Dienstag, 27. Mai 2025

Georg Trakl: Im Winter (1910)

 

Pieter Bruegel d.Ä.: Heimkehr der Jäger (1565); Wien, Kunsthistorisches Museum


Im Winter

 

Der Acker leuchtet weiß und kalt.

Der Himmel ist einsam und ungeheuer.

Dohlen kreisen über dem Weiher

Und Jäger steigen nieder vom Wald.

 

Ein Schweigen in schwarzen Wipfeln wohnt.

Ein Feuerschein huscht aus den Hütten.

Bisweilen schellt sehr fern ein Schlitten

Und langsam steigt der graue Mond.

 

Ein Wild verblutet sanft am Rain

Und Raben plätschern in blutigen Gossen.

Das Rohr bebt gelb und aufgeschossen.

Frost, Rauch, ein Schritt im leeren Hain.

 

Georg Trakl

Samstag, 24. Mai 2025

Harmonie von Farbe und Licht – „Die Mutter“ von Pieter de Hooch

Pieter de Hooch: Die Mutter (um 1662); Berlin, Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken)

Eine Frau sitzt neben einer Korbwiege und hat wohl soeben ihr Kind gestillt, das wir allerdings nicht sehen. Aus heutiger Sicht setzen wir voraus, dass es sich um die Mutter handelt, aber das Bild ist um 1662 entstanden, und im 17. Jahrhundert war es nicht selbstverständlich, dass eine Mutter ihren Säugling selbst stillt, vor allem nicht in den höheren Gesellschaftsschichten. Das blieb häufig einer Amme überlassen. Auf unserem Bild von Pieter de Hooch (1629–1684), einem holländischen Genremaler, trägt die Mutter eine elegante schwarze Jacke mit Pelzbesatz und darunter ein rotweißes Schnürmieder. Die Wiege steht vor einem Alkoven, der von einem gestreiften Vorhang zur Hälfte verdeckt wird, daneben hängt ein glänzender Bettwärmer aus Messing und an der Seite an einem Garderobenhaken ein roter Mantel. Die Mutter beginnt, sich das zum Stillen geöffnete Mieder wieder zu schnüren, hält aber kurz inne, wendet sich nochmals ihrem Baby zu und nimmt liebevoll lächelnd Blickkontakt zu ihm auf; ihre ausgestreckte rechte Hand, in der sie die Miederschnur hält, unterstreicht ihre Blickrichtung.

Eine Tür auf der rechten Seite der Wohnung führt in ein von warmem Licht erhelltes Foyer oder vorhuis: Hier steht ein kleines Mädchen, im verlorenen Profil gezeigt, nahe der offenen Halbtür und blickt nach draußen ins Freie. Der untere Teil des hoch angesetzten Fensters am rechten Bildrand ist mit hölzernen Läden verschlossen; durch die obere Hälfte fällt mildes Tageslicht, das sich diagonal über die Szene ausbreitet. Unter dem Fenster steht an die Wand gerückt ein kleiner Tisch mit Kerzenleuchter und Keramikkrug; ein Hündchen verharrt dicht neben der Mutter auf dem gekachelten Fußboden, auf dem sich nicht nur das – virtuos gemalte – von der Haustür hereinströmende Licht, sondern auch die Hinterläufe des Tieres spiegeln.

Der ausgestreckte Arm der Mutter lenkt unseren Blick hin zum Säuling – den wir nicht sehen

Der vom halbdunklen Zimmer vorn abgesetzte lichterfüllte Flur dahinter verleiht den beiden Interieurteilen eindrucksvoll Raumtiefe. Perspektivisch äußerst genau hat de Hooch das Fliesenmuster wie auch die Zimmerdurchblicke konstruiert – sie wurden nachgerade zu einem Markenzeichen des Künstlers. De Hoochs Darstellungen des häuslichen Lebens sind stets von der Architektur des Innenraumes her erdacht und gestaltet. Mit malerischer Sorgfalt sind auf dem Berliner Bild auch die Farbakzente gesetzt: Das kostbare Funkeln des Messings von Wärmepfanne und Kerzenleuchter wie auch das intensive Rot von Wiegendecke, Mieder und Mantel leiten das Auge in sorgsam kalkulierter Abfolge hin zum sonnigen Licht des Vorraums. „Erst aus der Harmonie von Farbe und Licht entsteht jene anheimelnde Sphäre, die der dargestellten Situation angemessen ist“ (Kelch 1998, S. 274).

Die Schwelle, hinter der die Zukunft wartet
Die Mutter wird von de Hooch nicht nur als fürsorglich und liebevoll zugewandt charakterisiert – sie ist offensichtlich auch eine mustergültige Hausfrau, wie der glänzende Fußboden und die auffallende Ordnung des Raumes belegen. De Hooch schreibt in sein Bild auch den kindlichen Entwicklungsprozess mit ein: vom bedürftigen, noch ganz auf die Mutter angewiesenen Säugling hin zum Kleinkind, mit immer größerer Bewusstwerdung seiner selbst und der Außenwelt, für die das einfallende Sonnenlicht steht. Das junge Mädchen geht auf die Schwelle zu, hinter der seine Zukunft wartet: sich allmählich ablösen von der Mutter (von der sie sich ja schon behutsam abgewendet hat), hinaustreten, um das Draußen zu entdecken, und zunehmend eigenständiger werden als erwachsene Frau.

Pieter de Hooch: Das Schlafzimmer (1669); Washington D.C., National Gallery of Art
Pieter de Hooch: Junge Mutter und Dienerin (1664); Wien, Kunsthistorisches Museum
Nicolaes Maes: Der unartige Trommler (um 1655); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza

Das Berliner Gemälde zeigt eine der schönsten und einfühlsamsten häuslichen Szenen, die de Hooch geschaffen hat, und es ist zugleich ganz und gar charakteristisch für seine Werke der 1660er Jahre, wie etwa Das Schlafzimmer aus Washington D.C. oder Junge Mutter und Dienerin in Wien. Es galt früher als ein Werk von Nicolaes Maes (1634–1693), dessen Frühwerk de Hoochs häusliche Szenen wahrscheinlich beeinflusst hat; als Beispiel sei hier Der unartige Trommler aus Madrid genannt (um 1655).

 

Literaturhinweise

Gemäldegalerie Berlin (Hrsg.): Von Frans Hals bis Vermeer Meisterwerke holländischer Genremalerei. Weidenfeld Kunstbuch GmbH, Berlin 1984, S. 196-198;

Giltaij, Jeroen (Hrsg.): Der Zauber des Alltäglichen. Holländische Malerei von Adriaen Brouwer bis Johannes Vermeer. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2005, S. 237-239;

Kelch, Jan: Pieter de Hooch, Die Mutter (um 1661/1663). In: Gemäldegalerie Berlin. 200 Meisterwerke. Nicolaische Verlagsbuchhandlung Beuermann, Berlin 1998, S. 274.


Montag, 19. Mai 2025

Künstler sind auch nur Menschen – „Der Tod des Leonardo“ von Jean-Auguste-Dominique Ingres

Jean-Auguste-Dominique Ingres: Der Tod des Leonardo (1818); Paris, Petit Palais
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Der Tod des Leonardo des französischen Malers Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780–1867) ist ein Beispiel für die sogenannte „Troubadour“-Malerei des frühen 19. Jahrhunderts. Gemeint sind damit Genrebilder französischer Künstler mit historischen, anekdotenhaften Inhalten, die vor allem geschichtliche und literarische Themen des Mittelalters und der Renaissance zum Gegenstand haben. Sie zeichnen sich formal durch eher kleine Formate, ein buntfarbiges Kolorit und eine kleinteilige Gestaltung aus. Diese Werke kommen gegen Ende der napoleonischen Herrschaft in Mode und florieren während der gesamten bourbonischen Restauration (also bis zur Julirevolution von 1830). Ihnen allen gemeinsam ist der nostalgisch-sentimentale Blick auf eine vorrevolutionäre Welt. Dabei wird versucht, „durch eine Psychologisierung der handelnden Personen den Menschen hinter der Rolle des Helden zu entdecken“ (Fleckner 2000, S. 68). Damit wandelt die „Troubadour“-Malerei erkennbar die traditionelle Ausrichtung der Historienmalerei und ihrer Bildhelden ab.

Jean-Auguste-Dominique Ingres: Heinrich IV. spielt mit seinen Kindern (1817); Paris, Petit Palais
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Der Tod des Leonardo (1818) war als Pendant zu einem Bild gedacht, das Ingres ein Jahr zuvor angefertigt hatte; beide Gemälde zeigen die französischen Könige Franz I. (1494–1547) und Heinrich IV. (1553–1610) in betont anrührenden Szenen: Franz I. steht dem sterbenden Künstler Leonardo da Vinci in seinen letzten Minuten bei, und Heinrich IV. lässt einen spanischen Gesandten warten, um mit seinen Kindern zu spielen. Die Anregung zu Der Tod des Leonardo erhielten Auftraggeber, Ingres’ Mäzen Graf de Blacas, und Maler aus den „Vite de‘ piu eccellenti architetti, pittori ed scultori italieni“ des Künstlerbiografen Giorgio Vasari (1511–1574), die er 1550 und dann nochmals in zweiter Fassung 1568 veröffentlichte. Dort heißt es über Leonardo:

„Schließlich alt geworden, lag er mehrere Monate krank darnieder, und als er sich dem Tod nahe sah, wandte er sich voller Eifer den Grundsätzen des katholischen Glaubens, des rechten Pfades und der heiligen christlichen Religion zu. Nachdem er unter vielen Tränen gebeichtet und seine Reue gezeigt hatte, wollte er aus Frömmigkeit das Heilige Sakrament nicht im Bett empfangen und stützte sich auf die Arme seiner Freunde und Diener, da er sich selbst nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Schließlich traf auch der König ein, der ihm oftmals liebevolle Besuche abzustatten pflegte. Leonardo, der sich ehrfurchtsvoll in seinem Bett aufgerichtet hatte, berichtet ihm von seinen Vergehen und ihren Auswirkungen und gestand, wie sehr er sich gegen Gott und die Menschen versündigt hatte, indem er seine Kunst nicht so ausgeübt hatte, wie er es hätte tun sollen. Dann überkam ihn ein Anfall, ein Vorbote des Todes, und damit er ihm helfen und Beistand leisten könne, erhob sich der König und hielt Leonardos Kopf, um seinen Schmerz zu lindern und ihm seine Gunst zu erweisen. Im Bewußtsein der großen Ehre, die ihm hier widerfuhr, verschied dieser göttlich Inspirierte in seinem fünfundsiebzigsten Lebensjahr in den Armen des Königs“ (Vasari 2006, S.45-46). Es handelt sich hierbei allerdings ohne Zweifel um eine der zahlreichen Künstlerlegenden, die von Vasari in seinen Biografien immer wieder eingestreut werden.

Das von dunklen Rottönen dominierte Bild ist friesartig aufgebaut: Leonardo liegt in einem großen, von einem hohen Stoffbaldachin bekrönten Bett; König Franz I. beugt sich, halb stehend, halb auf der Bettkante sitzend, über ihn und umfängt dessen Haupt mit der rechten Hand und den Oberkörper mit seiner Linken. Der Profilkopf des Königs ähnelt Tizians Porträt Franz I. im Pariser Louvre. In der rechten Bildhälfte am Fußende des Bettes und hinter dem davor stehenden Sessel des Königs wohnen vier Personen dem Geschehen bei: Besonders hervorgehoben ist ein mit einer schwarzen Jacke und einem schwarzen Barett bekleideter junger Mann, der mit ausgestreckten Armen auf Leonardo und Franz I. weist und sich dabei mit schmerzvoller Miene den hinter ihm Stehenden zuwendet. Hinter dem Bett, halb verdeckt von dem rechten Vorhang des Baldachins, befindet sich eine weitere männliche Gestalt. Am linken Bildrand, hinter dem kleinen Tisch im Vordergrund, kniet ein Mönch, die Hände zum Gebet emporgehoben, hinter ihm steht eine ebenfalls betende Frau.

Pierre-Nolasque Bergeret: Ehrungen Raffaels nach seinem Tod (1806);
Rueil-Malmaison, Chateaux de Malmaison et Bois-Préau
In seinem Aufbau ähnelt Der Tod des Leonardo einem Gemälde von Pierre-Nolasque Bergeret (1782–1863), das 1806 im Pariser Salon ausgestellt wurde: Von den Ehrungen Raffaels nach seinem Tod scheint Ingres insbesondere den Baldachin wie auch die bildparallele Ausrichtung von Bett und Figuren übernommen zu haben.

Jean-Auguste-Dominique Ingres: Raffael und La Fornarina (1814); Cambridge, Fogg Art Museum
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Raffael: Bildnis des Bindo Altoviti (um 1515), Washington D.C., National Gallery of Art
Raffael: La Fornarina (1518/20); Rom, Palazzo Barberini

Die „Troubadour“-Malerei bot Ingres die Möglichkeit, Meister der Vergangenheit in den Mittelpunkt zu stellen und auf so auf die eigenen künstlerischen Vorbilder hinzuweisen. So hat Ingres hat neben dem Tod des Leonardo mehrere Fassungen des Themas Raffael und La Fornarina geschaffen, in denen sich seine besondere Verehrung für den Renaissancemaler ausdrückt. Die Version im Fogg Art Museum (Cambridge) zeigt Raffael und seine Braut in einem prächtig ausgestatten Atelier. Im Hintergrund erkennt der Betrachter Raffaels Madonna della Sedia von 1513/14 – ein Gemälde, das Ingres als ideales kompositorisches Vorbild galt und das er in nicht wenigen seiner Werke zitiert hat, etwa im Porträt Philibert Rivière (siehe meinen Post „Virtuose Stofflichkeit“) wie auch in Heinrich IV. spielt mit seinen Kindern. Die Gestalt Raffaels wiederum ist dessen Porträt des Bindo Altoviti angenähert und die der Fornarina natürlich ihrem Bildnis in der Galleria Barberini in Rom (siehe meinen Post „Raffaels schöne Bäckerstochter“). 


Literaturhinweise

Fleckner, Uwe: Jean-Auguste-Dominique Ingres 1780–1867. Könemann Verlagsgesellschaft 2000;

Mai, Ekkehard/Repp-Eckert, Anke (Hrsg.): Triumph und Tod des Helden. Europäische Historienmalerei von Rubens bis Manet. Electa Spa, Milano 1987, S. 233-235;

Vasari, Giorgio: Das Leben des Leonardo da Vinci. Neu übersetzt und kommentiert. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2006;

Vigne, Georges: Jean-August-Dominique Ingres. Hirmer Verlag, München 1995, S. 119-134.


Montag, 12. Mai 2025

Die ungleichen Schwestern – Albrecht Dürers sogenannte „Fürlegerinnen“

Albrecht Dürer: Bildnis einer jungen Frau mit offenem Haar (1497);
Frankfurt, Städel Museum (für die Großansicht einfach anklicken)

Zu Albrecht Dürers bekanntesten Bildnissen gehören die beiden Tüchleinmalereien mit halbfigurigen Porträts zweier junger Frauen im Frankfurter Städel und in der Berliner Gemäldegalerie. Die beiden Bildnisse sind offensichtlich als Gegenstücke konzipiert worden und bis 1830 vermutlich nie voneinander getrennt gewesen.

Auf dem Frankfurter Bild präsentiert Dürer den Oberkörper einer jungen Frau etwa von der Hüfte an und leicht nach rechts gewandt Die Hände sind auf Brusthöhe erhoben und zum Gebet gefaltet. Die Figur ist eng an den vorderen Bildrand geschoben, reagiert aber in keiner Weise auf den Betrachter: Vor blaugrünem neutralen Hintergrund neigt sie den Kopf nach vorne und leicht nach rechts und schlägt dabei die Augen nieder, die nur einen Spalt breit geöffnet sind. Ganz in sich gekehrt, scheint sie von ihrem Gebet völlig in Anspruch genommen.

Das auffälligste Merkmal der jungen Frau ist ihr hüftlanges, in der Mitte sorgsam gescheiteltes goldblondes Haar, das in gleichmäßigen Locken über Schultern und Oberarme fällt und diese vollständig bedeckt. Ein schwarzes, mit Perlen besetztes Schapel ist um die Stirn gelegt und bändigt die Haarfülle, die auf der Schädelkalotte glatt anliegt. Die Dargestellte trägt einen dunkelgrünen, rot gefütterten Rock, dessen Ausschnitt und Mittelsaum mit einer bräunlich-roten Borte besetzt ist. Ein in den Ausschnitt gestecktes weißes Brusttuch, am oberen Rand mit einer Nadel gesichert, verhüllt ihr Dekolleté. Von der linken Hand hängt vermutlich eine zwischen Daumen und Zeigefinger gehaltene Paternoster-Schnur herab, bei der auf jeweils zehn rote Perlen eine etwas größere aus Silberfiligran gelötete Kugel folgt.

Dürer hat das Porträt auf einer extrem dünnen Leinwand ausgeführt, das in der Vergangenheit leider ausgedehnt retuschiert wurde, vor allem im Gesicht, in den Händen und im Brusttuch. „Darüber hinaus ist die ursprüngliche Tüchleinmalerei mit Wasserfarben unter großflächiger Übermalung mit Ölfarbe und mehreren Firnissen nur noch zu erahnen“ (Brinkmann 2005, S. 273). Damit nicht genug, wurde dem Bild 1976 bei einem Diebstahlsversuch 1977 weiterer Schaden zugefügt: Die Täter schnitten die Leinwand aus dem Rahmen und versteckten sie nach Alarmauslösung hinter einem der Flügel von Stefan Lochners Apostelmartyrien, wo sie unmittelbar darauf aufgefunden wurde.

Albrecht Dürer: Bildnis einer jungen Frau mit geflochtenem Haar (1497);
Berlin, Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken)

Das Berliner Bildnis zeigt dieselbe junge Frau oder eine ihr sehr ähnlich sehende enge Verwandte im gleichen Figurenausschnitt, doch ist der Eindruck ein ganz anderer: Wo die Frankfurterin ins Gebet versunken ist, blickt ihr Berliner Gegenstück dem Betrachter ebenso selbstbewusst wie prüfend ins Gesicht. Spiegelbildlich, nun nach links orientiert, erscheint die Halbfigur hinter einer steinernen Brüstung und im Winkel eines Innenraumes. Die linke Seitenwand ist durchfenstert und gibt jenseits einer gemauerten Hofeinfassung den Blick frei auf eine ferne Landschaft. Die junge Frau ist, anders als ihr Frankfurter Pendant, aufwendig gekleidet und hat die geflochtenen Haare kunstvoll hochgesteckt.

Albrecht Dürer: Nürnberger Tanzkleid (1501); Basel Kupferstichmuseum

Tracht und Frisur stimmen mit jenem Kostüm überein, das Dürer selbst in einer heute in Basel aufbewahrten Zeichnung festgehalten und als Nürnberger Tanzkleid bezeichnet hat. Zu diesem gehört die festliche rote Farbe, das betonte Dekolleté und der auffällig unauffällig inszenierte Schmuck, der, an einem schwarzen Band um den Hals getragen, unsichtbar im Busen verborgen ist. „Der werbende, ja erotische Charakter der Darstellung wird zusätzlich noch durch die beiden Pflanzen unterstrichen, die die junge Schöne etwas geziert in ihrer Rechten präsentiert: ein Stängel Sternkraut (Aster atticus) und zwei Stängel Stabwurz (Artemisium abrovatum)“ (Sander 2013, S. 102). Dem Sternkraut wurde nachgesagt, sinnenverwirrende Trugbilder hervorrufen zu können; die Stabwurz galt ausdrücklich als Pflanze des Liebeszaubers.

Albrecht Dürer: Bildnis Elsbeth Tucher (1499); Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister

Die Platzierung der Figur in einer Raumecke mit Fenster entspricht einem von zahlreichen Porträts dieser Zeit wohlvertrauten Schema; Dürer selbst hat es wiederholt verwendet, wie ein Blick auf das zwei Jahre später entstandene Bildnis der Elsbeth Tucher zeigt (siehe meinen Post „Auf kleinem Format groß rauskommen“). Doch für den damaligen Betrachter muss der direkt auf den Betrachter gerichtete Blick einer unverheirateten jungen Frau irritierend gewesen sein: „Zusammen mit den ostentativ präsentierten Pflanzen, die erotisches Verlangen und Liebeswerben signalisierten, findet sich auch der selbstbewusste Blick eher in einer anderen Bildgattung wieder, die allerdings ausschließlich Männern vorbehalten war – dem Brautwerbebild“ (Sander 2013, S. 102). Eine Stängel Sternkraut hält Dürer übrigens auch auf seinem 1493 datierten Selbstbildnis im Louvre, das wiederholt mit seiner bevorstehenden Heirat mit Agnes Frey in Zusammenhang gebracht worden ist.

Albrecht Dürer: Selbstbildnis (1493); Paris, Louvre

Auch das Frankfurter Porträt wirft Fragen auf: Zwar war ein betender Stifter seit dem 15. Jahrhundert ein gewohnter Anblick, doch wandte sich die fromme Andacht bei diesem Bildnistypus Christus oder der Madonna selbst zu – nicht aber einer weiteren Porträtfigur. So wie die Frankfurter Beterin ins Bild gesetzt ist, ließ sie den Betrachter des 16. Jahrhunderts eher an eine Verkündigungsmaria, eine Maria in Anbetung ihres Kindes oder auch – wegen ihrer langen Haare – an eine Darstellung einer Maria Magdalena denken als an die Porträtdarstellung einer Zeitgenossin. Man könnte hier also durchaus von einem „Rollenporträt“ sprechen.

Traditionell wurde das Frankfurter Bildnis als „Fürlegerin“ bezeichnet, also als weibliches Mitglied der Nürnberger Familie Fürleger. Gleiches gilt für das Berliner Porträt. Doch die entsprechenden Wappen auf der Rückseite der beiden Tüchlein sind nachträglich angebracht worden, und es lassen sich auch keine weiblichen Mitglieder dieser Familie nachweisen, die zur Entstehungszeit der „Tüchlein“ das Alter der porträtierten Frauen gehabt hätten. Denkbar wäre, dass die Bildnisse erst lange nach ihrer Herstellung in den Besitz der Fürleger gelangten und gar keine Angehörigen dieser Familie zeigen. Bodo Brinkmann hat vorgeschlagen, in dem Doppelbildnis Arbeiten zu sehen, die Dürer ohne Auftrag ausgeführt und in denen er möglichweise zwei seiner Schwestern, Agnes (geb. 1479) und Katharina (geb. 1482), porträtiert habe. Ähnlich wie seine gemalten Selbstbildnisse hätten dann auch diese Gemälde potenziellen Interessenten beim Besuch der Dürerschen Werkstatt die Bandbreite seiner künstlerischen Möglichkeiten vor Augen führen können (siehe meinen Post „Seht her, ich bin ein Künstler!“).

Giovanni Bellini: Sacra Conversazione (um 1490); Vendig, Galleria Dell'Accademia

Albrecht Dürer: Nürnbergerin und Venezianerin (um 1495);
Frankfurt, Städel Museum

Auffällig bei Dürers Porträt-Pendants ist der Gegensatz zwischen spätgotischer (Berlin) und italienisierender Figurenbildung (Frankfurt). Die Hände der Frankfurterin sind wahrscheinlich eine Übernahme aus einer halbfigurigen Sacra Conversazione von Giovanni Bellini (1430–1516): Dürer hat das Gemälde auf seiner ersten Italienreise 1494/95 in Venedig studieren können und dabei vor allem die hl. Katharina links genauer in Augenschein genommen. Die Gegenüberstellung dieser Stillagen könnte von Dürer sehr gezielt vorgenommen worden sein. „Eine bewußte Konfrontation zwischen Fremdem und Heimatlichem, die sich nicht nur auf das Kostüm beschränkt, sondern auch die Bewegung der Figuren mit einbezieht, sucht Dürer jedenfalls auf der bekannten Zeichnung mit der Nürnbergerin und der Venezianerin“ (Brinkmann 2005, S. 285).

Albrecht Dürer: Selbstbildnis (1498); Madrid, Museo del Prado
Albrecht Dürer: Bildnis Albrecht Dürer d.Ä. (1497); London, National Gallery

Wenn die Vermutung richtig ist, dass Dürers Madrider Selbstbildnis (1498) und das Porträt seines Vaters (1497) vom Künstler selbst zu einem Diptychon zusammenfasst wurden, dann bestünde damit eine enge Parallele zu den sog. Fürlegerinnen: Auch das Bildnispaar von Vater und Sohn vereint ja ein Porträt vor neutralem Grund mit dem Typus „Fensterausblick“, kontrastiert einen betont schlicht gekleideten mit einem aufwendig ausstaffierten Mann.

 

Glossar

Die Paternoster-Schnur ist der Vorläufer des im Spätmittelalter entstandenen Rosenkranzes.

Das Schapel ist ein im 12. Jahrhundert aufgekommener reifenförmiger Kopfschmuck für Männer und Frauen.

 

Literaturhinweise

Brinkmann, Bodo: Albrecht Dürer, Bildnis einer jungen Frau mit offenem Haar. In: Bodo Brinkmann/Stephan Kemperdick (Hrsg.), Deutsche Gemälde im Städel 1500–1550. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2005, S. 273-287;

Brinkmann, Bodo: Albrecht Dürer: Zwei Schwestern. Städel Museum, Frankfurt am Main 2006;

Hirschfelder, Dagmar: Dürers Gemälde auf Leinwand. In: Daniel Hess/Thomas Eser (Hrsg.), Der früher Dürer. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 2012, S. 356-357;

Sander, Jochen (Hrsg.): Dürer. Kunst – Künstler – Kontext. Städel Museum, Frankfurt am Main 2013, S. 102-103.