Montag, 17. Februar 2025

Ruhm und Rätsel – der Torso vom Belvedere


Torso vom Belvedere; Rom, Vatikan
Unter dem klangvollen Namen Torso vom Belvedere kennt die Welt den Marmorrumpf eines muskulösen nackten Mannes, der auf einem schmalen Felsbrocken sitzt. Kopf, Arme und beide Unterschenkel fehlen; darüber hinaus ist an der Brust eine Partie weggebrochen; die Marmoroberfläche ist „zum Teil abgewittert oder verrieben“ (Wünsche 1993, S. 7). Keinem anderen Fragment antiker Skulptur sind über Jahrhunderte hinweg so viele Lobeshymnen gewidmet worden wie diesem Torso, kaum ein anderes antikes Fundstück hat solche Bedeutung für die abendländische Kunstgeschichte: Von Michelangelo bis Rodin haben sich viele der größten Künstler mit dem Torso beschäftigt und von ihm anregen lassen.
Michelangelo: einer der zwanzig Ignudi an der Decke der Sixtina
So sind z. B. die Ignudi Michelangelos an der Sixtinischen Decke – insgesamt 20 nackte, muskulöse junge Männer – nicht ohne den Torso vom Belvedere denkbar: Sie sitzen nämlich ebenso frei und ohne wirkliches Abstützen der Beine, wie das auch am Torso der Fall zu sein scheint. Die Kraft ihres Körpers konzentriert sich im Rumpf, der dessen ausfahrende Bewegungen mühelos hält (siehe meinen Post Michelangelo feiert das schöne Geschlecht“). Das dominierende Bewegungsmotiv des Torso, die starke Drehung und Neigung des Oberkörpers im Sitzen, „wird von Michelangelo bei den Ignudi nicht nur in allen Möglichkeiten variiert, sondern die Bewegtheit von Körper und Gliedern ungemein gesteigert“ (Wünsche 1998, S. 31).
Der Torso gelangte zwischen 1533 und 1536 in den Statuenhof des vatikanischen Belvedere. Papst Clemens VII. (1523–1534) ließ auf Anregung Michelangelos durch dessen Schüler Giovanni Antonio Montorsoli einen Teil der dortigen Skulpturen restaurieren. Montorsoli arbeitete am Laokoon, am berühmten Apoll (siehe meinen Post „Der Apoll vom Belvedere“) und an dem Herakles mit dem Knaben. Am Torso hingegen, daran besteht kein Zweifel, ist nie ein Ergänzungsversuch unternommen worden, seit er aufgefunden wurde. Selbst Michelangelo soll sich, so teilen spätere Quellen mit, nicht zugetraut haben, ihn zu vervollständigen. Und da sogar der „Divino“ zauderte, wagte es auch nach ihm keiner mehr. Es ist vor allem diese enge, legendenumwobene Verbindung des Torso mit Michelangelo, die dem antiken Werk seinen fast fünf Jahrhunderte andauernden Ruhm bescherte.  
Hendrick Goltzius: Torso vom Belvedere (vor 1591); Kreidezeichnung
William Turner: Torso vom Belvedere (um 1789-1793); Kreidezeichnung
Immer wieder wurde der Torso von Künstlern gezeichnet. Im 16. und 17. Jahrhundert entstanden die meisten Zeichnungen noch vor dem Original; im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert waren Abgüsse schon so weit verbreitet, dass man die Figur fast überall studieren konnte – die Beschäftigung mit dem Torso gehörte von nun an zum Pflichtprogramm der Akademiestudenten. Als die Figur 1798 von Napoleon im Triumphzug nach Paris gebracht wurde und im Musée Napoleon einen Höhepunkt der Skulpturensammlung bildete, vergrößerte sich ihr Ruhm noch weiter. 1815 kehrte der Torso dann wieder zurück nach Rom.
Im Hof des Belvedere stand der Torso in der Mitte. Alle anderen, ringsum aufgestellten Antiken blickten sozusagen auf ihn. „Sein trümmerhafter Zustand, seine stark angegriffene Oberfläche, die zahlreichen Bruchflächen, in denen rostende Dübel steckten, setzten ihn deutlich von den übrigen, sorgfältig ergänzten und auch an der Oberfläche meist besser erhaltenen Skulpturen ab“ (Wünsche 1993, S. 20). Es lag nahe, daß der Torso damit auch zum Symbol der Vergänglichkeit wurde. Im 19. Jahrhundert schließlich wandelte sich die Einstellung gegenüber fragmentarischen Skulpturen – man akzeptierte sie immer mehr. Das Unvollständige, Verwitterte wurde nicht mehr beklagt, sondern als besondere Qualität empfunden. Das gilt auch für den Torso: Kein Künstler wollte mehr daran rühren und ihn ergänzen.
Wen aber stellte der Torso ursprünglich dar? Jahrhundertelang wurde er als Herakles gedeutet – was wegen des Löwenfells, auf dem der antike Heros sitzt, durchaus naheliegt, denn es handelt sich um eines seiner wichtigsten Attribute. Doch 1887 erkannte der Anatom Carl Hasse, dass es sich bei diesem Fell keinesfalls um das eines Löwen handeln könne: Der Kopf sei zu klein, es fehlten der Ansatz der Mähne und die Quaste am Schwanz. Wahrscheinlich ist ein Pantherfell gemeint, das als Attribut allerdings nicht so personenspezifisch ist wie die Löwenhaut. Oft weist es einfach nur darauf hin, dass sein Träger von wildem Charakter ist oder in freier Natur lebt.
Reinhard Wünsche hat mit überzeugenden Argumenten dafür plädiert, den Belvedere-Torso, der ja offensichtlich einen reifen kräftigen Mann zeigt, als „sinnenden Aias vor dem Selbstmord“ zu deuten. Das Thema war in der antiken Literatur sehr beliebt und ist von Aischylos, Sophokles und vielen anderen Dichtern immer wieder neu gestaltet worden. Der Kern der Erzählung: Aias, der größte griechische Held nach Achill, hat den Leichnam des Achill aus der Schlacht geborgen. Durch List und geschickte Rede vermag aber Odysseus die Ratsversammlung der Griechen zu überzeugen, dass ihm und nicht Aias die Waffen des Helden zugesprochen werden. Aias gerät deswegen in Raserei und metzelt im Glauben, es seien Odysseus und die anderen griechischen Heerführer, eine Herde von Rindern und Schafen nieder. Als Aias aus dem Wahnsinn erwacht, verfällt er in tiefe Scham und Trauer und stürzt sich in sein eigenes Schwert.
So könnte der Torso vom Belvedere ausgesehen haben: Sinnender Aias (augusteisch);
Bronze, Sammlung G. Ortiz
Wünsche präsentiert einen Rekonstruktionsversuch, bei dem der Ellenbogen des rechten Armes auf dem rechten Oberschenkel aufliegt; die rechte Hand wird an das Kinn geführt und hält ein nach unten weisendes Schwert am Griff; in der Linken hält der Heros parallel zum linken Oberschenkel eine Schwertscheide. Die von Wünsche vorgeschlagenen Ergänzungen erklären tatsächlich schlüssig alle fünf antiken Bruchflächen bzw. Stückungslöcher. „Das Sitzen mit den gespreizten Beinen zeigt die Ermattung an; der rechte Arm und Kopf sind in der typischen Haltung des Sinnens gegeben und dieses Bewegungsmotiv kann auch die Scham des Aias über seine Tat ausdrücken, während die Momentanität der Oberkörperdrehung und des zurückgeführten linken Arms auf das vorherige Rasen, wie auch auf die kommende Tat hinweisen“ (Wünsche 1993, S. 37). Die stark angespannte Muskulatur wiederum, die mit dem ermatteten Sitzen und Sinnen kontrastiert, zeigt die innere Erregung des Aias an. Auf den Wahn des Helden verweist auch das Pantherfell, auf dem er sitzt. Den Kopf des Raubtieres hat der Bildhauer auf dem linken Oberschenkel des Aias aufliegen lassen, damit auch in der Hauptansicht das Pantherfell sichtbar und die Aussage klar wird: Wie ein Raubtier ist Aias in die Herde gefahren. Denn Wünsche geht davon aus, dass zwischen und unter seinen Beinen nachgebildete tote Tiere lagen, die von seiner vorausgegangenen Raserei zeugen.
Um die etwa 2,70 große Figur darzustellen, benötigte der antike Bildhauer einen etwa sieben Tonnen schweren Marmorblock, aus dem er die Gestalt – abgesehen vom Schwertblatt – in einem Stück fertigte: eine bravouröse Leistung, die er zu Recht mit seinem Namen signierte, nämlich „Apollonios“. Wünsche datiert die Skulptur in die Zeit des Hochhellenismus, also zwischen 250-150 v.Chr.
Michelangelo: Grabmal des Giuliano de’ Medici; Florenz, San Lorenzo
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Michelangelo hat das Torso-Motiv in den beiden Sitzfiguren am Grabmal des Lorenzo und des Giuliano de’ Medici (Florenz) verwendet. Für die Darstellung der Vita contemplativa und der Vita activa, die man in den beiden Skulpturen sehen kann, war der Torso in gleicher Weise geeignet, denn er vereinigt beides: Lorenzo als der Sinnende, Giuliano als der erregte Kriegsherr.
Michelangelo: Grabmal des Lorenzo de’ Medici; Florenz, San Lorenzo
John Quincy Adams Ward: The Freedman (1863); New York, MoMa
Der amerikanische Bildhauer John Quincy Adams Ward (1830–1910) schuf 1863 mit The Freedman eine naturalistische Bronzeskulptur, die unverkennbar auf den Torso vom Belvedere zurückgreift. Die zerbrochenen Fesseln am linken Handgelenk und in der rechten Hand des Schwarzen geben das Thema der Figur – die Sklavenbefreiung – unmissverständlich zu erkennen.
Auguste Rodins berühmter Denker (zwischen 1880 und 1882 entstanden) schließlich bildet für das 19. Jahrhundert den Abschluss der Torso-Rezeption. Rodin (1840–1917) wählte den Denker als sein Grabmal. Diese Skulptur repräsentiert wie keine andere seiner Arbeiten Rodins Anspruch, in der Tradition der Antike und der Kunst Michelangelos zu stehen. Denn die Statue des Denkers ist ohne das Vorbild des Torso nicht denkbar. „Diese letzte Formulierung des Torso-Motivs kommt der inhaltlichen Aussage der Figur und ihrer ursprünglichen Funktion am nächsten. Auch der sinnende Aias muß einest eine Grabstatue gewesen sein – geweiht in das Grabheiligtum dieses Helden in der Ebene von Troja“ (Wünsche 1993, S. 38). Denn der Aias des Apollonios ist eine römische Kopie nach diesem verlorenen griechischen Vorbild.
Rodins Grabmal
Literaturhinweise
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus. Hirmer Verlag, München 2001, S. 167;
Wünsche, Reinhard: Der Torso vom Belvedere – Denkmal des sinnenden Aias. In: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst XLIV (1993), S. 7-46;
Wünsche, Raimund (Hrsg): Der Torso. Ruhm und Rätsel. Glyptothek München, München 1998.

(zuletzt bearbeitet am 18. Februar 2025)

Donnerstag, 6. Februar 2025

Der Schmerz einer Mutter – Vesperbilder des Spätmittelalters

Pietà Roettgen (um 1350/60); Bonn, LVR LandesMuseum
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Das sogenannte Vesperbild, auch Pietà genannt (von lat. pietas, Erbarmen), gehört zu den um 1300 neu entstehenden selbständigen Andachtsbildern. Dargestellt ist eine Zweiergruppe, bei der die Mutter Jesu den liegenden oder halb aufgerichteten Körper ihres am Kreuz gestorbenen Sohnes auf dem Schoß hält. Die deutsche Bezeichnung für diesen Bildtyp ist abgeleitet von der Einteilung des Tages in Stundengebete, die den Ablauf der Passion nachvollzog. Danach fielen Kreuzabnahme und Beweinung in die Vesperstunde, nachmittags zwischen fünf und sieben Uhr.

Ihren Ursprung hat die Pietà nicht in liturgischen Zusammenhängen, sie geht vielmehr zurück auf die in der spätmittelalterlichen Mystik geübte compassio, dem Mitleiden als Ausdruck innigen Mitgefühls am Passionsgeschehen. Dabei vermischen sich die Anteilnahme am Leiden Jesu und am Schmerz seiner Mutter mit dem Schuldbewusstsein des Betrachters, der in der eigenen Sündhaftigkeit wie der aller Menschen die Ursache für die Passion Jesu erkennt – und schließlich mit der Freude über das durch den Kreuzestod vollbrachte Erlösungswerk. Es sind vor allem die Texte eines Meister Eckhart (um 1260–1328) und Heinrich Seuse (1295–1366), die dem Vesperbild den Boden bereitet haben. Neben den für die persönliche Andacht bestimmten Vesperbildern haben sich aber auch frühe, überlebensgroße Pietà-Darstellungen erhalten, die als Reliquiendepositorien dienten und wahrscheinlich auf einem Altar standen. Außerdem ist bei manchen Vesperbildern Christus abnehmbar – ein Hinweis darauf, dass solche Zweiergruppen in liturgischen Spielhandlungen benutzt wurden.

Im Gegensatz zur Kreuzabnahme wird eine Beweinung Christi in den Evangelien nicht erwähnt; sie hat sich im Spätmittelalter als eigenständiges Bildthema entwickelt, an dem mehrere Figuren beteiligt sind. Die Pietà-Darstellung reduziert dieses Motiv wiederum auf die Trauer der Mutter um ihren Sohn und schafft dabei ein archetypisches Bild menschlichen Leidens. Dabei wird vor allem der Leichnam Christi mit schonungslosem Realismus dargestellt, der die Zeichen seines Todes und der ihm vorangegangenen Peinigungen bar jeglicher Idealisierung präsentiert.

Der Körper Jesu ist meist ausgezehrt, vom Haupt mit der Dornenkrone und aus der klaffenden Seitenwunde sowie den aufgerissenen Nägelmalen an Händen und Füßen tropft und rieselt das Blut bis zu traubenartiger Verdickung (ein Verweis auf den Wein im Sakrament der Eucharistie). Es sind diese sichtbaren Zeichen der Passion und der Schmerz Mariens, die die emotionale Beteiligung des Betrachters herausfordern. Die oft drastische Ausgestaltung des Leichnams auf den spätmittelalterlichen Vesperbildern wie auch deren große Verbreitung und Beliebtheit kann sozialgeschichtlich auch mit den seit Mitte des 14. Jahrhunderts überall in Europa wütenden Pestwellen in Verbindung gebracht werden. Angesichts der allgegenwärtigen Bedrohung durch die Seuche und die von ihr verursachte hohe Sterblichkeit boten Pietà-Darstellungen in besonderem Maß die Möglichkeit zur Identifizierung.

Eines der eindrücklichsten, expressivsten Vesperbilder ist die sog. Pietà Roettgen (um 1360; Bonn, LVR LandesMuseum): Auf einem thronartigen Sitz hält Maria den ausgemergelten Leib ihres toten Sohnes, der noch die Dornenkrone trägt. Mit schmerzvollem Gesichtsausdruck beugt sie ihren leicht nach links geneigten Kopf in inniger Trauer über den treppenartig gestuften Leichnam, dessen Haupt nach hinten zurückgesunken ist. Die Proportionen der beiden Figuren sind verzerrt, die Köpfe zu groß, die Körper zu klein. Die fünf Wunden Christi, aus denen das Blut traubenförmig hervorquillt, werden dem Betrachter zur Verehrung dargeboten, entsprechend einer damaligen frommen Praxis, den „Fünf-Wunden-Gebeten“. Die Form des Vesperbildes, die die Pietà Röttgen zeigt, wird manchmal auch abgewandelt: Zeitweilig ist Christus in Leichenstarre diagonal gestreckt oder in die Horizontale gekippt. Bei dem Pietà corpusculum genannten Typus erscheint Christus kindhaft klein. Dieser Typus wird als Verbildlichung einer Rückschau Mariens von Golgatha nach Bethlehem wie auch als Vorausschau von Bethlehem nach Golgatha gedeutet.

Pietà aus Unna (um 1360); Münster, LWL-Museum
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Ein weiteres Hauptwerk unter den deutschen Vesperbildern ist die Pietà aus Unna (um 1380), die heute im LWL-Museum in Münster aufbewahrt wird. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gruppen ist sie nicht ortlos, sondern verweist darauf, dass die Beweinung Christi auf der „Schädelstätte“, d. h. Golgatha stattfindet. Offenbar wird hier der Moment unmittelbar nach der Kreuzabnahme gezeigt. Maria thront auch nicht, sondern kniet mit einem Bein inmitten von menschlichen Knochen nieder und umarmt innig den von der Totenstarre versteiften Leichnam ihres Kindes. „Die Drapierung des Mantels und seiner Säume paraphrasiert den Gedanken der Umarmung“ (Suckale 2009, S. 73). Dass Maria mit ihrem linken Fuß auf einen Schädel tritt, versinnbildlicht den Triumph Christi über den Tod durch sein das Erlösungsopfer.

Das Kopftuch Mariens ist um das von der Dornenkrone verunstaltete Haupt Jesu herumgezogen und verbindet Mutter und den deutlich kleineren Sohn. Deutlich kontrastieren das von ihrem Schmerz gezeichnete, jugendlich-schöne Gesicht Mariens, ihr weich fließendes, die beiden Figuren umhüllendes Gewand und der knochig-dürre, erstarrte Körper ihres Sohnes mit seinen wirklichkeitsnah wiedergegebenen Wundmalen. Dass Ort und Zeitpunkt des Geschehens in die Darstellung einbezogen sind sowie die Wahl eines fast lebensgroßen Formats, zielt darauf ab, dass sich der Betrachter im Geist an die Stätte der Passion Christi versetzen soll, um mit Maria seinen Tod zu beklagen und ihre Schmerzen mitzuerleiden. Als ehemaliger Aufstellungsort der Gruppe ist eine Ecke oder Nische wahrscheinlich. Dabei boten sich den Gläubigen mehrere Ansichten, die einmal den Hinweis auf die Qualen Christi, einmal auf die zärtliche Verbindung von Mutter und Sohn in den Vordergrund rückten.

Pietà (um 1390); Frankfurt, Liebieghaus
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Die Pietà des Liebieghauses in Frankfurt a.M. (um 1390) verbindet Elemente der Pietà Roettgen mit solchen der Skulptur aus Unna: Sie übernimmt von der Unnaer Gruppe die Darstellung des Ortes Golgatha mit seinen Totenschädeln, jedoch nicht den Sockel. Die unteren Partien des Marien-Mantels sind aus weich geschwungenen Schlaufenfalten zusammengesetzt. Der Bildschnitzer hat den Mantel schirmartig über den Kopf nach vorne gezogen, um so den Kopf Mariens zu verschatten. Der Leib Christi ist – gerade im Kontrast zum Körper seiner Mutter – deutlich ausgemergelt; der Unterbauch bildet eine tiefe Mulde. Die dürren, überlängten Arme hängen steif herab, aber der Leib Christi ist nicht gänzlich totenstarr. Er folgt in seiner Expressivität wie auch in der Formung des Gesichts der Pietà Roettgen. Er liegt allerdings nicht wie bei der Pietà Roettgen zweifach gebrochen quer zum Betrachter, sondern wird von Maria vorsichtig zum Betrachter hin gedreht, sodass alle Wundmale gut zu sehen sind. „Nicht die letzte leidenschaftliche Umarmung des zu Tode gemarterten Sohnes durch die Mutter ist das Thema, sondern die Präsentation des Elends zur Anteilnahme der Gläubigen und die stille Trauer der Mutter“ (Suckale 2009, S. 77). Das Zeigen des Christuskörpers erinnert außerdem an das Vorweisen der Hostie in der katholischen Messe durch den Priester. „Das verbildlicht die Vorstellung, der Leib Christi sei mit der Hostie identisch“ (Roller 2008, S. 76).

Das herabgesunkene Haupt Christi ist zugleich eine Abwendung von seiner Mutter und ein Bild der Trennung durch den Tod. Die Bluttrauben der Pietà Roettgen sind zu – immer noch plastischen – Gerinnseln geworden. Die Schmerzen haben tiefe Furchen in das Antlitz Marias und Jesu gegraben, aber Maria ist keineswegs eine verweinte alte Frau wie bei der Bonner Figur. Die Gestik ist dieselbe: Mit der rechten Hand hält sie ihren Sohn unter dessen rechtem Arm, die Linke hat sie über seinen Schoß gelegt – auf ihr ruht sein linker Arm. Mit der linken Hand hält sie außerdem ein Stück des Lendentuches. Das Holz der Statue ist stark beschädigt durch Trockenfäule und Anobienbefall, was bei Christus zum Verlust von Fingern und Zehen geführt hat.

Michelangelo: Pietà (1499/1500); Rom, St. Peter

Das sonst überwiegend in Mitteleuropa verbreitete Vesperbild findet in der Spätgotik durch importierte Exemplare auch Eingang in Italien. Die berühmteste italienische Pietà ist zweifelsohne die Marmor-Skulpturengruppe von Michelangelo im Petersdom (1499/1500; siehe meinen Post „Tief schlafend oder tot?“). Der Renaissance-Künstler verzichtet allerdings auf jegliche Drastik – trotz aller erlittenen Qualen haben die wohlproportionierten Glieder des Gottessohns nichts von ihrer Anmut eingebüßt; seine Wundmale sind nur sehr verhalten dargestellt, Spuren der Geißelung oder von der Dornenkrone fehlen völlig. Der Leib Christi scheint darüber hinaus eher ein tief schlafender als ein toter Körper zu sein. Michelangelo hat zwar das transalpine Sujet übernommen, es aber in eine völlig andere Form übersetzt, und zwar in eine ideale, an der Antike orientierte Ästhetik, die das Publikum weniger durch veristische Darstellung leiblichen und seelischen Schmerzes als vielmehr durch künstlerisch gestaltete Schönheit rühren sollte.

Käthe Kollwitz: Pietà (1938); Köln, Käthe Kollwitz Museum

Im 20. Jahrhundert griff Käthe Kollwitz (1867–1945) das Thema in einer Bronzegruppe auf (1938), die ihrem im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn gewidmet ist. Eine vierfach vergrößerte Fassung dieser Skulptur steht seit 1993 in der damals neu eingerichteten zentralen Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in der Berliner Neuen Wache.

 

Literaturhinweise

Geese, Uwe: Mittelalterliche Skulptur in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Petersberg 2007;

Kvapilová, Ludmila: Vesperbilder in Bayern von 1380 bis 1430 zwischen Import und heimischer Produktion. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017;

Poeschel, Sabine: Handbuch der Ikonographie. Darmstadt 22007;

Roller, Stefan: Vesperbild. In: Meisterwerke im Liebieghaus. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2008, S. 76;

Schneider, Norbert: Geschichte der mittelalterlichen Plastik. Von der frühchristlichen Antike bis zur Spätgotik. Köln 2004;

Suckale, Robert (Hrsg.): Schöne Madonnen am Rhein. E.A. Seemann Verlag, Leipzig 2009, S. 70-77, 189-190 und 194-195.

 


Freitag, 31. Januar 2025

Porträt-Kunst der italienischen Spätrenaissance (3): Agnolo Bronzinos „Bildnis einer Dame in Rot“

Agnolo Bronzino: Bildnis einer Dame in Rot (um 1533); Frankfurt, Städel Museum
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Der italienische Maler Agnolo Bronzino (1503–1572) gehört mit Jacopo da Pontormo (1495–1557), Rosso Fiorentino (1495–1540) und Giorgio Vasari (1511–1574) zu den wichtigsten Künstlern des Florentiner Manierismus. Von Bronzino habe ich in meinem Blog bereits das Bildnis einer Dame in Grün aus Windsor Castle vorgestellt. Nun soll noch sein Bildnis einer Dame in Rot hinzukommen, das zu den Prunkstücken des Städel in Frankfurt zählt. Charakteristisch für diese beiden Bildnisse wie überhaupt für das Porträt des Manierismus (also etwa der Zeitspanne zwischen 1520 und 1600) sind die verzerrten Körperproportionen der Dargestellten: Die Gliedmaßen, insbesondere Hals und Finger, werden überlängt, während der Kopf verkleinert erscheint. Haupt und Oberkörper sind zudem oft in unterschiedliche Richtungen gedreht.

Vor uns sitzt eine vornehme junge Dame, als Kniefigur und nahezu in Lebensgröße wiedergegeben. Ihre Beine weisen nach links, der Oberkörper dagegen dreht sich diagonal dem Betrachter zu. Das Gesicht ist dabei ganz leicht aus der Frontalansicht nach links gewendet; der direkte Blick wirkt distanziert. Die Rechte auf den Oberschenkel, die Linke entspannt auf die nahezu bildparallele Armlehne des Stuhles gelegt, umfangen ihre Arme schützend ein weiß und rotbraun gezeichnetes Schoßhündchen, das uns mit leicht erhobener Pfote gespannt beobachtet. Bei dem Stuhl handelt es sich um einen sogenannten Savonarola-Sessel, der vor einer Pilaster-gerahmten Nische mit einer davor befindlichen, nur rechts im Bild erkennbaren Steinbank platziert ist.

Die malerisch sehr sorgfältig wiedergegeben Details unterstreichen die durch das elegante Ambiente und die kontrollierte Haltung angedeutete edle Herkunft der jungen Dame. Ihr braunes, in der Mitte gescheiteltes Haupthaar liegt eng am Kopf an und ist hinten zu einem Zopf geflochten. Dieser wird, in ein goldfarben-braunes Netz gefasst, kranzartig um das Haupt geführt und am Scheitelpunkt von einer goldenen Agraffe mit Schmuckrosette zusammengehalten. Die Porträtierte trägt ein zinnoberrotes, unterhalb des Busens gegürtetes Kleid, aus dessen voluminösen Puffärmeln in Höhe des Ellbogens lange, eng anliegende Unterärmel aus dunkelgrünem Samt hervortreten. Der Halsausschnitt des Kleides zeigt ein fein gefältetes weißes Hemd, dessen hochstehender, aus Damast gewebter Kragen mit zwei Goldknöpfen eng am Hals geschlossen ist.

Um den Hals hängt eine schwere Goldkette, deren leicht ovale Kettenglieder in Intervallen durch zwei sich gegenläufig überkreuzende Bogensegmente unterbrochen werden. Unten münden sie in einen kleinen Anhänger mit einer nicht näher identifizierbaren Darstellung. An beiden Händen ist je ein Goldring zu erkennen, wobei derjenige am rechten Ringfinger einen kleinen Rubin aufweist. Um das rechte Handgelenk ist eine Kette aus schwarzen Jetperlen geschlungen, die sich über die Oberschenkel ausbreitet und in einen Einzelstrang mit einer aus roter und gelber Seide gefertigten Quaste mündet.

Auch der Savonarola-Sessel ist in seinem Material genau beschrieben: Das für Zarge und Armlehne verwendete braune Holz lässt eine detaillierte Maserung erkennen, seine präzis definierte Form und Härte kontrastiert wirkungsvoll mit dem weichen flaschengrünen Stoff, aus dem die Sitzfläche sowie die hier und an der Lehne angebrachten Fransen gearbeitet sind. Dass es sich um ein kostbares Möbelstück handelt, unterstreichen verschiedene goldfarbene Bronzeappliken, darunter eine groteske Maske und ein Griff aus zwei um eine Kugel gruppierten Delphinen an der Außenseite der Armlehne. Hinzu kommen zwei Kugeln an den Enden der Lehnen, deren vordere die sich spiegelnden Zeige- und Mittelfinger der Porträtierten exakt wiedergibt. Zwei im Hintergrund rechts auf der Steinbank abgelegte, in Pergament gebundene Bücher spielen auf die literarischen Interessen der jungen Frau an.

Nochmals erwähnt werden soll die wohl halbrund zu denkende Mauernische hinter der Dargestellten: Die hell von links beleuchtete – rechte – Gesichtshälfte der jungen Frau steht vor der dunklen, die verschattete Gesichtshälfte vor der ausgeleuchteten Nischenhälfte, wobei auch die durch reflektiertes Licht aufgehellten Halbschatten differenziert beobachtet sind. Darüber hinaus ist der konkaven Nischenform „die konvexe Form der Stirn und des Oberkörpers gegenübergestellt“ (Hiller von Gaertringen 2004, S. 483).

Leonardo da Vinci: Mona Lisa (1503-1506); Paris Louvre

Kompositorisch ist die Frankfurter Dame in Rot in ein etwa gleichseitiges Dreieck eingefügt, dessen Basis von dem waagrecht geführten Unterarm der jungen Frau gebildet wird. Als Vorbild hierfür hat Rudolf Hiller von Gaertringen auf Leonardo da Vincis Mona Lisa verwiesen, und zwar hinsichtlich des bildparallel gestellten Sessels, des horizontal auf dessen Lehne ruhenden linken Unterarms sowie des auf der Mittelachse liegenden linken Auges. Durch die Dreieckskomposition gelinge es Bronzino, „ein ruhevolles Gleichgewicht herzustellen und der Figur innere Stabilität, ja sogar eine hieratische Qualität zu verleihen“ (Hiller von Gaertringen 2004, S. 489). Gleichzeitig setzt sich Bronzino sich aber auch deutlich von Porträts der Hochrenaissance ab, insbesondere durch die spannungsvolle Farbwahl, bei der kräftiges Zinnoberrot mit dem Blaugrün der Ärmel und dem Flaschengrün des Sesselbezuges kontrastiert.

Die Präsenz des kleinen Hundes verleiht dem Bild eine geradezu interaktive Komponente – ob er wohl Bellen oder gar beißen würde, wenn sich der Betrachter noch weiter nähert? Bestimmend für die Wirkung des Porträts bleibt jedoch die distanzierte Attitüde der jungen Dame, ihre kühle Eleganz, die durch ihren Gesichtsausdruck, die extrem aufrechte Haltung, die strenge Frisur, ihre Standesinsignien in Form von Schmuck und kostbarer Kleidung sowie die als Barriere fungierende Armlehne hervorgerufen wird.

Agnolo Bronzino: Bildnis der Lucretia Panciatichi (um 1545); Florenz, Uffizien
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Mit der Dame in Rot vergleichbar ist Bronzinos Porträt der Lucrezia Panciatichi aus den Uffizien. Auch hier ist eine junge Frau als von links beleuchtete Figur vor einer – allerdings verschatteten – Nische dargestellt. Sie blickt mit nach links gewendetem Oberkörper gerade aus dem Bild, wobei ihr Kopf wie bei Dame in Rot etwas aus der Frontalansicht gedreht ist. Ihr linker Arm ruht auf der Lehne des diagonal gestellten Sessels, die rechte Hand liegt auf den Seiten eines geöffneten Buches auf ihrem Oberschenkel. Die Frisur weist ebenfalls bis in den Aufbau reichende Übereinstimmungen auf, wobei dem mittig gescheitelten, eng am Kopf geführten Haupthaar ein geflochtener Haarkranz aufliegt, der seinerseits durch ein Diadem hervorgehoben wird. Verschiedene Schmuckstücke, darunter einige Ketten und ein Fingerring, sind präzise wiedergegeben. Die Porträtierte trägt ebenfalls ein rotes, gegürtetes Gewand mit gerafften Puffärmeln, aus dem eng anliegende Unterärmel hervorkommen, wobei weißlich aufscheinende Lichter Seidenstoff imitieren. Allerdings erhält das Porträt durch die Farbwahl gegenüber dem Frankfurter Bildnis eine gefälligere Note, da an die Stelle des Zinnoberrot ein zurückgenommenes Weinrot tritt und so der beschriebene Rot-Grün-Kontrast aufgegeben wird.

Die Zuschreibung des Frankfurter Damenporträts schwankt seit seiner ersten Erwähnung vor allem zwischen zwei Florentiner Malern, die gut miteinander bekannt waren: einerseits Pontormo und andererseits seinem Schüler Bronzino. Die beiden Künstler pflegten einen ungemein regen Austausch, der im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts in Form eines Schüler-Lehrer-Verhältnisses begann und sich ab den 1530er Jahren in Form künstlerischer Zusammenarbeit und persönlicher Freundschaft fortsetzte.

Bronzino zählt, auch wenn sein Aktionsradius sich auf Florenz und das Großherzogtum Toskana beschränkte, neben dem europaweit agierenden Tizian (um 1488–1576) zu den führenden italienischen Porträtmalern des Cinquecento. 1530 wurde die Republik Florenz elf Monate lang von einem kaiserlich-päpstlichen Heer belagert, denn Karl V. hatte dem Medici-Papst Clemens versprochen, die Herrschaft seiner Familie in deren Heimatstadt wiederherzustellen. Die Florentiner mussten sich schließlich, durch Hungersnöte und Epidemien gezwungen, dem kaiserlichen Willen beugen: Allesandro de‘ Medici (1510–1537) wurde neuer Herzog von Florenz. Nach Ende der Belagerung ging Bronzino 1530 für zwei Jahre nach Pesaro an den Hof des Herzogs von Urbino, Francesco Maria I. della Rovere. Dort entwickelte er seinen stupenden, bis heute bewunderungswürdigen Detailrealismus, der sich durch ein beinahe obsessives Interesse für die Oberflächen-Texturen unterschiedlichster Stoffe und Materialien auszeichnet.

 

Literaturhinweise

Eclercy, Bastian: Agnolo Bronzino, Bildnis einer Dame in Rot, um 1533. In: Bastian Eclercy (Hrsg.), Maniera. Pontormo, Bronzino und das Florenz der Medici. Prestel Verlag, München 2016, S. 168-172;

Hiller von Gaertringen, Rudolf: Italienische Gemälde im Städel 1300 – 1550. Toskana und Umbrien, Philipp von Zabern, Mainz 2004, S. 479-494;

Krystof, Doris: Jacopo Carrucci, genannt Pontormo. 1494–1557. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1998, S. 107.


Montag, 20. Januar 2025

Der Weg ins Dunkel – Caspar David Friedrichs „Frühschnee“ (um 1828)

Caspar David Friedrich: Frühschnee (um 1828); Hamburg, Kunsthalle
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Wir sehen einen verschneiten, beiderseits von niedrigen Tannen gesäumten Weg, der auf einen dichten Fichtenwald zuläuft. Vor den dunklen, eng beieinander stehenden Baumstämmen, die wie eine düstere Wand den Blick versperren, biegt der Weg nach rechts ab, ohne dass sich jedoch erkennen ließe, wohin er führt. Unmittelbar am oberen Bildrand zeigt sich in einem kleinen Bereich oberhalb der Baumwipfel ein hellblauer, von freundlichen weißen Wölkchen besetzter Himmel. Genau auf der senkrechten Mittelachse, die ausgreifenden Zweige eingefasst von den linken und rechten Vertikalen des Goldenen Schnitts, hebt sich eine sanft beschneite Fichte von den dunklen Stämmen des Waldes ab.

Caspar Dacid Friedrich: Der Chasseur im Walde (um 1813), Privatbesitz
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Caspar David Friedrich hat dieses Frühschnee genannte Gemälde um 1828 gemalt. Eng mit diesem verwandt ist sein um 1813 entstandenes Bild Der Chasseur im Walde. Es zeigt einen im bedrohlich einsamen Winterwald verlorenen, wahrscheinlich französischen Soldaten und wird gemeinhin als politischer Kommentar Friedrichs im Kontext der Freiheitskriege gegen Napoleon (1813 bis 1815) gedeutet. Der Fichtenwald meint sinnbildlich die im Vertrauen auf ihre Befreiung zusammenstehenden Deutschen, die dem Franzosen den Untergang bereiten werden. Der im Vordergrund auf einem Baumstumpf hockende Rabe ist daher eindeutig als Todessymbol zu verstehen – er singt dem Soldaten sein Sterbelied, so die „Vossische Zeitung“ anlässlich der Ausstellung des Gemäldes im Oktober 1814 in der Berliner Akademie. Von „heiligem Zorn“, gar Hass ist auf dem Bild allerdings nichts zu spüren: „Friedrich gibt dem Gegner die Gelassenheit eines Menschen, der das ihm bestimmte Schicksal mit Würde erwartet. (…) Der Chasseur hat keine Eile, denn er weiß, daß er die Heimat nicht mehr sehen wird“ (Hofmann 2000, S. 96/98). Kompositorisch unterscheiden sich Frühschnee und der Chasseur kaum voneinander, der entscheidende Unterschied liegt im Fehlen von Mensch und Rabe.

Caspar David Friedrich: Das Kreuz im Gebirge (1807/08); Dresden, Gemäldegalerie

Friedrich selbst verglich das Immergrün der Tannen mit der immerwährenden Hoffnung der Gläubigen auf Christus – so in einer seiner seltenen Äußerungen über seine Kunst, zu der er sich im sogenannten Ramdohr-Streit um sein Gemälde Das Kreuz im Gebirge veranlasst sah (siehe meinen Post „Der große Mittler“). Entsprechend hat der Friedrich-Forscher Helmut Börsch-Supan den Frühschnee christlich gedeutet: Der auf den Wald zulaufende Weg versinnbildliche – wie so oft auf den Bildern Friedrichs – den Lebensweg, der zum Tod führt. Es ist ein Weg, den der Mensch am Ende ganz allein beschreiten muss, und wir als Betrachter sind es, die ihn – zumindest mit den Augen – auf Friedrichs Bild betreten haben und entlanggehen. „Der Wald in seiner unheimlichen Dunkelheit erscheint jedoch nicht als das Ziel des Weges, vielmehr erweckt der blaue Himmel darüber die Vorstellung einer heiteren Gegend hinter dem Wald“ (Börsch-Supan 1987, S. 158). Ebenso verweise die durch den Schnee durchscheinende Erde darauf, dass Winter und Tod Übergangsstadien für ein neues Leben seien. Damit wäre auch der Frühschnee eine „allegorische Landschaft“ Friedrichs, die die christliche Auferstehungshoffnung versinnbildlicht, vergleichbar seinem Dortmunder Winterlandschaft mit Kirche (siehe meinen Post „Gemalter Glaube“).

Caspar David Friedrich: Winterlandschaft mit Kirche (1811);
Dortmund, Museum für Kunst und Kulturgeschichte

Literaturhinweise

Bertsch, Markus/Grave, Johannes (Hrsg.): Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2023, S. 180;

Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Prestel-Verlag, München 41987, S. 158;

Hofmann, Werner (Hrsg.), Caspar David Friedrich 1774 – 1840. Prestel-Verlag, München 1974, S. 199 und 282-283;

Hofmann, Werner: Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit. Verlag C.H. Beck, München 2000, S. 96-98.


Mittwoch, 15. Januar 2025

Raum ist in der kleinsten Hütte – Adam Elsheimers „Jupiter und Merkur bei Philemon und Baucis“

Adam Elsheimer: Jupiter und Merkur bei Philemon und Baucis (1608/09); Dresden, Gemäldegalerie

Der römische Dichter Ovid (43 v.Chr.–12 n.Chr.) erzählt in seinen berühmten „Metamorphosen“ die Geschichte von Philemon und Baucis, die von den beiden antiken Göttern Jupiter und Merkur besucht werden (VIII, 611–724). Jupiter und Merkur wandern in Menschengestalt über die Erde; an tausend Türen bitten sie um Unterkunft – überall werden sie abgewiesen. Schließlich nehmen die alten, einträchtig zusammenlebenden Eheleute Philemon und Baucis sie in ihre ärmliche Hütte auf. Sie unternehmen alle erdenklichen Anstrengungen, um es den Gästen, in denen sie zunächst keine Götter erkennen, bequem zu machen. Sie bieten sogar an, ihre einzige Gans für die beiden Fremden zu schlachten. Zum Dank werden sie später von dem Untergang, der ihre ganze Umgebung trifft, verschont. Die Hütte wird in einen Tempel verwandelt, dem die Eheleute als Priester dienen. Und statt den Tod des jeweils anderen betrauern zu müssen, werden sie am Ende ihres Lebens im selben Augenblick zu Bäumen.

Adam Elsheimer (1578–1610) zeigt auf seinem um 1608/09 entstandenen Gemälde, einem kleinformatigen Kupfertäfelchen (16,5 x 22,5 cm), nicht die Verwandlung der beiden Eheleute, sondern konzentriert sich auf die auch bei Ovid ausführliche geschilderte Bewirtung der Götter. Die niedrige Tür und die Beengtheit der fensterlosen, aus rohen Balken zusammengefügten Hütte, das mit einem einfachen Polster bedeckte Bett, die emsigen Bemühungen um die beiden Gäste – all das entnimmt der deutsche Maler den „Metamorphosen“ und reichert es noch um weitere Motive an (wie etwa ein Bild an der Wand). Selbst die Gans, die die Alten für die Wanderer opfern wollen und die auf Geheiß der Götter verschont bleibt, ist im Vordergrund zu sehen.

Jupiter und Merkur haben abwartend Platz genommen, während Baucis mit Tüchern und decken für sie das Nachtlager bereitet und Philemon Speisen herbeiträgt. In ihrer legeren Haltung sind die olympischen Götter als solche kaum erkennbar, „der Maler schildert sie gleichsam mit den Augen der unwissenden Alten“ (Klessmann 2006, S. 170). Elsheimer fügt an verschiedenen Stellen seines Bildes künstliche Beleuchtung ein, um die verschiedenen Facetten der Handlung zu hervorzuheben. In der rechten Bildhälfte werden schwächere Lichtquellen verwendet, um die Vorbereitungen des kärglichen Mahles zu illuminieren: Aus dem Hintergrund tritt Philemon, der eine Kerze in der Hand hält, mit dem frisch geernteten Kohl herein, während rechts von ihm ein Feuer in der Herdstelle glimmt. Ein aus Fischen und Gemüsen bestehendes Stillleben am unteren Bildrand erhält seine Beleuchtung von einem kleinen Öllicht.

Eine größere Intensität – und damit das Zentrum der Handlung betonend – hat die Lampe, die auf dem Tisch in der linken Bildhälfte abgestellt ist. Sie wird von den beiden Göttern flankiert, deren Gesichter auf diese Weise besonders herausgehoben sind. „Die Helligkeit geht von den Göttern aus, die das ärmliche Leben von Philemon und Baucis verändern werden“ (Klessmann 2006, S. 173). Die am unteren Bildrand erkennbare Gans verdeutlicht, dass sie sich in diesem Moment den beiden Alten zu erkennen geben. Auf das für die „Metamorphosen“ konstitutive Thema der Verwandlung weist auch das „Bild im Bild“ hin: Das an der Wand befestigte Blatt zeigt die von Ovid berichtete Tötung des Argus durch Merkur (I, 668-721), der im Auftrag Jupiters die in eine Kuh verwandelte Io befreite.

Pieter Bruegel d.Ä.: Der Tod Mariens (Nachstich von Philips Galle, 1574)

„Im sorgfältigen Umgang mit verschiedenen Lichtqualitäten, deren Intensitäten differenziert und genau abgewogen werden, offenbart sich die Einbindung Elsheimers in die niederländische Tradition“, so Mirjam Neumeister (Neumeister 2003, S. 283). Allen voran wäre hier die Grisaille Der Tod Mariens von Pieter Bruegel d.Ä. (1525/30–1569) zu nennen (1564 entstanden), die Elsheimer wahrscheinlich über den Nachstich durch Philips Galle kannte. Der intensive Lichtfokus, der Maria umgibt, zeichnet sie als Zentrum des Bildes aus – dem entspricht bei Elsheimer die sich ankündigende Offenbarung der beiden Götter. Daher erfasst der Schein des Öllichts nicht nur die Götter, sondern auch die Weinkaraffe, die sich während des Mahles nicht leeren wird und somit auf das spätere Wunder vorausdeutet.

Die Betonung der für die Handlung entscheidenden Motive erzielte Elsheimer durch ein stark zurückgenommenes, aus der Beimischung von Schwarz entstehendes Kolorit, das im Kontrast zu der ausgeprägten Farbigkeit im Umkreis der Lichtquellen steht. „Diese bewirken aufblitzende, durch aufgetupfte weiße Höhungen angezeigte Glanzlichter, welche die Aufmerksamkeit des Betrachters lenken (Neumeister 2003, S. 283). So erfüllt ein abendliches Dunkel, durch einen tiefen Braunton wiedergegeben, den Raum, dessen gemütlich-trauliche Wirkung durch die im Kerzenschimmer nur schemenhaft hervortretenden Details wie die Deckenbalken oder einzelne Einrichtungsgegenstände gesteigert wird. Das gelbliche Licht der Leuchtmittel erzeugt eine warme Tonigkeit, die Elsheimers harmonisch-idyllische Tischszene prägt.

Adam Elsheiemr: Der Brand Trojas (1600/01); München, Alte Pinakothek
Adam Elsheimer: Judith enthauptet Holofernes (1601/03);
London, The Wellington Museum
Adam Elsheimer: Die Flucht nach Ägypten (1609); München, Alte Pinakothek

Das Gemälde fügt sich damit in eine Reihe von „Nachtstücken“, die Elsheimer in Rom anfertigte, so etwa Der Brand Trojas, Judith enthauptet Holofernes (siehe meinen Post „Barock-Splatter“) und Die Flucht nach Ägypten. Sie wurden in Nachstichen und Kopien verbreitet und inspirierten Maler wie Peter Paul Rubens und Rembrandt zu eigenen Kompositionen (siehe meinen Post „Friedvolle Flucht“).

 

Literaturhinweise

Klessmann, Rüdiger: Im Detail die Welt entdecken. Adam Elsheimer 1578–1610. Edition Minerva. Wolfratshausen 2006, S. 170-173;

Neumeister, Mirjam: Das Nachtstück mit Kunstlicht in der niederländischen Malerei und Graphik des 16. und 17. Jahrhunderts. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2003, S. 281-283.