren Wolke ein weiterer, Blüten streuender Engel. Ein himmlischer Strahl geht durch seine Hand und verdeutlicht das Herabschweben der Blüten.

Zwischen den beiden Engeln, die ein kompositorisches Gegengewicht zu den großen Figuren unten bilden, zieht sich in mehreren Windungen ein bewegter Reigen kleiner, mit Kränzen geschmückter und einander an den Händen fassender Engel herab, deren unterster huldigend dem Christus-Johannes-Paar einen Blumenkranz darbringt. „So wie der Engelreigen die fernste Himmelszone mit dem Geschehen am Fuße des Baumes im Vordergrund verbindet, so durchpulst das Licht, das die Körper aufscheinen läßt und sich in den Zweigen der Bäume bricht, den Bildraum und erfüllt ihn mit einer poetischen Stimmung, welche Figuren und Landschaft zu einer harmonischen Einheit verbindet“ (Schleier 1998, S. 420). Dieser stille poetische Zauber und die Intimität des kleinen Formats sind unverwechselbare Merkmale der Kunst Elsheimers. Mit dem Berliner Bild hat der Frankfurter Maler, kaum über zwanzig Jahre alt, ohne Frage eines seiner ersten Meisterwerke geschaffen.

Adam Elsheimer: Taufe Christi (um 1599); London, National Gallery
Adam Elsheimer: Steinigung des  Stephanus (um 1603/04),
Edinburgh, National Gallery of Scotland

Das Gemälde kommt in seinem Stil sowie in der Farbigkeit und Lichtführung der Taufe Christi in London nahe, mit der es auch den rundbogigen Abschluss teilt. Auch auf der Taufe Christi erscheint oben rechts ein großer Engel, der ein rotes Gewand oder Tuch trägt und auf die Hauptszene herabsieht. Die beiden Gemälde dürften in kurzem zeitlichen Abstand entstanden sein. Die prächtige Dalmatika des neben Maria sitzenden Engels wiederum weist auf die Roben voraus, die Elsheimer später in seinen Bildern des Hl. Laurentius und der Steinigung des hl. Stephanus gemalt hat.

 

Glossar

Eine Dalmatika ist ein liturgisches Gewand und die Amtskleidung eines Diakons.

Repoussoirfiguren sind Gestalten im Vordergrund eines Gemäldes, die die Funktion haben, den Blick des Betrachters in die Tiefe zu ziehen. Sie werden deswegen häufig von hinten dargestellt.

 

Literaturhinweise

Klessmann, Rüdiger: Im Detail die Welt entdecken. Adam Elsheimer 1578–1610. Edition Minerva. Wolfratshausen 2006, S. 62-65;

Schleier, Erich: Adam Elsheimer, Die Heilige Familie mit Engeln und dem kleinen Johannes dem Täufer (um 1599). In: Gemäldegalerie Berlin. 200 Meisterwerke. Nicolaische Verlagsbuchhandlung Beuermann, Berlin 1998, S. 418-420.


Montag, 30. Dezember 2024

Homo Bulla – Albrecht Dürers Lissabonner „Hl. Hieronymus“ (1521)

Albrecht Dürer: Der hl. Hieronymus im Studierzimmer (1521); Lissabon,
Museu Nacional de Arte Antiga (für die Großansicht einfach anklicken)

Während Albrecht Dürers niederländischer Reise 1520/21 entstanden mehr als zwanzig (zumeist nicht erhaltene) Gemälde, darunter auch ein heute in Lissabon aufbewahrter Hl. Hieronymus. Keine andere Tafel des Nürnberger Meisters ist im 16. Jahrhundert so häufig kopiert, nachgeahmt und variiert worden. Aus Dürers Tagebuch lassen sich die Entstehungszeit recht genau eingrenzen und der Empfänger zweifelsfrei ermitteln. Das Werk wurde für Rodrigo Fernandes de Almada von der portugiesischen Handelsniederlassung in Antwerpen geschaffen, dem Dürer es Mitte März 1521 als Geschenk überreichte.

Albrecht Dürer: Kopf eines 93-jährigen Mannes (1521); Berlin, Kupferstichkabinett

Albrecht Dürer: Kopf eines 93-jähriges Mannes (1521); Wien, Albertina

Als Modell für den Kopf des Kirchenvaters fand Dürer in Antwerpen einen 93-jährigen langbärtigen Alten, den er mit geöffneten Augen porträtierte. Aus dieser Naturstudie entwickelte er dann eine Pinselzeichnung (schwarze Tusche, weiß gehöht auf grauem Tonpapier), die dem Hieronymus-Kopf des ausgeführten Gemäldes nahekommt. Sie befindet sich heute in der Wiener Albertina. Die handwerkliche Perfektion der Pinselzeichnung ist nicht allein aus ihrer Funktion – Vorstudie zu einem Gemälde – zu erklären. „An fremdem Ort will Dürer seine zeichnerische Virtuosität, ja Einmaligkeit beweisen“ (Mende 2003, S. 506), vor allem angesichts der erdrückenden Konkurrenz vor Ort. Denn Dürer zeichnete und malte wie schon 1506 in Venedig auch in Antwerpen quasi öffentlich in seiner Herberge oder im Atelier eines befreundeten Künstlers. Zu Recht ist die Wiener Pinselzeichnung als eines der vollkommensten Meisterwerke Dürers gerühmt worden. Drei andere, das Bild vorbereitende Pinselzeichnungen entstanden gleichzeitig oder schlossen sich an.

Die traditionelle Hieronymus-Ikonografie, der Dürer sich lange verpflichtet fühlte (siehe meine Posts „In der Höhle mit dem Löwen“, „Löwe mit Greis“ und „Der gelassene Gelehrte“), zeigt den Bibelübersetzter und Kirchenvater „im Gehäus“, also in seiner Studierstube oder als Büßer in der Wildnis. Obligatorische Attribute sind in der Regel ein liegender Löwe und/oder ein abgelegter Kardinalshut – Dürer verzichtet jedoch in seinem Lissabonner Gemälde auf beides. Neu und vorausweisend an seiner Darstellung ist die Idee, Hieronymus wie mit einem Teleobjektiv an den Betrachter heranzuholen, ihn als enge Halbfigur ohne erkennbare Raumtiefe zu präsentieren.

Das Gemälde Dürers wird bestimmt durch eine von links oben nach rechts unten verlaufende Diagonale. Den Ausgangspunkt bildet ein naturalistisch gemaltes Kruzifix. Es ist der Sühnetod Christi, über den Hieronymus mit in die Hand gestütztem Kopf nachsinnt. Die Abwärtsbewegung endet sozusagen mit der Einsicht in die menschliche Vergänglichkeit, symbolisiert durch den Gestus der linken Hand, deren Zeigefinger auf einen Totenschädel weist. Seinen Kopf stützt Hieronymus in die rechte Hand– ein Motiv mit antiken Wurzeln. Dürer hat die Geste vor allem als Ausdruck der Melancholie berühmt gemacht. In der Wiener Pinselzeichnung blickt der Kirchenvater mit niedergeschlagenen Augen in ein vor ihm aufgeschlagenes Buch, über dessen Text er reflektiert. Im Gemälde aber blickt Hieronymus den Betrachter direkt an – Dürer hat also während der Arbeit eine bedeutsame Planänderung vorgenommen.

Dürers Lissabonner Hieronymus war wohl nicht als Heiligenbild gedacht, das der häuslichen Andacht dient. Im Zuge der Reformation – die in Nürnberg 1525 eingeführt wurde – bekamen Hieronymus-Darstellungen eine neue, säkulare Funktion. Der frühere „katholische“ Kirchenvater mutierte zum weltlichen Patron der Humanisten, Gelehrten und Übersetzer. Und spätestens mit dem Tod Dürers rückte bei der Bewertung des Gemäldes in den Vordergrund, dass es sich um ein kostbares Original des Nürnberger Meisters handelte. Das früher so wichtige Bildthema war nun zweitrangig.

Lucas van Leyden: Hl. Hieronymus (1521), Oxford, Ashmolean Museum

Der niederländische Grafiker und Maler Lucas van Leyden (1494–1533), der mit einer 1521 datierten Zeichnung das früheste und künstlerisch qualitätsvollste Echo auf Dürers Komposition geschaffen hat, legt auf seinem Blatt dem Kirchenvater das Kruzifix in die rechte Armbeuge und rückt ihn in unmittelbare Nähe des Totenschädels. Das aufwändige Bücherstillleben des Vorbilds verknappt sich bei van Leyden zu einem an den Rand geschobenen Folianten. Wie Dürer schmückt er den Kirchenvater mit einer Kalotte, der Kopfbedeckung, die zu jener Zeit von Gelehrten getragen wurde. Auch bei van Leyden fehlen Kardinalshut und Löwe. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er wie auch Dürer der Hieronymus-Kommentar des Erasmus von Rotterdam bekannt war, in dem betont wird, dass Hieronymus zwar ein Ratgeber von Papst Damasus I. gewesen, jedoch nie in den Kardinalsstand erhoben worden sei. Außerdem gehöre der Löwe nicht in die Heiligenvita des Hieronymus, sondern in die Legende des hl. Gerasimos.

Lucas van Leyden: Hl. Hieronymus (1521); Kupferstich
Albrecht Dürer: Hieronymus im Gehäus (1514); Kupferstich

Während der Niederländer in seiner Zeichnung Dürers auf den Schädel weisende Geste etwas zurückgenommen hatte, sollte er sie kurz darauf noch wesentlich „expressiver“ in einem Kupferstich verarbeiten. Van Leyden rückt den Kirchenvater auf diesem Blatt tiefer in den Bildraum hinein und führt auch die beiden Attribute Kardinalshut und Löwe wieder ein. Durch das runde Bleiglasfenster fällt scharfes Licht auf die Wand – ein Motiv, das van Leyden bei Dürers Kupferstich Hieronymus im Gehäus (1514) gesehen haben wird. Auch der Kopf von Dürers dösendem Löwen mit seinen auffälligen Schlitzaugen und runden Ohren übernimmt der Künstler haargenau, wobei er allerdings das treue Tier den Fuß seines Beschützers lecken lässt.

Quentin Massys/Werkstatt: Der hl. Hieronymus in der Zelle (um 1533); Wien, Kunsthistorisches Museum

Der Bestand an gemalten Kopien und Varianten nach Dürers Urbild ist unübersehbar; die Nachahmung setzte quasi sofort ein. So übernahm der Antwerpener Maler Quentin Massys (1466–1530) das Modell des Deutschen – ein Beispiel hierfür ist das Gemälde im Kunsthistorischen Museum Wien. Es handelt sich dabei um eine nach dem Tod von Massys angefertigte Werkstattkopie nach einem verlorenen Original, das um 1521 entstanden sein dürfte. Massys‘ Hieronymus allerdings legt in einer Geste der Buße seine rechte Hand auf die linke Brust und scheint mit den Fingern der Linken auf den Totenschädel zu trommeln, statt für den Betrachter darauf zu deuten. Damit bleibt das Gemälde noch ganz der spätmittelterlichen Tradition verhaftet. Das Memento mori des Schädels wird durch die erloschene Kerze und das Buch auf dem Pult links, in dem eine Illustration des Jüngsten Gerichts aufgeschlagen ist, zusätzlich betont; ein Kruzifix findet sich nicht. Zur Identifizierung der Figur hat Massys sicherheitshalber wieder den – im Regal auf Büchern abgelegten – Kardinalshut eingefügt.

Marinus van Reymerwaele: Der hl. Hieronymus im Studierzimmer (um 151); Madrid, Prado

Ohne Zeitverzug setzten ebenfalls bereits 1521 Hieronymus-Kompositionen des flämischen Malers Marinus van Reymerswaele (1490–1546) und seiner Werkstatt ein, die Dürers Vorlage manieristisch verfremdeten. Sowohl durch das Querformat als auch in der Szenerie weisen diese Kompositionen eine große Nähe zur Fassung von Massys auf. Von Dürer übernimmt van Reymerswaele den auf den Betrachter gerichteten Blick sowie die auf den Totenschädel zeigende Geste. Die Miniatur des Jüngsten Gerichtes in dem aufgeschlagenen Buch wurde von Dürers gleichnamigem Holzschnitt aus dessen Kleiner Passion übernommen. Das Kruzifix ist auf Hieronymus‘ Schreibtisch platziert, die verlöschte Kerze hingegen befindet sich auf dem Regalbrett, der übergroße Kardinalshut hängt prominent rechts neben dem Heiligen an der Wand.

Joos van Cleve: Der hl. Hieronymus im Studierzimmer (1521); Privatsammlung

Von allen niederländischen Künstlern ahmte Joos van Cleve (1485–1541) Ders Original am getreuesten nach. Seine Hieronymus-Versionen sind allerdings noch expliziter mit Vanitas-Symbolik aufgeladen. In einer heute in einer Privatsammlung befindlichen Version sitzt Hieronymus in einem engen Raum, der an eine Mönchszelle erinnert. Das Schild „HOMO BULLA“ („Der Mensch ist eine Seifenblase“) an der hinteren Wand verweist ebenso auf die menschliche Vergänglichkeit wie die verloschene Kerze und das Stundenglas. Das Butzenscheibenfenster ist aus Dürers Kupferstich von 1514 übernommen, einschließlich der runden Lichtflecken an der Laibung.  

Joos van Cleve: Der hl. Hieronymus im Studierzimmer (1521);
Cambridge. Harvard Art Museum (für die Großansicht einfach anklicken)

In einer Fassung im Harvard Art Museum hat Joos van Cleve Hieronymus in einem deutlich luxuriöseren Ambiente wiedergegeben. Er folgt zwar Dürers Modell, doch ist die Szene nun in einem palastartigen flämischen Renaissance-Interieur angesiedelt. Durch das Fenster ist im Hintergrund eine fruchtbare Hügellandschaft zu sehen. Auf dem Bogen einer Nische mit Lavabokessel und Becken findet sich erneut die Inschrift „HOMO BULLA“. Eine darüber auf der Wand befestigte Schriftrolle mit den Worten „RESPICE FINEM („Bedenke das Ende“) ebenso wie ein Buch mit der Aufschrift „APOCALIPSIS“ betonen das Thema der Vergänglichkeit alles Irdischen. Die zugepfropfte Weinkaraffe und der Rosenkranz sind deutliche Anspielungen auf die Jungfrau Maria, durch die Dürers Vorlage wieder der traditionellen Auffassung angenähert wird. Der immerwährenden Jungfräulichkeit Mariens hatte Hieronymus einen eigenen Traktat gewidmet („De Mariae virginitate perpetu“).

Für die Verbreitung von Dürers Hieronymus-Schema hat Joos van Cleve am meisten getan. Zu einem Treffen der beiden Künstler muss es kurz nach Dürers Ankunft in Antwerpen gekommen sein, als ihm die dortige Lukasgilde (also die Malerzunft Antwerpens), deren Dekan Joos van Cleve 1520 war, einen ehrenvollen Empfang bereitete. Die Kopien und Varianten niederländischer Künstler verdeutlichen, dass in einer religiösen Übergangsperiode in den unterschiedlichen Versionen ähnlicher Kompositionen Details an die Weltanschauung des jeweiligen Kunden angepasst wurden. Anders als bei Dürer stand dabei jedoch nicht das Motiv der Selbsterkenntnis als Vorbereitung auf den Tod im Vordergrund, sondern das spätmittelalterliche theologische Verständnis von Buße.

 

Literaturhinweise

Harth, Astrid/Martens, Maximilian P.J.: Dürers berühmtes Bildnis des heiligen Hieronymus. Entstehung, Bedeutung und Rezeption. In: Peter van den Brink (Hrsg.), Dürer war hier. Eine Reise wird Legende. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2021, S. 429-455;

Mende, Matthias: Der heilige Hieronymus. In: Klaus Albrecht Schröder/Maria Luise Sternath (Hrsg.), Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der Albertina Wien. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2003, S. 503-511;

Sander, Jochen (Hrsg.), Dürer. Kunst – Künstler – Kontext. Städel Museum, Frankfurt am Main 2013, S. 338-343.

Samstag, 21. Dezember 2024

Das bunte Ende der Welt – Luca Signorellis Fresken in der Cappella Nova im Dom von Orvieto

Luca Signorellis gewaltiges Endzeitdrama in ihren verschiedenen Phasen und Schauplätzen

In den Jahren 1499 bis 1502 schuf der italienische Maler Luca Signorelli (1441–1523) in der Cappella Nova des Doms von Orvieto einen der beeindruckendsten Freskenzyklen der italienischen Renaissance. Niemals zuvor war eine so große Fläche in so kurzer Zeit von einem einzigen Meister bemalt worden. Signorelli hatte damit einen Rekord aufgestellt, der erst von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle übertroffen wurde. Dies gilt auch für die handwerkliche und künstlerische Qualität seiner Fresken. „Obwohl er hier – wie bei Aufträgen dieses Umfangs üblich – mit Sicherheit von Gehilfen unterstützt wurde, trägt die gesamte Ausmalung so sehr den Stempel seines markanten und zeichnerisch brillanten Stils, daß die Anteile der Werkstatt kaum auszumachen sind“ (Roettgen 1997, S. 388). Eine derart umfangreiche, in die verschiedenen Phasen und Schauplätze des biblischen Endzeitdramas zerlegte Darstellung hatte es in der Malerei zuvor nicht gegeben.

Der Dom von Orvieto – für sich schon ein Hingucker ersten Ranges

Die Cappella Nova wurde zwischen 1408 und 1444 am nordöstlichen Ende des Doms als Anbau über einem rechteckigen, fast quadratischen Grundriss errichtet. Der Besucher betritt den Kapellenraum durch ein Rundbogentor und sieht sich überaus prächtig geschmückten Wänden gegenüber. Über einer umlaufenden Sockelzone, die etwa die Hälfte der Wandfläche einnimmt und ornamentreiche Architektur in Malerei vortäuscht, blickt er auf die in das Gewölbe hineinragenden Lünetten mit den figurenreichen Malereien Signorellis. Die Bildfelder werden von den Mittelrippen der Gewölbe eingefasst, die zunächst vollplastisch und dann als illusionistisch gemalte Säulen fortgeführt werden. Weitere Malereien Signorellis überziehen die in jeweils vier Segmente unterteilten Gewölbe. Vom Eingang fällt der Blick zunächst auf die Südwand der Kapelle, wo sich über dem von zwei Rundbogenfenstern flankierten Hochaltar noch ein Spitzbogenfenster befindet. Während in der Hälfte der Kapelle, in der sich der Eingang befindet, die letzten Tage der Menschheit und die Auferstehung der Toten geschildert werden, stellte Signorelli im Altarbereich das Jüngste Gericht dar, über dem Christus als Weltenherrscher thront.

Luca Signorelli: Die Taten des Antichrist (für die Großansicht einfach anklicken)

Der Freskenzyklus beginnt mit den Taten des Antichrist auf der vorderen Hälfte der Ostwand. Der Antichrist ist dem biblischen Buch der Offenbarung zufolge der in der Endzeit als Zeichen für die Wiederkunft Christi und das Weltgericht auftretende Mensch, der als Werkzeug Satans durch Scheinwunder einen gewaltigen Glaubensabfall verursachen, aber von Christus vernichtet werden wird. Signorelli hat dieser Figur christusähnliche Züge verliehen, „die ihn als Parodie des Heilands erscheinen lassen und ihm eine eigentümlich diabolische Wirkung verleihen“ (Bokern 1999, S. 17). Auf den zweiten Blick erkennt man, dass sich unter seinen Haaren lange, spitze Ohren verbergen. Der Antichrist steht auf einem Sockel im Vordergrund, und Satan, der neben ihm steht, flüstert ihm die Predigt direkt ins Ohr. Die beiden Figuren verschmelzen miteinander, zumal Satan keinen Unterleib hat und sich kaum bestimmen lässt, ob der linke Arm dem Antichrist oder seinem Einflüsterer gehört. Um ihn herum hat sich seine Anhängerschaft versammelt, die wertvolle Gaben zu seinen Füßen abgelegt hat. Zur Linken des Antichrist erwürgt ein mit einer gestreiften Hose bekleideter Scherge einen Gegner des falschen Christus, während daneben ein Jude in kostbaren Gewändern einer Frau Geld aus seiner Börse überreicht. Die den Antichrist umgebenden Zuhörer setzen sich aus Menschen aller Schichten und Alter zusammen; es sollen aber auch zahlreiche historische Porträts unter den Zuschauern zu identifizieren sein.

Der Antichrist mit dem einflüsternden Satan

Ausgehend von der zentralen Szene, wird der Blick des Betrachters in einer Kreisbewegung nach rechts um das eigentümlich leere Zentrum des Freskos herum durch das Bild geleitet. Direkt hinter der Figur des Antichrist erblicken wir eine Gruppe glaubenstreuer Mönche, deren Anführer bereits gen Himmel auf das kommende Ende des falschen Christus durch das Schwert des Erzengels Michael hinweist. Rechts hinter den Mönchen ist die Ermordung zweier Widersacher des Antichrist von dem Tempel Salomos zu beobachten, bei denen es sich vermutlich um die biblischen Propheten Enoch und Elias handelt – jene zwei Zeugen aus der Johannes-Offenbarung, die der Überlieferung zufolge von den Anhängern des Antichrist erschlagen werden. Der Tempel Salomos, das traditionelle Sinnbild der Kirche, wird von mit Lanzen bewehrten Soldaten gestürmt. Von hier aus wird der Blick des Betrachters nach links gelenkt, wo eine der falschen Wundertaten des Antichrist zu sehen ist, der in Nachahmung Christi einen Toten zum Leben erweckt.

Die letzte dargestellte Episode schildert die Niederlage des Antichrist und der Armeen von Gog und Magog gegen den Erzengel Michael, der den falschen Propheten mit einem Schwert niederschlägt, als dieser versucht, die hochmütigste seiner Taten zu begehen, nämlich in den Himmel aufzufahren. Der in extremer Verkürzung dargestellte, von einer Strahlenaureole umhüllte Erzengel stürzt mit einem Hieb seines Schwertes den Frevler direkt in das Heer seiner grausamen Helfer hinab, die nun vom göttlichen Strafgericht ereilt werden. Als stiller Beobachter der Szenerie hat Signorelli unten links ein Selbstporträt eingefügt, ebenso das eines Dominikanermönches, bei dem es sich vermutlich um Fra Angelico (1395–1455) handelt. Fra Angelico war im Juni 1447 mit der Ausmalung des Gewölbes beauftragt worden und hatte den thronenden Christus als Weltenrichter geschaffen, der umgeben wird von Engelschören und Propheten. Nach 1449 waren dann keine Maler mehr in der Kapelle tätig, die Freskierung wurde dann erst wieder 1499 von Signorelli fortgesetzt.

Luca Signorelli: Das Ende der Welt (für die Großansicht einfach anklicken)

Der Zyklus setzt sich mit dem Ende der Welt fort, das zur Linken des Antichrist-Freskos um den Eingang der Kapelle herum angeordnet ist. Den Übergang vom vorhergehenden Fresko bilden die Figuren einer Sibylle, die in einem Buch mit ihren Prophezeiungen blättert, sowie eines predigenden Propheten, der auf das kommende Unheil weist, und einiger gebannter Zuhörer. Nach der Flut und dem Brand der Meere und Flüsse schwitzen Bäume und Pflanzen Blut, stürzen die Gebäude ein (der Tempel Salomos liegt nun in Ruinen), zerbrechen die Felsen. Dann bebt die Erde und tut sich auf, Berge stürzen ein, die Menschen fliehen aus ihren Unterschlüpfen, und die Erde spuckt die Toten aus.

Bevor das Weltgericht beginnt, fallen die Sterne vom Himmel, stirbt alles Lebendige, und Himmel und Erde brennen. Signorelli lässt diesen Schlussakt mit der Verdunkelung von Sonne und Mond beginnen und mit einem vom Himmel fallenden Blutregen. Besonders effektvoll sind die vier Feuerströme, die die geflügelten Dämonen Im linken oberen Bereich des Freskos auf die Menschenmenge herabspeien (Offenbarung 8,7). Die Menschen kommen aus ihren Verstecken hervor – die Ausweglosigkeit ihres Schicksals zeigt sich daran, dass sich überall das gleiche Verzweiflungsdrama abspielt. Am deutlichsten wird dies an der explosiven Dynamik der Figuren im Vordergrund, die, von dem längsten Feuerstrahl getroffen, zu Boden gestürzt sind und von den Fliehenden zertreten werden.

Luca Signorelli: Auferstehung der Toten (für die Großansicht einfach anklicken)

Die aus dem linken Bildrand flüchtenden Figuren leiten über zur Darstellung der Auferstehung der Toten, die sich direkt gegenüber der Taten des Antichrist befindet. Im oberen Teil dieses Freskos präsentieren sich dem Betrachter zwei große apokalyptische Engel, die auf Posaunen blasen, von denen Fahnen mit dem Kreuz der Auferstehung wehen. Es ist der Auftakt zur Auferstehung der Toten, die sich im unteren Teil des Freskos ereignet. Die Skelette erheben sich aus der Erde, wie es in einer Vision des alttestamentlichen Propheten Hesekiel vorhergesagt wird: „Des Herrn Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des Herrn und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt. […] Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich und die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. […] Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer“ (Hesekiel 37,1-10; LUT). Die Körper sind in den verschiedenen Stadien ihrer Fleischwerdung dargestellt: Während manche bereits wieder wie lebendige Menschen aussehen, sind andere noch Skelette. Auf traditionellen Darstellungen der Auferstehung stiegen die Toten aus ihren geöffneten Gräbern und Särgen; Signorellis Auferstehende erheben sich dagegen aus einer glatten, harten Fläche und blicken voller Hoffnung gen Himmel zu den beiden von Putten begleiteten Engeln. Das Fresko vermittelt den Eindruck zeitloser Ruhe vor dem tosenden Chaos des Weltgerichts.

Fra Angelico: Christus der Weltenrichter (für die Großansicht einfach anklicken)

In der Gewölbekappe über dem Altar thront der von anbetenden Engeln umgebene Christus als Weltenrichter in einer aus Wolken gebildeten Mandorla. Seine Seitenwunde ist deutlich sichtbar, und in der Linken hält er die von einem Kreuz bekrönte blaue Himmelskugel, die ihn ebenso wie der Kreuznimbus als Herrscher über das All (Pantokrator) ausweist. Christus gegenüber erscheinen die. Die erhobene Rechte Christi mit dem Wundmal und sein Blick sind auf die Verdammten gerichtet, die zu seiner Linken von Teufeln zum Eingang der Hölle getrieben werden. Getrennt durch das Fenster, ist zur Rechten Christi (d. h. auf der linken Altarwand) die Berufung der Erwählten dargestellt. Diese auf der Altarwand vollzogene Scheidung zwischen Gut und Böse, Himmel und Hölle, findet ihre inhaltliche Ergänzung auf den jeweils anschließenden Bildfeldern der Seitenwände.

In den Kappen der Wölbung sind Gruppen von Propheten, Patriarchen, Aposteln, Märtyrern und Jungfrauen dargestellt, die den Weltenrichter umgeben. Sie werden in der Johannes-Offenbarung beschrieben und vertreten das Reich Gottes, was sich daran zeigt, dass diese Felder mit einem geschlossenen Goldgrund hinterlegt sind. Um ihre Identifizierung zu erleichtern, hat Signorelli sie mit lateinischen Inschriften versehen. Maria ist der Gewölbekappe zur Rechten Christi mit den zwölf Aposteln zugeordnet, die Petrus und Paulus als Beisitzer des Weltgerichts anführen, während Johannes der Täufer in dem noch von Fra Angelico gemalten gegenüberliegen Feld mit den 16 Propheten erscheint. Maria und Johannes verweisen durch ihre herausgehobene Position zu Seiten Christi auf das für das Jüngste Gericht entscheidende Motiv der Fürbitte. In der vierten Gewölbekappe dieses Joches sind zehn Engel mit den Arma Christi zu sehen, also den auf die Passion Christi verweisenden Leidenswerkzeuge. Die kompakte Darstellung der Figurengruppen ist eine bedeutsame ikonographische und formale Neuerung in der Kunst des 15. Jahrhunderts. Fra Angelico hat mit seinen Fresken den „Prototypus des Allerheiligenhimmels geschaffen, der insbesondere nach der Gegenreformation in der Ausmalung von Kuppeln barocker Kirchen zu einem dominierenden Thema wurde“ (Roettgen 1997, S. 390). In den Zwickeln der Gewölbekappen steht je eine Posaune blasender Engel – sie verweisen auf die Auferstehung der Toten aus ihren Gräbern. Signorelli hat sie auf der rechten Wand dann nochmals wiederholt.

Luca Signorelli: Eintritt der Seligen in den Himmel (für die Großansicht einfach anklicken)

Zu beiden Seiten Christi werden an den Wänden die Ereignisse geschildert, die dem Jüngsten Gericht folgen: An der Ostwand, zur rechten Jesu, zeigt Signorelli die Krönung der Auserwählten, auf der östlichen Hälfte der Altarwand den Eintritt der Seligen in den Himmel. Wie die Auferstehenden sind auch die die nahezu unbekleideten Seligen Auserwählten alle im idealen Alter von etwa dreißig Jahren dargestellt. Auffallende viel Menschenpaare stehen beieinander, die an Adam und Eva erinnern, jedoch anonym bleiben. Einige von ihnen werden von den Engeln gekrönt, musikalisch begleitet von einem auf Wolken thronenden Engelorchester mit Saiteninstrumenten. Auch auf dem schmalen Wandfeld der Altarwand werden die Erwählten von musizierenden Engeln empfangen. Überhaupt spielen Engel in diesem Freskenzyklus eine beherrschende Rolle. „Diese betonte Rolle der Engel entspricht der Offenbarung des Johannes, die als Grundlage der bildlichen Darstellungen des Jüngsten Gerichts anzusehen ist“ (Roettgen 1997, S. 392). Engel schützen und betreuen nicht nur die Auserwählten, sie überantworten auch die verdammten ihrem Schicksal. Nie zuvor sind sie jedoch in so martialischer Aufmachung dargestellt werden – ganz in Eisen gerüstet, erfüllen die Heerscharen des Weltenrichters ihre Aufgabe.

Luca Signorelli: Die Verdammten (für die Großansicht einfach anklicken)

Zur Linken Christi sind dagegen an der Seitenwand Die Verdammten zu sehen, die von Dämonen grausam gequält und ins Höllenfeuer geworfen werden, Drei im Himmel stehende Engel überwachen das höllische Chaos und halten sich mit ihren Schwertern zudringliche Teufel vom Leib. Zwei nackte Leiber stürzen von oben rücklings in das Flammenmeer des Höllenschlundes, der sich auf der linken Seite auftut, während ein anderer Teufel eine junge Frau auf seinem Rücken gefesselt hat und mit ihr durch die Luft fliegt. An der Altarwand findet der ebenfalls von zwei großen Engeln bewachte Eintritt der Verdammten in die Hölle statt, bei dem im Vordergrund ein Dämon einen Verdammten mit der Linken an den Haaren reißt und mit der Rechten auf ihn einschlägt.

Signorellis Teufel haben bis auf ihre grellen Farben und ihre wilden Gesichter ein geradezu menschliches Aussehen, wodurch sie zwar den Schrecken des Dämonischen und Phantastischen verlieren, aber umso unheimlicher wirken. Das Neuartige an diesen Höllenwesen ist ihre körperliche Vollkommenheit: „Satan und seine Diener treten als faszinierende Verführer auf, die noch eine Ahnung davon vermitteln, daß sie einst Engel waren“ (Roettgen 1997, S. 393). Ebenso wohlgestaltet sind ihre Opfer: Ihre wohlproportionierten und muskulösen Körper weisen keinerlei Anzeichen der ihnen angetanen Qualen auf. Lediglich ihr Gesichtsausdruck gibt eine Vorstellung von ihren körperlichen Leiden. Der Boden, auf dem die Menschen stehen, ist im Höllenbild in starker Aufsicht wiedergegeben, die eine Staffelung der dicht gedrängten Figurengruppen bis in den Mittelgrund ermöglicht. Die riesigen, frei in der Luft stehenden Engel erscheinen frontalansichtig, die herabstürzenden Teufel und Menschen dagegen in starker Untersicht.

Signorelli übernimmt Motive aus Dantes Divina Commedia

Im Zentrum des Eintritts in die Hölle ist der Fährmann Charon dargestellt, der im Inferno von Dantes Divina Commedia die Schatten der Toten über den Fluss in die Unterwelt geleitet. Bei der Gruppe der Verzweifelten auf dem rechten Ufer des Flusses handelt es sich um die Niederträchtigen, die dazu verdammt sind, ewig umherzuirren und die noch nicht einmal in der Hölle Aufnahme finden. Den Vordergrund nimmt eine höchst dramatische Szene ein, in der ein Teufel einen wehrlos auf dem Boden liegenden Mann massakriert. Hinter ihm erkennt man den Grimassen schneidenden Minos, nach Dante der Wächter des Höllentores und Richter der Sünder, an dem mehrfach um seinen Leib gewundenen Schwanz. Szenen aus der Divina Commedia in die christliche Ikonografie des Jüngsten Gerichts einzubeziehen, ist eine der erstaunlichsten Neuerungen, die Signorelli seinen Fresken hinzufügte. An der östlichen Seiten- und an der Altarwand finden sich weitere elf Szenen aus Dantes Werk, nun in Grisaille-Malerei ausgeführt. Sie illustrieren das Purgatorio, Dantes Fegefeuer, das die Vorstufe zum Himmelreich und damit einen Ort des Übergangs zwischen Leben und Tod bildet.

In der Sockelzone der Kapelle hat Signorelli sechs Dichter porträtiert, darunter auch Dante, der hier als einziger neuzeitlicher Autor zwischen antiken Poeten erscheint. Beinahe alle Dichter sitzen an schreibpultartigen Fenstersimsen und sind von Büchern umgeben; ihre Bildnisse werden von Grotesken, aber auch von Grisaille-Szenen umfangen, die Werke des jeweiligen Autors verbildlichen. Die Identifikation der einzelnen Dichterporträts ist allerdings äußerst umstritten.

Luca Signorelli: Dante

Die Fresken an den Seitenwänden des Eingangsbereichs sind, beginnend mit den Taten des Antichrist, in ihrer historisch-dramatischen Abfolge horizontal im Uhrzeigersinn zu betrachten. Mit dem Ende der Geschichte endet auch die Chronologie der Fresken: Im Altarbereich der Kapelle, dessen Szenarien im Gegensatz zur irdischen Umgebung nun in eine himmlische Sphäre versetzt sind, gibt es keine zeitliche Ordnung, das Zentrum ist Christus. „Es entsteht so ein Kontrast zwischen Welt und Geschichte gegenüber Jenseits und Ewigkeit“ (Bokern 1999, S. 20). Die auf den Fresken gezeigten Szenen sollen als simultan ablaufende Ereignisse des Weltgerichtsdramas betrachtet werden. Daraus erklärt sich der ähnliche kompositionelle Aufbau der beiden einander gegenüberstehenden Bildfelder mit den Freuden der Erwählten und den Qualen der Verdammten: Der Harmonie des Paradieses steht das Chaos der Hölle gegenüber, jeweils überfangen von dem himmlischen Aktionsfeld der Engel, formal verbunden durch die parallele Anordnung der gedrängten Masse nackter Leiber.

Signorelli hat unterschiedliche Goldgründe verwendet, um zwischen den verschiedenen Realitätsebenen zu differenzieren: Das Gewölbe und die Gerichtswand sowie die Szene mit den Erwählten haben einen einheitlichen Goldgrund. In der Szene mit der Auferstehung der Toten stehen die riesigen, Posaune blasenden Engel vor einem „gepunzten“ Goldgrund, während die untere Zone ebenso wie die Szene mit dem Antichrist und des Weltuntergangs von einem weißgrundigen Wolkenhimmel hinterfangen wird. „Der bleierne Himmel, der über den Taten des Antichrist liegt, ist ein Attribut des Irdischen, desgleichen die Gebäude und die Landschaft, die den Mittel- und Hintergrund dieser Szene und des Weltendes auf der Eingangswand einnehmen“ (Roettgen 1997, S. 391). Während also die Szenen mit Goldgrund letztlich eine Vision vor Augen stellen, ist hier ein Ausblick in die diesseitige Welt gemeint.

Ein wichtiger Ausgangspunkt für den Zuschnitt der Fresken in der Cappella Nova dürfte die Wandgliederung der Sixtinischen Kapelle gewesen sein, an deren Ausmalung Signorelli mitgearbeitet hatte. Die enorme Höhe der Kapelle – mit 13,90 Metern bleibt sie nur wenig unter der Sixtina – hat Signorelli dadurch bewältigt, dass er der Sockelzone eine sonst nicht übliche Höhe und Gestaltung gab. Indem er außerdem die Lünetten über die Konsolen der Gewölbedienste hinaus nach unten zog, wurden aus den Bogenfüllungen großflächige Wandfelder. Die Gliederung des Raumes in zwei Joche setzt sich in der Wandgliederung fort, indem die Gewölbekonsolen auf gemalte Kleeblattpfeiler gestellt sind, die bis zur Fußleiste der Bildfelder bzw. bis zur Oberkante des gemalten Gesimses reichen. Es trennt die beiden Bildregister voneinander und schafft einen horizontalen Ausgleich zur Höhe des Raumes. Die seitlichen Rahmungen der Bildfelder sind wie Fensterlaibungen in perspektivischer Untersicht gegeben, wobei die fiktiven Öffnungen so gestaltet sind, dass sie sich hinter den real vorhandenen Gewölberippen zu befinden scheinen. Somit ergibt sich zwischen den Bogenöffnungen und der vordersten Bildebene eine Bühne, auf der einige Figuren besonders weit in den Vordergrund rücken. Der Boden, auf dem die Figuren stehen bzw. liegen, reicht teilweise bis an die vorderste Kante des Gesimses heran, das die Sockelzone abschließt. Signorelli stellt hier seine meisterhafte Beherrschung der Perspektivmalerei unter Beweis.

Michael Wolgemut Predigt des Antichrist (1493); Holzschnitt
Michelangelo übernimmt in seinem Jüngsten Gericht die Figuren Charon und Minos von Signorelli

Die Thematik des Antichrist war im 15. Jahrhundert sehr populär und wurde insbesondere in der Druckgrafik des Nordens häufig dargestellt. Als mögliches Vorbild für Signorelli Fresko wurde mehrfach auf den Holzschnitt von Michael Wolgemut (1434–1519) hingewiesen, der in der sehr verbreiteten Weltchronik von Hartmann Schedel enthalten ist. Michelangelo wiederum fand bei Signorelli Anregungen für sein Jüngstes Gericht in der Sixtina: So hat er etwa das Motiv der helfenden Hände für die aufsteigenden Erlösten übernommen, die auferstehenden Skelette, den Verdammten als Rückenlast des Teufels und schließlich auch den konzeptionellen Gedanken, die biblische Hölle mit Elementen aus Dantes Inferno auszustatten, wie etwa den Charonnachen und den Höllenwächter Minos.

 

Literaturhinweise

Bokern, Anneke: »Nun wird keine Zeit mehr sein«. Luca Signorellis Fresken in Orvieto, der Millenniarismus und das Jahr 1500. In: Anneke Bokern/Petra Gördüren, Die letzten Dinge. Jahrhundertwende und Jahrhundertende in der Bildenden Kunst um 1500 und 2000. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1999, S. 15-49;

Roettgen, Steffi: Wandmalerei der Frührenaissance in Italien. Band II: Die Blütezeit 1470–1510. Hirmer Verlag, München 1997, S. 384-421;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.