Sonntag, 16. November 2025

Rembrandt radiert das Dunkel (3) – „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ (um 1644) und „Flucht nach Ägypten“ (1651)

Rembrandt: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (um 1644); Radierung

Nach der Geburt Jesu erscheint Josef ein Engel im Traum und mahnt ihn zur Flucht nach Ägypten, da König Herodes den neugeborenen Heiland töten lassen will (Matthäus 2,13). Zusammen mit der jungen Mutter und ihrem Kind bricht er daraufhin mitten in der Nacht auf. Über die sicherlich beschwerliche Reise berichtet die Bibel mit keiner Silbe, nur die Ankunft in Ägypten wird vermeldet, wo die Heilige Familie bis zum Tod des Herodes ausharrt. Es sind apokryphe Texte, die anekdotenhaft von dieser Flucht erzählen – dazu gehört z. B. die als Ruhe auf der Flucht bezeichnete Episode, die sich seit dem 16. Jahrhundert als Bildthema großer Beliebtheit erfreute. Rembrandt hat es in einem etwa um 1644 entstandenen radierten Nachtstück dargestellt.

Die Heilige Familie rastet im Schutz von Wald und Nacht. Auf ihre Reise deuten verschiedenen Gegenstände hin, so eine Satteltasche und der mit Leinen gefüllte Korb am linken Bildrand. Ebenfalls erkennbar ist ein Esel, der von rechts seinen Kopf in das Bild streckt. Eine Laterne spendet Licht und erhellt das Laub, wodurch ein Halbkreis entsteht, der einem schützenden Dach gleicht. Während das Licht auf den ebenso alten wie müden Josef fällt, umfängt Maria und das Jesuskind am vorderen Bildrand die Dunkelheit. Mit aufgestütztem Kopf blickt Maria zu ihrem friedlich schlafenden Sohn herab, den sie eben noch gestillt hat, wie ihre entblößte Brust verrät.

Rembrandt rückt die Rastenden auf seiner kleinformatigen Radierung (9,3 x 6 cm) nah an den Betrachter heran und verwendet das Motiv der Maria lactans, bei dem Maria dem Knaben gewöhnlich die Brust gibt und das fest zum Darstellungsschema der Ruhe auf der Flucht gehört. War die Gottesmutter mit dem Jesuskind jedoch allgemein leicht im Bild zu entdecken, müssen wir uns nun regelrecht anstrengen, um die Frau als Maria zu identifizieren. Auch das Stillen deutet Rembrandt lediglich durch die entblößte linke Brust an (vom Betrachter aus gesehen), die wir erst nach längerer Ansicht bemerken und die sich von der Kleidung kaum abzuheben scheint.

Ihre Kopfbedeckung charakterisiert Maria als Romni. „In der Vorstellung des 17 Jahrhunderts kamen Zigeuner aus Ägypten, weshalb ihre Kleidung daran angelehnt wurde“ (Kaden 2017, S. 162). Rembrandt rückt die Heilige Familie an diese gesellschaftliche Randgruppe heran, die sich, von der Gemeinschaft ausgestoßen und heimatlos, auf ständiger Wanderschaft befindet. Maria wird weder durch einen Nimbus noch durch eine erhabene Pose hervorgehoben; auch der Jesusknabe ist ohne Heiligenschein oder ein helles Strahlen, das von ihm ausgeht, gekennzeichnet. Zusätzlich ist die Identifikation der beiden durch die Dunkelheit erschwert, da unsere Aufmerksamkeit anfangs auf den beleuchteten Josef gelenkt wird, der in der Heilsgeschichte jedoch eine untergeordnete Rolle spielt.

Rembrandt verlangt von uns also, länger und gründlich hinzuschauen: Unser Auge muss Mutter und Kind im Dunkeln ausfindig machen. Zugleich dürfen wir uns von ihrer schlichten Gestalt nicht täuschen lassen – wir sollen erkennen, dass sich das Hohe im Niedrigen verbirgt. Die Gottesmutter und der Messias zeigen sich uns in Gestalt einer Romni und eines hilflosen, von Häschern gejagten Kindes. Marias aufgestützter rechter Arm changiert zwischen Erschöpfung und Melancholie. Auch Joseph blickt nicht nur müde, sondern ebenso traurig in die Richtung des kleinen Jesus. Rembrandt deutet damit an, dass die beiden das spätere Schicksal des Kindes – seine Passion – bereits erahnen.

Rembrandt: Flucht nach Ägypten (1651); Radierung

Wir kennen von Rembrandt noch ein weiteres radiertes Nachtstück, das die Heilige Familie auf ihrem Weg nach Ägypten zeigt (1651 entstanden). Einzige Lichtquelle ist auch hier eine von Josef getragene Laterne, die jedoch nur schwach die unmittelbare Umgebung aufhellt – darin ist die Grafik mit dem Blatt Anbetung der Hirten von 1657 vergleichbar (siehe meinen Post „Rembrandt radiert das Dunkel“). Einzig Josef wird vom Schein der Laterne etwas aus der Dunkelheit herausgehoben, von Maria und den sie tragenden Esel nehmen wir beinahe nur Konturlinien wahr. Hell erscheint lediglich ein Teil von Marias Kopfbedeckung und das Köpfchen des Jesusknaben.

Rembrandt: Anbetung der Hirten (1657); Radierung
Rembrandt: Flucht nach Ägypten – Überquerung eines Bachs (1654); Radierung

1654 entsteht eine weitere radierte Flucht nach Ägypten, auf dem die Heilige Familie wie auf dem Blatt von 1651 in bildparalleler Bewegung wiedergegeben ist, diesmal jedoch von links nach rechts. Die Gruppe durchquert behutsam einen Bach; eingebunden ist sie in ein Helldunkel, das keine genaue Angaben über die Tageszeit ermöglicht. Rembrandt zeigt Maria nun in der würdevollen Haltung einer sitzenden Madonna, die ihr Kind schützend unter ihrem Manteltuch birgt. Josef, der den Esel mit seiner Rechten führt und in seiner Linken keine Laterne, sondern eine Wanderstab hält, versinkt wie das Tier mit den Beinen Im Wasser. Die Figuren verbindet dabei eine sie umgebende Schattenzone, wobei die Helligkeitswerte bei Maria konzentriert sind.

 

Literaturhinweise

Kaden, Sandra: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (um 1644). In: In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 162:

von Berswordt-Wallrabe, Kornelia (Hrsg.): Rembrandt fecit. 165 Rembrandt-Radierungen aus der Sammlung des Staatlichen Museums Schwerin. St. Gertrude GmbH, Hamburg 1995, S. 54-57.

 


Montag, 10. November 2025

Rembrandt radiert das Dunkel (2) – „Grablegung Christi“ (1654)

Rembrandt: Grablegung Christi (1654, 1. Zustand); Radierung

Rembrandts Grablegung Christi zählt zu einer Gruppe von vier gleichformatigen und mit ähnlichen Techniken entstandenen Radierungen aus den fünfziger Jahren des 17. Jahrhunderts, die der Künstler möglicherweise zu einer geplanten, aber nie vollständig realisierten Serie von Darstellungen aus dem Leben Christi angefertigt hat. Bei den anderen drei Radierungen handelt es sich um die Darbringung im Tempel, eine Kreuzabnahme bei Fackelschein (siehe meinen Post „Rembrandt radiert das Dunkel“) und Christus in Emmaus (siehe meinen Post „Gehaltene Augen“). Im Bereich der Radierungen gehört die in vier Zuständen ausgeführte Grablegung Christi zweifellos zu Rembrandts weitestgehenden Experimenten, wobei es sogar innerhalb ein- und desselben Zustands mehrere Grade der Einfärbung und eine große Verschiedenheit der Papiersorten zu verzeichnen gibt.

Rembrandt: Darbringung im Tempel (um 1654); Radierung
Rembrandt: Kreuzabnahme Christi bei Fackelschein (1654); Radierung
Rembrandt: Christus in Emmaus (1654); Radierung

Der erste Zustand, der nur aus radierten Linien besteht, zeigt uns einen überwölbten Raum, den eine Grabplatte und zwei Totenköpfe an der Rückwand als Gruft kennzeichnen. Dort wird der Leichnam Jesu zur Ruhe gebettet. Der mit einem weißen Tuch umhüllte Tote liegt ganz im hellen Schein einer unsichtbaren Lichtquelle, die vollständig von der vor Christus stehenden, in Rückenansicht gezeigten Figur verdeckt wird. Aus der Tiefe des offenen Grabes ragt der Kopf eines Mannes hervor, der hier bereitsteht, um den Leichnam zu übernehmen. Am vorderen Bildrand sitzt die ihren Schmerz versunkene Mutter Jesu, während ein bärtiger Alter hinter ihr stumm das Geschehen verfolgt – es dürfte sich um Joseph von Arimathäa handeln, der sein eigenes Grab für die Bestattung Jesu zur Verfügung gestellt hatte (Matthäus 27,57-61). Alle Bildelemente sind, bis hin zu den vorwiegend parallelschraffierten Schattenpartien, klar erkennbar.

Rembrandt: Grablegung Christi (1654, 2. Zustand); Radierung

Radikal verändert zeigt sich die Radierung im zweiten Zustand. Die Platte wurde hier mit einem äußerst dichten Netz von radierten Linien überzogen, wobei auch die Kaltnadel und der Grabstichel zum Einsatz kamen. Das Ergebnis ist eine fast totale Finsternis, in der sich die räumliche Situation nur noch erahnen lässt; die Figuren schimmern kaum sichtbar hervor, am deutlichsten zeichnen sich dabei der Leichnam Christi und dessen Träger ab.

Rembrandt: Grablegung Christi (1654, 3. Zustand); Radierung
Rembrandt: Grablegung Christi (1654, 4. Zustand); Radierung

Dieses nivellierende Dunkel nahm Rembrandt im dritten und vierten Zustand etwas zurück: Die Figuren wurden durch das Abschleifen verschiedener Partien wieder mehr aufgehellt, so etwa die still leidende Mutter Jesu und der sich auf einen Stab stützende Joseph von Arimathäa. Dabei blieb jedoch der Charakter des Nachtstücks erhalten. Auch das Grab und die Architektur sind nun wieder deutlicher zu erkennen: Das Gewölbe gewann seine Form zurück, und die beiden Schädel heben sich gegen die nunmehr fahl schimmernde Rückwand ab, wobei Christi Leib das am hellsten beleuchtete Bildelement bleibt.

 

Literaturhinweise

Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Ein Virtuose der Druckgraphik. SMB DuMont, Köln und Berlin 2006, S. 146-147;

Hinterding, Erik: Licht. In: Bikker, Jonathan/Weber, Gregor J.M. (Hrsg.), Der späte Rembrandt. Hirmer Verlag, München 2014, S. 177-185;

Schröder, Klaus Albrecht/Bisanz-Prakken, Marian (Hrsg.): Rembrandt. Edition Minerva, Wolfratshausen 2004, S. 268.

 


Montag, 3. November 2025

Betörendes Kleinformat – Adam Elsheimers „Pietà“ und „Drei Marien am Grab Christi“

Adam Elsheimer: Pietà (um 1603); Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum
(für die Großansicht einfach anklicken)

Vor Kurzem konnte ich kurz hintereinander in zwei verschiedenen Museen zwei betörend schöne, wegen ihrer geringen Größe leicht zu übersehende Gemälde von Adam Elsheimer (1578–1610) bestaunen: Das eine befindet sich im Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum, das andere im Rheinischen Landesmuseum in Bonn. Bei dem Braunschweiger Bild handelt es sich um eine Pietà: Es zeigt Maria, die sich mit einer umarmenden Bewegung über ihren toten Sohn beugt. Sie hat den jugendlichen, fast zierlichen Körper gegen einen Felsblock gelehnt, stützt seinen Kopf mit der rechten Hand und trocknet mit ihrer Linken das Blut, das aus seiner Seitenwunde quillt. Hinter dem Kopf Christi, auf dem von der Dornenkrone herrührende Blutspuren zu sehen sind, kennzeichnen kleine Lichtstrahlen den Toten als Sohn Gottes. Am linken Bildrand liegen auf einem Stein die für die Hinrichtung verwendeten blutigen Nägel neben einem Glasgefäß mit Salböl und einem ebenfalls blutbenetzten Schwamm. Die Darstellung wird bekrönt von einer Gruppe schwebender Engel die – nach dem Vorbild Raffaels – als körperlose himmlische Wesen nur mit Kopf und Flügeln erscheinen. Auf der Felswand im Hintergrund sind Weinranken erkennbar, hinten links steht ein Feigenbaum, davor ein Holunderbusch und eine blühende Immergrünpflanze. Ein schmaler Bereich unterhalb der Engel, auf dem vielleicht ein von ihnen gehaltenes Tuch vorgesehen war, ist offenbar unvollendet geblieben.

Annibale Carracci: Pietà (1603); Wien, Kunsthistorisches Museum
Michelangelo: Pietà (1499/1500); Rom, St. Peter

Elsheimers Pietà erinnert in ihrer Form an verwandte Darstellungen von Annibale Carracci (1560–1609), in ihrer Stimmung aber auch an Michelangelos Skulptur in St. Peter von 1499/1500. Doch Elsheimer betont gegenüber diesen Werken noch stärker die innige Nähe von Mutter und Sohn und die Verletzlichkeit ihrer schmalen Körper. Stilistisch steht das kleinformatige, auf Kupfer gemalte Bild (21 x 16 cm) in enger Beziehung zu seinem Gemälde Drei Marien am Grab Christi aus dem Rheinischen Landesmuseum in Bonn. Beide Werke verbindet die Nahsicht, die die Figuren nur in Kniehöhe zeigt. Die minutiös wiedergegebenen Pflanzen und Ranken, die von der Felswand herabhängen, bilden bei beiden Werken einen nischenartigen Hintergrund. Außerdem ist ihnen eine intensive, auf Weiß, Blau und Rot gestimmte Farbigkeit gemeinsam. Ähnlich erscheint auch die mädchenhafte Gestalt der Mutter Jesu mit ihrem schmalen, von Trauer gezeichneten Gesicht.

Adam Elsheimer: Drei Marien am Grab Christi (um 1603); Bonn,
Rheinisches Landesmusum (für die Großansicht einfach anklicken)

Das Bonner Gemälde zeigt uns die drei Frauen, die nach dem Ende des Sabbats zum Grab Christi gingen, um seinen Leichnam zu salben. Ein Engel erwartete sie am leeren Grab und verkündete ihnen, dass Jesus von den Toten auferstanden sei (Matthäus 28,1-8; Markus 16,1-8; Lukas 24,1-11; Johannes 20,1-9). Auf Elsheimers Bild wendet sich der Engel den trauernden Frauen zu und stützt sich dabei auf die Deckplatte des Sarkophags, auf dem lateinische Zeilen aus dem Markus-Evangelium erkennbar sind, das damit wohl als Textgrundlage für die Darstellung zu betrachten ist. Im Hintergrund nähern sich Petrus und Johannes, die Maria Magdalena herbeigerufen hatte, ein Detail, das nur im Johannes-Evangelium erwähnt wird.

Caravaggio: Grablegung Christi (1603/04); Rom, Pinacoteca Vaticana

Die erschrocken erhobenen Arme der Trauernden erinnern an die gleiche deklamatorische Geste einer Figur aus Caravaggios Grablegung Christi (siehe meinen Post „Dies ist mein Leib“), die um 1602 entstanden ist und dem damals in Rom lebenden Elsheimer sicherlich bekannt gewesen ist. Mittelpunkt des 25,8 x 20 cm großen Bonner Gemäldes sind die beiden Gestalten im Vordergrund: links Maria Magdalena, die mit ausgestrecktem linkem Arm Auskunft über das leere Grab verlangt, und rechts der Engel, der sich zur Erklärung des Geschehens auf die Steinplatte mit dem Markus-Evangelium stützt. Die genaue Wiedergabe der auch vom Betrachter lesbaren Zeilen der Vulgata mit den Versen 1 bis 7 des 16. Kapitels ist für ein Bild dieser Zeit ungewöhnlich. Die Bäume und Pflanzen, die sich in der Grabeshöhle ausgebreitet haben, erinnern an die urtümlichen Landschaften des niederländischen Landschaftsmalers Paul Bril (1554–1626), der wie Elsheimer in Rom lebte und dem Deutschen persönlich nahestand. Bril war später Besitzer dieses Bildes.

Adam Elsheimer: Verherrlichung des Kreuzes (um 1604/05); Frankfurt,
Städel Museum (für die Großansicht einfach anklicken)

Zwei der Frauenfiguren aus den Drei Marien am Grab Christi hat Elsheimer dann etwa ein Jahr später in seinem Frankfurter Kreuzaltar wieder aufgenommen, und zwar in der Haupttafel der Verherrlichung des Kreuzes. Dort sind sie im Zentrum des Bildes platziert: Erneut ist Maria Magdalena mit dem gläsernem Salbgefäß abgebildet, und aus der zweiten Maria wiederum wird die hl. Katharina, erkennbar an dem Schwert in ihrer Rechten, ihrem Attribut.

 

Literaturhinweis

Klessmann, Rüdiger: Im Detail die Welt entdecken. Adam Elsheimer 1578–1610. Edition Minerva. Wolfratshausen 2006, S. 84-89.

 


Sonntag, 19. Oktober 2025

Rembrandt radiert das Dunkel (1) – „Anbetung der Hirten“ (1657) und „Kreuzabnahme Christi bei Fackelschein“ (1654)

Rembrandt: Anbetung der Hirten (1657); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)

Rembrandts Nachtstücke gehören ohne Frage zu der beeindruckendsten Gruppe seiner zahlreichen Radierungen. Sie waren schon zu Lebzeiten des Künstlers bei Sammlern sehr gefragt. Gemeint sind nächtliche Szenen mit meist biblischen Motiven, die nur durch Lichtquellen wie Laternen, Fackeln oder Kerzen schwach erhellt werden. Rembrandt setzte bei diesen Grafiken die Kaltnadeltechnik ein, um einen tiefen, satten Schwarzton zu erzielen. Zwei dieser Arbeiten will ich hier näher vorstellen, weitere sollen folgen.

Auf der Anbetung der Hirten von 1657 sind die in einem nicht näher bestimmbaren Raum verteilten Personen nur schemenhaft zu erkennen. Allein eine Laterne im Bildzentrum spendet Licht. Da und dort beleuchtet sie eine Hand, lässt ein Gesicht oder den Kopf eines Tieres erkennen. Rembrandt gelingt es, durch die extreme Verdichtung der Schraffen überzeugend die nächtliche Atmosphäre eines abgeschlossenen Raumes wiederzugeben. Wir müssen als Betrachtende dicht an seine Radierung heranrücken, quasi zum Geschehen hinzutreten, um wenigstens einige Details ausmachen zu können.

Die entscheidende Szene wird jedoch nicht vom Schein der Laterne erfasst. Am rechten Bildrand erkennen wir zwischen Stoffen und Stroh den Kopf Mariens und das Antlitz des schlafenden Jesusknaben. Dies ist nur dank einer separaten Lichtquelle möglich, die sich außerhalb des Bildes befindet – wohl eine zweite Laterne, die Joseph nutzt, um in einem aufgeschlagenen Buch zu lesen. Der im verlorenen Profil gezeigte Nährvater Jesu sitzt unmittelbar am rechten Bildrand und blickt von seiner Lektüre auf, als sich die Figuren auf der linken Bildhälfte nähern. Auch Maria schiebt die Decken, in die sie eingehüllt ist, beiseite, um zu sehen, wer da kommt.

Es handelt sich um die herbeigeeilten Hirten aus dem Lukas-Evangelium (2,16; LUT); sie haben sich andächtig dem ruhenden Paar zugewandt und versuchen trotz des undurchdringlichen Dunkels, einen Blick auf die friedvolle Szene zu erhaschen. Selbst das Vieh wendet sich der rechten Bildhälfte zu. Entgegen der Bildtradition zeigt Rembrandt jedoch nicht Ochs und Esel, sondern nur drei Rinder, deren mächtige Häupter vage im Dunkeln auszumachen sind. Der Anführer der Hirten mit der Laterne in der Hand lüftet ehrfürchtig seinen Hut.

Die beschienenen Köpfe zwischen Stroh und Decken lassen sich zwar als Frau und Kind identifizieren, doch kennzeichnet Rembrandt sie weder durch einen Heiligenschein noch durch ein inneres Leuchten. Die Mutter schirmt ihr Kind gegen die Kälte der Nacht und alle äußeren Einflüsse mit ihrem gesamten Körper ab, auch der Schein der Laterne schreckt den Knaben nicht aus seinem Schlaf. Allein das sanfte Licht von außerhalb beleuchtet das direkte Umfeld des Kindes und lässt es erst für uns sichtbar werden.

Gerrit van Honthorst: Anbetung der Hirten (1622), Greifswald, Pommersches Landesmuseum

Die Anbetung der Hirten als Nachtszene darzustellen war in den Niederlanden spätestens seit den Werken des Utrechter Caravaggisten Gerrit van Honthorst (1592–1656) gängig. Anders als bei seinen Zeitgenossen geht bei Rembrandt das Leuchten aber nicht vom Christuskind selbst aus, was der Szene ihre religiöse Überhöhung nimmt. „So steht nicht zuerst die theologische Aussage der Menschwerdung Gottes im Vordergrund, sondern das alltägliche Motiv einer von der Geburt erschöpften Mutter, die zufrieden über den Schlaf ihres Neugeborenen wacht“ (Kayser 2017, S. 152). In dieser Momentaufnahme ist das von allen angebetete Christuskind zuerst „wahrer Mensch“ und erst danach „wahrer Gott“.

Ein Nachtstück ist auch die 1654 entstandene Radierung der Kreuzabnahme Christi. Die einzige Lichtquelle bildet eine Fackel am linken Bildrand. Der Leichnam Christi ist mit Hilfe eines weißen Tuches gerade behutsam vom Kreuz herabgenommen worden und liegt in den Armen eines Helfers. Ein weiterer Helfer, der unterhalb des Erdhügels steht, streckt die Arme aus, um den Toten in Empfang zu nehmen. Im Vordergrund legt Joseph von Arimathäa das Leichentuch über eine Bahre, auf der Christus zu seinem Grab getragen werden soll.

Rembrandt: Kreuzabnahme Christi bei Fackelschein (1654); Radierung
(für die Großansicht einfach anklicken)

In bildlichen Darstellungen der Kreuzabnahme Christi wurde seit dem Mittelalter der anwesende Personenkreis vor allem um Maria und eine Gruppe von Trauernden erweitert. Gerade die Mariengruppe nimmt häufig einen wichtigen Platz im Bildgeschehen ein; auf Rembrandts Radierung aber ist sie in den Hintergrund gerückt und in der Dunkelheit kaum noch wahrzunehmen. Auch in einem anderen Punkt weicht Rembrandt von der Bildtradition ab: Das Kreuz bildet nicht mehr den Mittelpunkt der Komposition, sondern ist fragmentarisch an den linken Rand versetzt. Der seitwärts liegende Leichnam Christi erinnert in dieser Haltung an mittelalterliche Pietà-Szenen. Der Tote und die Helfer am Kreuz werden durch die horizontale Linie des Erdhügels und die vertikalen Linien des Kreuzstammes links sowie des Gebäudes im Hintergrund rechts isoliert und bilden beinahe eine eigene Darstellung innerhalb des Bildganzen; auch die helle Beleuchtung trägt dazu bei. „Man möchte bald meinen, daß die Personen hier in einem eigenen Kastenschrein agieren, was zur kontemplativen Betrachtung dieser Szene auffordert“ (Bevers 1991, S. 272).

Die untere Bildhälfte wird ganz von den Vorbereitungen zur Grablegung Christi eingenommen. Das Leichentuch ist nicht nur so hell beschienen wie der Körper Christi und das Tuch am Kreuz, sondern bildet kompositorisch eine deutliche Parallele zum Leichnam. Rembrandt zeigt uns nicht den Augenblick, in dem dieser in das Tuch gebettet wird, sondern die einzelnen Handlungsabläufe, die darauf hinführen. Die Handgriffe der Freunde erfolgen wie in stillem Einverständnis: Während ein Helfer, dem man die schwere Last anmerkt, den Leichnam in Händen trägt – es muss ja noch ein Nagel aus dem Fuß entfernt werden –, streckt ein anderer Begleiter schon die Hände aus, um den Leib entgegenzunehmen, und breitet Joseph von Arimathäa das Tuch aus. Dabei wird die vom Licht der Fackel beleuchtete, sich aus der Dunkelheit heraushebende einzelne Hand zum Sinnbild anteilnehmender Fürsorge, zum Emblem für den letzten Liebesdienst an dem Ermordeten.

 

Glossar

Bei der Kaltnadelradierung wird die Zeichnung unter Kraftaufwand mit einer in Holz gefassten Stahlnadel oder einer aus massivem Stahl bestehenden, etwas schwereren Radiernadel direkt in eingeritzt. Dabei bewirkt ein stärkerer Druck der Nadel auch eine stärkere Linie. Rembrandt kombinierte die Kaltnadel mit der Ätzradiertechnik und verbreiterte und verband auf diese Weise meisterhaft das Tonwertspektrum beider Drucktechniken.

Schraffen sind in der Kunst eine zeichnerische Technik, um durch parallele Linien Schattierungen oder Tonwerte zu erzeugen.

 

Literaturhinweise

Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 272;

Hinterding, Erik: Licht. In: Bikker, Jonathan/Weber, Gregor J.M. (Hrsg.), Der späte Rembrandt. Hirmer Verlag, München 2014, S. 177-185;

Kayser, Florian: Die Die Anbetung der Hirten (Nachtstück), um 1657. In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 152;

Schröder, Klaus Albrecht/Bisanz-Prakken, Marian (Hrsg.): Rembrandt. Edition Minerva, Wolfratshausen 2004, S. 266;

von Berswordt-Wallrabe, Kornelia (Hrsg.): Rembrandt fecit. 165 Rembrandt-Radierungen aus der Sammlung des Staatlichen Museums Schwerin. St. Gertrude GmbH, Hamburg 1995, S. 86.

 

Montag, 15. September 2025

Monet malt Paris

Claude Monet: Saint-Germain-lAuxerrois (1867); Berlin, Alte Nationalgalerie (für die Großansicht einfach anklicken)

Claude Monet (1840–1926), der heute bekannteste und wohl auch beliebteste der französischen Impressionisten, hat nicht nur zahllose Ölbilder von Gärten, Blumenwiesen, Parklandschaften, Flussufern und Meeresküsten gemalt, sondern auch rund zwei Dutzend Ansichten von Paris. Die ersten entstanden im Frühsommer 1867, im Jahr der zweiten großen Pariser Weltausstellung. Eine dieser frühen Ansichten der Pariser Innenstadt möchte ich hier vorstellen – sie zeigt von einem erhöhten Standpunkt den Blick auf die spätgotische Kirche Saint-Germain-l’Auxerrois. Monet hatte hierfür seine Staffelei auf den Louvre-Kolonnaden aufgestellt, also auf der Ostseite des damaligen Herrschersitzes Napoleons III., wofür ihm eine Sondergenehmigung erteilt wurde.

Saint-Germain-lAuxerrois heute ...

Monet hat die Dachkonstruktion der Kirche genau beobachtet, ebenso die Fensterrosette auf der giebelgekrönten Westseite, die beiden Treppentürme, die Strebepfeiler und Fialen. Vom linken Bildrand abgeschnitten, für den Betrachter also nicht sichtbar, sind der unmittelbar anschließende, 1860 eingeweihte neugotische Turm und die ebenfalls neu errichtete Mairie des ersten Arrondissements, die die Fassade des Gotteshauses imitiert. Am rechten Bildrand ist eines jener großen Wohnhäuser abgebildet, die auch die neuen breiten Pariser Boulevards bis heute säumen. Möglicherweise hat der Künstler für seine Komposition auf eine fotografische Vorlage zurückgegriffen: Eine etwa zur gleichen Zeit entstandene Aufnahme, die neben der Kirche auch das neugotische Rathaus zeigt, stimmt nahezu mit dem Blickwinkel von Monets Gemälde überein. Daran ist nichts Ehrenrühriges, denn Monet wollte ja gerade diejenigen Effekte abbilden, die eine Schwarzweiß-Fotografie unmöglich erfassen konnte: die Farben von Himmel, Zinkdächern, Steinen, Straßenpflaster und Laubwerk, das facettenreiche Wechselspiel von weißem Licht und blauen Schatten „sowie die atmosphärische Umhüllung der Motive“ (Shackelford 2021, S. 53).

... und auf einer Fotografie aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts
Auf Monets Bild herrscht ausgezeichnetes Wetter: Der Himmel ist wolkenlos, das strahlend helle Sonnenlicht fällt von Süden über die Dächer der angrenzenden Häuser so steil auf den Vorplatz der Kirche, dass die Gebäude, Bäume und Passanten nur kurze Schatten werfen. Das gleißende Licht lässt unter den Bäumen dunkle Zonen entstehen und verleiht selbst den verschatteten Gebäudepartien wie der Kirchenfassade noch eine gewisse Helligkeit. Auf der Straße im Vordergrund spazieren Personen in kleinen Grüppchen, am Fahrbahnrand warten einige Pferdedroschken. Im Schatten des Blätterdachs, das die untere Hälfte der Bildfläche als grün-gelb geflecktes, breites Band dominiert, haben sich größere Menschenansammlungen zusammengefunden. Auf detailgetreue Präzision in der Wiedergabe individueller Gestalten hat Monet ebenso verzichtet wie auf eine sie verbindende Handlung, ja die in stetiger Bewegung befindlichen Figuren unter den blühenden Kastanien sind beinahe nur fleckenhaft wiedergegeben.

Claude Monet: Quai du Louvre (1867); Den Haag, Gemeentemuseum
Claude Monet: Le Jardin de lInfante (1867);
Oberlin/Ohio, Allen Memorial Art Museum
Für zwei weitere Gemälde aus dem gleichen Entstehungszeitraum wechselte Monet seinen Standort – er zog von der Mitte der Ostkolonnaden zu einer weiter südlich gelegenen Stelle. Von dieser veränderten Position aus entstanden zwei exakt gleich große Bilder, die Monet als Quer- und Hochformat ausführte: Quai du Louvre und Le Jardin de l’Infante. In allen drei Gemälden beleben vorbeiströmende Passanten die städtische Szenerie. Sonnenschirm tragende Damen in Krinolinen, Dienst- oder Kindermädchen mit langen weißen Schürzen, Mütter und Väter mit ihren Kindern, Soldaten und Geschäftsleute sind zu Fuß unterwegs, während Omnibusse, Droschken und offene Kutschen über die Straßen dahineilen.

Edouard Manet: Musik im Tuileriengarten (1862); London, National Gallery
(für die Großansicht einfach anklicken)

Inspiration fürs seine Darstellungen könnte Monet durch seinen Malerkollegen Edouard Manet (1832–1883) gewonnen haben, z. B. aus dessen Bild Musik im Tuileriengarten (1862), das 1867 auf einer Einzelausstellung während der Pariser Weltausstellung zu sehen war. 1869 sandte Monet seine drei Paris-Ansichten zum jährlichen „Salon“ – sie wurden abgewiesen, woraufhin der Maler sie im Schaufenster eines Farbenhändlers in der Rue Lafayette der Öffentlichkeit präsentierte.

Claude Monet: Boulevard des Capucines (1873); Moskau, Puschkin-Museum

Erst 1873 schuf Monet erneut zwei größere Pariser Ansichten – nun aber im deutlich impressionistischen Malduktus. Monet richtete sich in den ehemaligen Räumlichkeiten des berühmten Fotografen Nadar (1820–1910) ein: Von 1860 bis 1872 befand sich dessen Atelier in den beiden obersten Geschossen eines Hauses am Boulevard des Capucines, einer kurz zuvor unter Baron Haussmann modernisierten Prachtstraße. Nachdem er dort ausgezogen war, vermietete Nadar die Räume an andere Nutzer. Das untere der beiden Stockwerke lag etwa so hoch wie die Kolonnaden, in denen Monet im Louvre gearbeitet hatte; in Nadars ehemaligem Atelier stellte der Maler seine Staffelei in der oberen Etage auf und hielt zwei Ansichten mit Blick nach Norden und Osten in Richtung der Place de l’Opera fest. Ebenso wie 1867 verwendete Monet zwei exakt gleich große Leinwände – ein Querformat, das heute im Moskauer Puschkin-Museum hängt, sowie ein Hochformat, das sich in Kansas City befindet.

Claude Monet: Boulevard des Capucines (1873);
Kansas City, Nelson-Atkins-Museum

In diesen eng verwandten Gemälden nahm Monet nicht die Weite des Himmels in den Blick, sondern die Häuserzeile auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Auf dem Querformat sind die Häuser in gelb schimmerndes Licht getaucht, während der Vordergrund im Schatten liegt; auf dem Hochformat ist das Licht hingegen gedämpft, sodass fast nirgends Schatten zu sehen sind und die Formen der Gebäude, Fuhrwerke und Passanten zu erkennen sind. Ebenso wie in Monets Gemälden von 1867 stimmen die Umrisse der Gebäude überein. Der Stil des Künstlers hatte sich seither allerdings so stark verändert, dass solche Einzelheiten auf der Bildfläche buchstäblich verschwimmen.

 

Literaturhinweise

Schuster, Klaus-Peter u.a. (Hrsg.): Manet bis van Gogh. Hugo von Tschudi und der Kampf um die Moderne. Prestel-Verlag, München/New York 1996, S. 90-92;

Shackelford, George T.M.: Maler des modernen Lebens. Monets Stadtansichten In: Angelica Daneo u.a. (Hrsg.), Monet. Orte. Prestel Verlag, München 2021, S. 50-59;

Weiß, Susanne: Claude Monet. Ein distanzierter Blick auf Stadt und Land. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1997, S. 31-46.